Efeu - Die Kulturrundschau

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.

April 2020

Gute Rahmung

30.04.2020. Die taz porträtiert die 73-jährige Experimentalfilmemacherin Helga Fanderl, die seit den achtziger Jahren ausschließlich mit Super-8-Film arbeitet. Die nachtkritik baut eine digitale Theaterwelt um die Inszenierungen herum. In der FR erklärt das Mannequin Michelle Elie die transformierende Kraft der Kleider von Rei Kawakubo. Der Tagesspiegel beobachtet das Wettrennen um die Corona-Bestseller. Die Welt warnt Kunst und Künstler: mehr Geld vom Staat macht euch stumm.

Kreative Bipolarität

29.04.2020. Der Standard erinnert an die kulturbolschewistische Bombe, die Bertolt Brecht vor siebzig Jahren über Österreich zündete. Die SZ wagt den Ausbruch aus dem Videostream und spaziert mit Elfriede Jelinek im Ohr durch Oberhausen. Die NZZ vermisst die aus der Kunstgeschichte gekickten Surrealistinnen. Der Freitag blickt auf Berlins vor dem Abgrund taumelnden Clubs. Und in der Deutschen Welle fordert Kurzfilmtage-Leiter Lars Henrik Gass schon mal eine geregelte Musealisierung des Kinos.

Teil einer Situation

28.04.2020. Die FAZ lernt mit dem Fotografen Akinbode Akinbiyi, langsam wie ein Dieb durch die Straßen von Lagos, London und Berlin zu streifen. epd-Film erinnert an die große, aber angemessene Verzweiflung bei Rainer Werner Fassbinder. Die taz blickt auf die Lücke, die das virtuelle Theatertreffen markieren wird. Zum Tod von Suhrkamps Cheflektor Raimund Fellinger schreiben Andreas Maier in der FAZ und Ralf Rothmann in der SZ.

Auf dem Schirm nur geduldeter Gast

27.04.2020. Die FAS betont, dass nicht nur der Berliner Mäusebunker abgerissen werden soll, sondern auch das Potsdamer Rechenzentrum. Die NZZ bewundert Jan van Eycks zeitlos faszinierenden Genter Altar. Etwas gelangweilt betrachten FR und Tagesspiegel den Filmpreisregen für Nora Fingscheidts "Systemsprenger": War es noch Harmoniebedürfnis oder schon Eintönigkeit? Große Trauer herrscht über den Tod des schwedischen Schriftstellers Per Olov Enquist. Berthold Seliger erinnert in der Jungen Welt an Karl Amadeus Hartmanns Dachau-Sonate "27. April 1945".

Von ihrem brillanten Geist bis zu ihrer vorzüglichen Leber

25.04.2020. Friedrich Christian Flick zieht seine Kunstsammlung aus Berlin zurück. Glücklich macht das nur die Investoren der CA Immo AG, die Kunstkritiker sind vom Abzug der Sammlung ebenso entsetzt wie seinerzeit von ihrer Ankunft. Die NZZ spiegelt sich in den Hauts-de-France in einem Betonbunker der Nazis. Zeit online hört die Krise der Männlichkeit im Rap von Ufo361. Die FAZ hat genug von den Entschuldigungsstrategien für deutsche Kriegsverbrechen in der Serie "Das Boot". Die Berliner Zeitung freut sich auf das Theatertreffen, auch wenn es in diesem Jahr im Internet stattfindet.

Utopie aus Luft und Nächstenliebe

24.04.2020. Die Berliner Zeitung wirft der Berliner Bildungssenatorin Sandra Scheeres vor, die Leiter der Staatlichen Ballettschule nicht gegen Verleumdungen zu verteidigen. ArtReview folgt einer Einladung zur Morgendämmerung im Berliner Gropiusbau. In der FR erklärt der rumänische Schriftststeller Radu Vancu, warum jetzt der Moment ist, Schischkin, Okudjava, Gaddis und Proust zu lesen. Die SZ faltet sich eine Wohnung. Die taz stellt das neue Cybertheater vor.

Sternbild der Hunde

23.04.2020. In der taz beschreibt Annett Gröschner das Verhältnis der DDR zu Kolonialismus und Rassismus. Domus erinnert an die Gründung von Brasilia vor sechzig Jahren. Tagesspiegel, taz und FAZ denken über die Zukunft des Kinos nach, sofern es noch eine hat. In der FR plädiert Katharina Hacker für Renovierung statt Neubau der Städtischen Bühnen Frankfurt. Die FAZ besucht eine Ausstellung mit kleinen Geheimnissen der sowjetischen Untergrundkultur. Die Zeit fragt: Wozu brauchen wir noch radikale Kunst?

Die Freiheit des Inkorrekten

22.04.2020. Die SZ starrt in Istanbul auf 440 Paar schwarze Pumps von Frauen, die 2018 in der Türkei von Männern getötet wurden. Die Schriftstellerin Leona Stahlmann zeigt sich in der FAZ ganz bestrickt von Catherine Robbe-Grillet, einem waschechten Libertin. Wir müssen einsehen, dass das Kino tot ist, sagt Regisseur Paul Schrader in Vulture, will aber trotzdem feiern. Auch für die Bühne der Zukunft sieht es mau aus: Küssen auf Abstand? Wie soll das gehen, fragt der Tagesspiegel. Und sehr notwendig in diesen Wochen: Die Beastie Boys auf Youtube.

Wie man in Granit bohrt

21.04.2020. In der taz setzt David Lau die Diskussion ums Streaming in der Kultur fort und fordert den freien Zugriff: Endlich Bolschoi-Ballett sehen! 54books beklagt die auch analoge Untervergütung im Literaturbetrieb. In der SZ spricht Wolfgang Tillmans von der coronabedingten Dynamik nach oben und seiner Solidaritätsaktion für die queere Szene. Die FAZ tröstet sich mit Jonas Mekas. Der Tip will den Mäusebunker retten.

Zufrieden schnurrende Demokratie-Romantik

20.04.2020. Im Standard begeistert sich Sybille Berg eher weniger für die Disziplin, mit der wir die Abschaffung freiheitlicher Rechte erdulden. Die taz probiert Theater auf Telegram aus. Im Tagesspiegel erinnert Wolfgang Emmerich an Paul Celans feines Sensorium für das Nibelungische bei den Deutschen. Die NZZ bemerkt, dass wenigsten Cy Twombly die Sehnsucht nach Süden in der Moderne aufrecht erhielt. FAZ und FR freuen sich aufs digitale Lichter-Filmfest. Und vom WHO-Spendenkonzert nehmen die Kritiker immerhin etwas gute Laune mit.

Jenseits von Wissen und Theorie

18.04.2020. Die SZ entdeckt mit Hassan Sharif den Künstler, der die künstlerischen Moderne in die arabischen Emirate holte. In der taz erklärt die Choreografin Ligia Lewis, was "schwarze Fugitivität" bedeutet. In der Literarischen Welt wehrt sich Leila Slimani gegen den Vorwurf, sie sei bourgeois. Die taz blickt mit Satya Sai Maitreya in die Seele des idealen Gesamtkaliforniers. In der Kreiszeitung macht sich Rajko Burchardt wenig Sorgen um Hollywood nach Corona. Und in der NZZ erklären Herzog und de Meuron, wie man lebenswerte Krankenhäuser baut.

Himmlische Längen

17.04.2020. In der taz erklärt der Musiker Moses Sumney: Einsamkeit macht produktiv. Die Welt probiert, welche Getränke zu welchen Streamingangeboten passen (Gin Tonic zum Ballett). In der FR schlägt der Theatermacher Kay Voges vor, Theater nicht zu streamen, sondern einfach mit digitalen Mitteln zu machen. Dezeen bewundert den Brutalismus in China. Die FAS streamt sich durch Netflix in Nigeria.

Kurbeltelefone und Morsezeichen

16.04.2020. Der Tagesspiegel feiert den tschechischen "Tenore di grazia" Petr Nekoranec, der so unnachahmlich französisch singt. Die SZ hört den Pianisten Daniil Trifonov, der seine Isolation in der Dominikanischen Republik für ein Konzert nutzt (nur online, versteht sich). Die FAZ untersucht die Matrix des Erotischen in der Musik. Der Freitag hört Klaus Buhlerts Hörspiel zu Thomas Pynchons Klassiker "Gravity's Rainbow" - knallende Champagnerkorken und tuckernd ölige Sherman-Tank-Motoren inklusive. Die taz würdigt die verstorbene französische Filmemacherin Sarah Maldoror.

Tretet vor Unbekannte verdeckten Gesichts

15.04.2020. In der Berliner Zeitung erinnert der Maler Mark Lammert an Heiner Müllers "Krieg der Viren". Die taz begegnet im Kunstverein Braunschweig dem schwarzen Aufklärer Anton Wilhelm Amo, der sich 1734 gegen Descartes stellte. Der Standard ahnt das Ende einer auf Besuchermassen zielenden Museumspolitik. Der Tagesspiegel erinnert daran, dass zur hygienischen Moderne auch die grüne und aufgelockerte Stadt gehört.

Die Tinte in der Milch

14.04.2020. Die SZ beobachtet entgeistert, wie Hamburg die schönsten Pläne für das Grasbrook-Quartier in der Elbe versenkt. In der FR plädiert der Architekt Jürgen Engel für den Erhalt der Frankfurter Bühnen: Der Bau kann bleiben, wenn die Intendanz geht. In der FAS erzählt die chilenische Dichterin Andrea Brandes, wie sie im Gefängnis Poesie lehrte. Im Freitag spricht Roberto Saviano über seine Serie "ZeroZeroZero" und den Kokainhandel. Die Berliner Zeitung erkundet die Ikonisierung der Maske. Und die taz lernt von Gernot Wieland, wie man beim Nachstellen von Kristallen die Traurigkeit vertreibt.

Die Regeln des poetischen Spiels

11.04.2020. Vogue feiert die Jungfrau in Valentino Couture. In der FAZ freut sich Städel-Direktor Philipp Demandt über den Erfolg der digitalen Angebote seines Museums. In der FR erklärt dagegen der Intendant der Frankfurter Oper Bernd Loebe, über Streaming noch nachdenken zu müssen. Die FAZ porträtiert den syrischen Schriftstelller Khaled Khalifa. Im Freitag erklärt Nora Gomringer, warum sie für die Veröffentlichung des Vergewaltigungsgedicht von Rammstein-Sänger Till Lindemann ist. Die Musikkritiker hören das neue Album der Strokes.

Überlebensklugheit

09.04.2020. Die NZZ findet in Corona-Zeiten Trost und Erleuchtung in Godfrey Reggios Experimentalfilm-Klassiker "Koyaanisqatsi". "Lest! Lest! Lest! Lest Boccaccio", rät dagegen der Kulturphilosoph Robert Harrison. Zeit online entkommt dem Schrecken der Isolation mit Tocotronic. Monopol bewundert die perfekt ausgeleuchteten Körper Robert Mapplethorpes. Architectural Digest besucht die 1968 von Sergio Los und Carlo Scarpa erbaute, zartrosa glühende "Casa Tabarelli". Der Tagesspiegel liest sich im Multimedia-Onlinemagazin Präposition fest. Hört auf mit dem Streamen, ruft die taz den Theatern und der nachtkritik zu.

Das Wesen der Klinke

08.04.2020. Die taz blickt beim Amsterdamer Dokumentarfilmfestival in den Maschinenraum von Algeriens Demokratie. Der Freitag besingt das Kino als öffentlichen Ort. Die SZ ahnt das Ende der Türklinke. Die FAZ wirft einen Blick in den Georg-Kolbe-Nachlass. Die Zeit bemerkt an der Debatte um Till Lindemann, wie ungleich die moralische Empfindlichkeit zwischen Pop und Literaturbetrieb verteilt ist. In der Jungle World fragt Berthold Seliger, warum die Öffentlich-Rechtlichen nicht mal junge Bands und neue Musikerinnen zeigen statt der immergleichen Rockrentner.

Zurück in die Welt geprügelt

07.04.2020. In der FAZ erzählt die Schriftstellerin Angela Bubba vom erschöpfenden Kampf ihrer Mutter, die als Krankenschwester in Kalabrien arbeitet. In der taz erkennt Michael Wildenhain die Fragilität des Menschen. In der NZZ knallt Regisseur Nicolas Stemann dem europäischen Bürgertum seine Verachtung entgegen. Die SZ hört Jazz aus Chicago. Und die Zeit empfiehlt, eine persönliche Lav-Diaz-Retrospektive.

Kribbelnd, heiß und eng umschlungen

06.04.2020. In Österreich beginnt heute die Maskenpflicht: Der Standard weiß: Schon bei schamanischen Riten war der Glaube an ihre magische Kraft zentral. Die SZ folgt mit Begeisterung dem Online-Parcours, mit dem die Akademie der Künste durch John Heartfields Leben führt. Die FR würde Raffael noch mehr verehren, wenn er in seine Schule von Athen auch Frauen gelassen hätte. Die Welt vermisst Rainald Goetz. Der Tagesspiegel empfiehlt Eskapismus-Fluff von Dua Lipa.

Die Welt wird wieder uns gehören

04.04.2020. In der taz erzählt der Schriftsteller Barbaros Altuğ, wie er versucht, offizielle türkische Geschichtsnarrative zu sprengen. Die SZ schließt sich Hans Ulrich Obrist an, der im Guardian New-Deal-Programme für Künstler forderte. FAZ und Filmdienst befürchten: Die Krise besiegelt das Ende des Kinos. Die Vogue schneidert Haute Couture im Homeoffice nach. NZZ und SZ feiern den modernen Raffael. Und alle trauern um Bill Withers, den zornigen Sozialrealisten.

Wie schön Elefanten rasen können

03.04.2020. Im Freitag erklärt der Schriftsteller Leif Randt seinen Wunsch, an einer kybernetisch geregelten Planwirtschaft mitzuwirken. Die NZZ erzählt, wie sie Beethoven lieben lernte. Auf ZeitOnline erklärt der Filmemacher Savaş Ceviz, warum er einen Film über einen Pädophilen machen wollte. In der SZ sagt Schaubühnenleiter Thomas Ostermeier schon mal das Ende der Solidarität nach Corona voraus. In der FAZ spricht Thomas Struth über das kollektive Unbewusste des städtischen Raums.

Hinterher eine höhere Biodiversität

02.04.2020. In der SZ erzählt Dirigent Yoel Gamzou von seinem Projekt "7 Deaths of Maria Callas", in dem Marina Abramović und Willem Dafoe die Todesart von sieben Bühnenfiguren der Callas zeigen: vom Ersticken bis zum Tod durchs Messer. Die FAZ stellt das neue Viertel vor, das irgendwann mal auf dem Gelände des Tegeler Flughafens entstehen soll: für wohnungssuchende Menschen, Start-ups und Fledermäuse. Auf ZeitOnline erklärt der Hamburger DJ Lars Schmedeke, warum Freiberuflern eine Infektion mit dem Coronavirus derzeit mehr bringen würde als die Staatshilfen. In Frankreich hat sich rund um die Corona-Tagebücher von Schriftstellern eine Debatte über Klassenunterschiede entwickelt, berichtet der Freitag.

Der innere Beach Boy

01.04.2020. Die NYTimes hofft angesichts der neuen Choreografien des Alltags auf eine Rückkehr in unsere Körper. In der taz schreibt der serbische Schriftsteller Ivan Ivanji über Corona in Serbien. Außerdem beklagt die taz die diskursive Einengung. Die SZ rät zum Eskapismus mit Eric Rohmers Sommerfilmen: Wirksamer als alle Antidepressiva gegen Lagerkoller. Und Renzo Piano ruft dazu auf, wenn das alles vorbei ist, die Museen zu stürmen.