Efeu - Die Kulturrundschau

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.

November 2022

Pointen und Erkenntnisse

30.11.2022. Dre Guardian bewundert Sydney neues Kulturwahrzeichen: Die Kunstgalerie Sydney Modern, die das Architekturbüro Sanaa als Lichtung im Stadtwald entworfen hat. Die SZ stellt die Ohren auf, wenn Chimamanda Ngozi Adichie in der BBC gegen die Tyrannei von Selbstzensur und Konsens angeht. Der Standard bewundert die virtuose Vagheit von Albert Serras Diplomatendrama "Pacifiction". Im Tagesspiegel erklärt Lysann Windisch vom Streamingdienst Mubi, wie das Programmkino ein bisschen cooler werden kann, wenn nicht gar edgy.

Wir sprachen alle leise

29.11.2022. Die taz bewundert im Victoria and Albert Museum den Glamour afrikanischer Mode. In der Welt erzählt der Theaterkünstler Achim Freyer, was er von Brecht lernte. Die Berliner Zeitung erkennt mit Alfred Ehrhardt die genialen Schöpfungen der Natur. Die taz betrachtet mit Katie Mitchell am Hamburger Schauspielhaus die Schönheit des Kirschgartens. Und natürlich hat Axel Brüggemann in seinem Crescendo noch ein paar Fragen an Teodor Currentzis, zum Beispiel: Wer zahlt die zweite Hälfte des Utopia-Budgets?

Das Feuer ist in den Köpfen

28.11.2022. Die SZ lässt in der Münchner Pinakothek Max Beckmanns schwarze Karosserien an sich vorbeiziehen. In Wien begeben sich FAZ und Standard mit Dostojewskis "Bösen Geistern" in vorrevolutionäre Gesellschaft. Ronya Orthmann erkundet für die FAS mit dem syrischen Schriftsteller Khaled Khalifa die Geheimnisse der arabischen Sprache und den Alltag der Diktatur. Die FR wiegt sich mit dem Fotografen Thomas Sandberg in der Melancholie Siziliens.

Intellektueller Salto vorwärts

26.11.2022. Die Zeitungen verneigen sich ein letztes Mal vor Hans Magnus Enzensberger, dem großen Chronisten, der dem Zeitgeist immer eine entscheidende Bleistiftlänge voraus war, wie die Welt schreibt. Die NZZ verabschiedet einen Luftikus, mit dem ideologisch kein Staat zu machen war. In der FAZ ärgert sich Michael Kleeberg, dass Übersetzer "schamlos ausgebeutet" werden. Berliner Zeitung und taz feiern eine wüste Party im SM-Käfig von Monica Bonvicini. Die Berliner Zeitung entdeckt einige Ungereimtheiten im Zeit-Bericht über Johann König. In der Zeit hört Navid Kermani echte Musik aus Madagaskar.

Unfähig, den Dämon zu besiegen

25.11.2022. Update: Hans Magnus Enzensberger ist gestorben. Auch die SZ wünschte sich jetzt nach den Äußerungen einiger putinliebender Musiker aus Teodor Currentzis' MusicAeterna eine Distanzierung des Dirigenten. Suspendierungen findet sie allerdings unpraktikabel. Die FAZ schwärmt von Frances O'Connors Film "Emily" über Emily Brontë. Die FR entdeckt in einer Frankfurter Ausstellung die Werke vierer jüdischer Künstlerinnen.

Die Aussagekraft sogenannter Kuhmaulschuhe

24.11.2022. Die SZ bestaunt die Imageproduktion von Renaissance-Künstlern, obwohl die ohne Instagram auskommen mussten. Die Zeit staunt über die Harmonieseligkeit auf einem Kongress über die Zukunft der Kritik. Die FAZ blickt verblüfft auf Teddys in Balenciaga-Netzhemden, die sich in Kinderarme kuscheln. Zeit online lernt aus James Grays Film "Zeiten des Umbruchs", wie sich die soziale Kälte in Amerika historisch zementierte. Tell liest Nabokov vor dem Hintergrund des Ukrainekriegs.

Unausgesetzter Goldregen

23.11.2022. Die SZ beobachtet leicht abgestoßen, wie sich Hollywood-Größen an Katar und Saudi-Arabien anbiedern. Dezeen blickt auf ein 4,4 Kilometer hohen Abgrund katarischer Schäbigkeit. Mitten ins Herz trifft Luca Guadagnino den Tagesspiegel mit seiner Kannibalenromanze "Bones and All". Im chinesischen Kino florieren dagegen glamouröse Großstadtliebesgeschichten, weiß ZeitOnline. Die FR feiert das Basler Kulturzentrum Elys als Pionierprojekt in Sachen Urban Mining. Die FAZ berauscht sich im Städel an Guido Renis Farbspektakeln. Und der Streit um Teodor Currentzis geht weiter.

G G Garnelen und G G Gehacktes

22.11.2022. Die Welt plädiert nach der ihrer Meinung nach voreiligen Absetzung von Wajdi Mouawads Stück "Die Vögel" dafür, die Waffen der Kritik zu schärfen. Die Ausgrabung des etruskischen Thermalbads in San Casciano dei Bagni raubt der FAZ den Atem. Der taz lernt mit Patrick Holzapfel beim Open Mike, Politik zu gurgeln. In der FAS spricht Regisseur Luca Guadagnino über die Schönheit von Außenseitern. Und die SZ meldet die Verhaftung der beiden iranischen Schauspielerinnen Hengameh Ghaziani und Katayoun Riahi.

Ein Tiramisu aus Jean-Michel-Jarre

21.11.2022. NZZ und Tages-Anzeiger freuen sich über den Schweizer Buchpreis für Kim de l'Horizon. Beim Gedanken, dass Annie Ernaux und nicht Salman Rushdie in diesem Jahr den Nobelpreis erhält, könnte Maxim Biller in der Zeit glatt seinen Glauben an die Gerechtigkeit in der Literatur verlieren. Die Berliner Zeitung heult über Yael Ronens Boulevardkomödie "Blood Moon Blues" mit den Wölfen in Brandenburg. Die FAZ feiert im neu eröffneten Diözesanmuseum Freising eine Kunstmesse. FAZ und SZ trauern um Jean-Marie Straub, den großen Kämpfer der Kino-Resistance.

Mit Engelsblick und weichem Fell

19.11.2022. Hyperallergic besucht den Maler Ha Chong-Hyun in Südkorea und erzählt uns von der Tansaekhwa-Bewegung. Ein Ereignis, jubelt die SZ über den Briefwechsel Bachmann/Frisch. Die FR lernt, dass Bachmann Frischs Roman "Mein Name sei Gantenbein" sogar redigiert hatte. Warum war sie also so wütend? Artechok denkt über den Zustand der Kritik nach in einer Zeit, in der jeder glaubt, voraussetzungslos mitquatschen zu dürfen. In der NZZ antwortet Nicolas Stemann auf seine Kritiker: Woke Ästhetik gibt es gar nicht. Die taz hört Jazz in Vilnius.

Gute Nacht, Schepenese

18.11.2022. Die Welt erzählt, wie Monica Bonvicini von einem anonymen Kollektiv mit dem sozialen Medienpranger gedroht wurde, falls sie sich nicht von ihrem Galeristen Johann König trenne. Die SZ entdeckt im Kupferstichkabinett Dresden den letzten Romantiker: Albert Venus. taz und Pitchfork empfehlen das neue Album von Weyes Blood. Die FAZ beugt sich in der Pariser Bibliothèque Nationale freudig über die Späne von Marcel Prousts Werk.

Man will da hin, da rein

17.11.2022. Die taz strebt ins Diözesanmuseum Freising wie die Motte zum Licht - katholische Ikonografie, in Szene gesetzt von amerikanischer Landart, erweist sich als unwiderstehliche Kombination. Die NZZ erlebt einen Auftritt von Furtwänglers Stieftochter bei der Premiere von Christian Bergers Dokumentarfilm "Klassik unterm Hakenkreuz" - welch ein Verdrängungstheater. Die Filmkritiker schwenken Weihrauch zum Achtzigsten von Martin Scorsese, den Mann des brillanten Einzelstücks, wie ihn die SZ rühmt, oder Meister der konfliktreichen Kollaboration, so die FAZ, oder auch schlicht den größten lebenden Filmemacher, wie der Filmdienst meint.

Solo auf der Festplatte

16.11.2022. Der Guardian entdeckt Witz und Melancholie in den Skulpturen der polnischen Künstlerin Magdalena Abakanowicz. Die FAZ erkennt im Fahrraddesign technische Revolution und Konzeptstudie zugleich. Die taz gibt zu bedenken, dass vielleicht auch der identitätsstiftende Konsum des Neoliberalismus schuld ist am Zuschauerschwund. In der SZ plädiert Karoline Herfurth für mehr Elternfreundlichkeit am Filmset. Außerdem wiegt sich die taz im Jazz der Harfenistin Alina Bzhezhinska.

Modale Harmonik mit Sekunddissonanzen

15.11.2022. Weder modern noch revolutionär findet der Guardian die deutschen Malerinnen, die die Royal Academy in ihrer Ausstellung "Making Modernism" zeigt, aber mitunter genial. Die NZZ folgt Banksys Spuren durch Kiews Vororte. Die Nachtkritik beobachtet bewegt, wie die Gruppe Futur 3 am Schauspiel Köln den Holodomor an den ukrainischen Bauern aufarbeitet. In der taz erklärt der chilenische Regisseur Sebastián Lelio, warum er in seinem Film "Das Wunder" vom Glauben nur mit Brecht erzählen kann. Und alle gratulieren dem Pianisten, Dirigenten und "Overachiever" Daniel Barenboim zum Achtzigsten.

Fallstricke der Einfühlung

14.11.2022. Die FR erliegt der obsessiven, rohen und rätselhaften Wucht der Black-Art-Ikone Jean-Michel Basquiat, dem die Albertina eine Retorspektive widmet. Passend dazu erleben Standard und Nachtkritik mit Tony Kushners "Engel in Amerika" im Burgtheater noch einmal das homophobe und rassistische Amerika der achtziger Jahre. Die Welt meldet nicht wirklich erleichtert eine Einigung zu Hamburger Bahnhof und Rieckhallen.Die taz erkennt einen neuen Mut zum politischen Akzent bei der Duisburger Filmwoche. Die SZ schwebt mit dem Kollektiv Sault im siebten Soul-Himmel.

Zorniges Zurechtrücken

12.11.2022. FAZ und ZeitOnline sichten eine Reihe von Filmen über die Anschläge auf das Bataclan: Mit Bertrand Bonellos toxisch-sinnlichem Film 'Nocturama' entstand der eigentliche Wurf aber schon vor dem 13. November 2015, stellt die FAZ fest. ZeitOnline ringt nach Atem nach der Lektüre des Briefwechsels zwischen Ingeborg Bachmann und Max Frisch. Der Guardian erlebt bei der Kulturwoche Tiflis, wie Georgier und Ukrainer dem gemeinsamen Feind trotzen. Und alle trauern um den Popsänger und -kritiker Kristof Schreuf, der so viel Spaß am Lärm hatte.

Ein Weghauchen der letzten Silben

11.11.2022. Während auf ukrainische Museen Bomben fallen, werden in russischen Museen Soldaten für den Krieg rekrutiert, erzählt in der NZZ Julia Waganova, Direktorin des Chanenko-Kunstmuseums in Kiew. Der Filmdienst begutachtet die Zombies in Claudia Müllers Porträtfilm über Elfriede Jelinek. Die Welt bewundert die phänotypische Vielgestaltigkeit der österreichischen Schriftstellerin. Die FR staunt über die fitte und gut gelaunte Mutter Wen Huis, die in deren Choreografie in "I am 60" tanzt. In der FAZ erklärt der ukrainische Dirigent Volodymyr Sirenko die zentrale Bedeutung der sinfonischen Ballade "Grażyna" von Borys Ljatoschynskyj für den ukrainischen Freiheitskampf.

Ein Ergebnis wechselseitiger Selbstentblößung

10.11.2022. Utopie und Sündenfall findet der Tagesspiegel in David Cronenbergs neuem Film "Crimes of the Future", mit Menschen, denen dauernd neue Organe nachwachsen. Die SZ taumelt dabei von Höhepunkt zu Höhepunkt, der Perlentaucher sah gar den Sexfilm der Zukunft. Die Welt hat langsam genug von Autofiktion in der Literatur und fordert: Schreibt und lest nicht so romantisch! Das Van Magazin fragt, warum Tom Buhrow bei Kürzungen in den Öffentlich-Rechtlichen ausgerechnet die Orchester im Sinn hat. Für die Klimaaktivisten sind Museen nur Tempel des Warenfetischismus, glaubt Boris Groys in der SZ.

Das alte Schreckensbild des Herrn Jedermann

09.11.2022. In der NZZ verteidigt Milo Rau das Zürcher Schauspielhaus gegen seine Kritiker: Schiller und Goethe waren ober-woke! Die FAZ blickt bestürzt auf die Abgründe, die sich unter Felix Nussbaums "Trostloser Straße" auftun. Im Standard versichert Robert Harris, dass Charles III. ein Englisch des 21. Jahrhunderts spricht. Die taz lernt von Regisseur Hong Sang-soo, zwischen den Zeilen zu fühlen. Und im ND preist Berthold Seliger die Sinnlichkeit des dialektischen Souls, mit der ihn Asher Gamedze auf dem Berliner Jazzfest betörte.

Im bläulichen Rund der Gedächtniskirche

08.11.2022. Die FAZ lernt von ukrainischen Schriftstellern, dass der Krieg ihnen das belletristische Schreiben unmöglich macht. FR und FAZ streiten mit Wagners "Meistersingern" in Frankfurt, was gute Kunst ist. Mit angehaltenem Atem verfolgt die taz Rahul Jains Doku "Invisible Demons" über die Umweltverschmutzung in Delhi. Im Tagesspiegel erklärt Max Hollein die Open-Access-Politik des Metropolitan Museums. Im Standard beklagt Peter Nachtnebel die Kommerzialisierung der Clubszene

Die Sortier- und Stempelmaschine des Betriebs

07.11.2022. Die Feuilletons feiern die Schriftstellerin Emine Sevgi Özdamar, die in Darmstadt den Büchner-Preis erhielt und sich mit einer Rede bei ihrem großen Bruder Georg bedankte. Die FR stürzt sich in Ruth Wolf-Rehfeldts poetische Buchstabenwellen. Die SZ freut sich über die Profanisierung von Peter Paul Rubens im Museum der Schönen Künste in Antwerpen. Die taz porträtiert die belarussische DJane Ludmilla Pogodina, die es aufgegeben hat, in Minsk die Menschen zum Tanzen zu bringen.

Jetzt stehen wir da in unseren Socken

05.11.2022. Die Berliner Zeitung bestaunt revolutionäre ungarische Kunst aus dem Berlin der Weimarer Zeit. Die SZ bereitet sich innerlich schon auf Körperkontrollen in Museen vor. Der nachtkritik schnackeln die Augen bei den Line Dances des Nature Theater of Oklahoma. Die taz lässt sich von dem ugandischen Designer Bobby Kolade erzählen, wie man den Müll des Globalen Nordens als Ressource nutzt. Außerdem würdigt sie Emine Sevgi Özdamar, die heute mit dem Büchnerpreis ausgezeichnet wird. Barbra Streisand singt laut und das von Anfang an, lernt der Freitag aus den ersten Aufnahmen der Sängerin in einer New Yorker Bar.

Zitronengelb leuchtet der Mond

04.11.2022. Wie politisch eine gelbe Kuh und ein roter Engel sein können, lernt die FAZ in der Chagall-Ausstellung der Frankfurter Schirn. Wie unästhetisch eine politisch höchst korrekte Ausstellung über "Die grüne Moderne" sein kann, lernt die taz im Kölner Museum Ludwig. Die SZ schreibt um den Goncourt-Preis für Brigitte Giraud herum. Tagesspiegel und taz werfen in einer Studie zur Nazi-Vergangenheit des Berlinale-Gründers Alfred Bauer auch einen Blick auf den Mikrokosmos der jungen Bundesrepublik. Zeit online empfiehlt das Werk der britischen Soulband Sault - doch muss man sich mit dem Herunterladen beeilen.

Im Club der jammernden Milliardäre

03.11.2022. Die taz lässt sich beeindrucken von Pamela Meyer-Arndts Filmdoku über die "Rebellinnen" Tina Bara, Cornelia Schleime und Gabriele Stötzer, die in der DDR gegen alle Widerstände ihre Kunst machten. Der Tagesspiegel erinnert sich in einer Bonner Opern-Ausstellung wehmütig an die Zeiten, als Oper noch in erster Linie Uraufführung war. Die FAZ bewundert die präzise choreografierte Unfertigkeit von David O. Russells Filmkomödie "Amsterdam". Die Zeit blickt traurig auf Kanye West.

Langsam kommen Buntfarben hinzu

02.11.2022. In der SZ blickt der ukrainische Filmregisseur Oleg Senzow auf die verdammten neunziger Jahre zurück. Der Standard bewundert in Salzburg die Extravaganz des Fotografen Samuel Fosso. Etwas nüchterner erkundet die taz das Zusammenspiel von Farben und Formen im Josef-Albers-Museum in Bottrop. Die NZZ erörtert Ökologie und Ökonomie des Holzbaus. Außerdem erlebt die taz beim "Handke-Project" in Prishtina eine aufgeheizte Stimmung wie im Fußballstadion. Der Klassikbetrieb bleibt konservativ und frauenfeindlich, schimpft die SZ mit Blick auf die derzeitige Postenvergabe.

Stoffhose, Windjacke und Sneakers

01.11.2022. Die Berliner Zeitung bewundert das großstädtische Bewusstsein, das Charlottenburgs Kulturbürgertum in Anne Schönhartings Fotografie an den Tag legt. In der Zeit erzählt Daniel Barenboim, wie seine schönsten Illusionen über die Musikalität der Welt platzten. Die FAZ spürt auf dem Jazzfest in Frankfurt das Feuer des kulturpolitischen Widerstands. Der Tagesspiegel feiert die Unbekümmertheit und Geduld des "Heimat"-Regisseurs Edgar Reitz, der heute neunzig wird. Schon um ausufernde Genderdiskurse einzubinden, rät die NZZ wieder zur Krawatte.