Efeu - Die Kulturrundschau

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.

Mai 2018

Der Rohstoff Leben

31.05.2018. Der New Yorker würdigt den großartigen kongolesischen Künstler Bodys Isek Kingelez. Autorin Dorothea Studthoff denkt im Logbuch Suhrkamp darüber nach, wie sich das Unglaubliche in Worte fassen lässt. Der Guardian will die brutalen Videos zu Drill Music nicht für die Messermorde in London verantwortlich machen. Die Filmkritiker feiert Agnes Varda, Jean-Luc Godard ist allerdings ein echter Stinkstiefel, stellt sich heraus.

Dieses leichte b-Moll, das sich ins Leben schleicht

30.05.2018. Der Comic wird Essay, bemerkt die NZZ beim Lesen der neuen Werke von Magdalena Kaszuba und Julia Hosse. Die Welt erschauert in der Zeche Zollverein  noch einmal wohlig vor der Monumentalität des Kohlbergbaus. Die SZ lernt im Gorki Theater von Barış Atay, dass die erfolgreiche Autokraten als kumpelige Underdogs daherkommen.  Im New Yorker Metropolitan Museum lässt sich die FAZ auf den Jungfrauenkult ein, wenn er im Gewand Balenciagas daherkommt. 

Das übliche Trompeten-Trara

29.05.2018. Simon Rattles Abschied von den Berliner Philharmonikern naht. Die FAZ blickt auf  gesamtphilharmonische Gewaltorgien zurück. Der Standard bewundert die raubtierhafte Herablassung, die Peter Simonischek in Ayad Akhtars Komödie "The Who and the What" seiner Tochter gegenüber an den Tag legt. Außerdem porträtiert er Susanne Kennedy. Der Tagesspiegel sieht für die  Schwedische Akademie keinen Weg aus der verfahrenen Situation. Die Welt erlebt mit Paolo Sorrentinos Berlusconi-Film "Loro" den Neonrealismus.

Ein Portal zur universellen Wahrheit

28.05.2018. Die FAZ nimmt mit Lauryn Youden ein Klangbad. Die SZ spekuliert, ob Harvey Weinstein der Elia Kazan der #MeToo-Zeit werden wird. Der Tagesspiegel erkundet, wie männliche Autoren ihren Missbrauch literarisch aufarbeiten. Die taz lernt im Luxemburger Pavillon der Architekturbiennale, wem der Boden gehörtSZ und FAZ berichten zudem, dass Russlands Reaktionäre jetzt sogar die Bilder von Ilja Repin stürmen. 

Die Energie, die Genauigkeit, die Neugierde

26.05.2018. In Venedig wurde die Architekturbiennale eröffnet: Die SZ sieht eine Feier der reinen Baukunst, die FAZ die Ästhetisierung guter Absichten. Der Freitag hinterfragt den Sinn öffentlich geförderter Familienfilme, wenn es um RAF-Sympathisanten geht. Die FAZ lernt im Kunstmuseum, wie die Kunst schon immer mit gemischten Realitäten umgehen konnte. In der Welt huldigen Jonathan Lethem, T.C. Boyle und Zadie Smith dem überragenden Philip Roth.

Entschlackt und chakramäßig gereinigt

25.05.2018. Zeit online hört, wie Aïsha Devi mit ihrem Ibiza-Rave bassverliebte Maulwürfe zur Ekstase treibt. Die taz treibt es mit Wolfgang Voigts Ambient-Rausch in den Wald. Die SZ staunt über das Dresdner Musikpublikum, das Uraufführung von Tan Duns "Buddha-Passion" feierte. Der Standard begutachtet erste Pavillons auf der Architektur-Biennale in Venedig. In der SZ erzählt Najem Wali, wie er dem iranischen Botschafter vorschlug, Amos Oz die Atomanlagen Irans besuchen zu lassen. Und Nicolaus Schafhausen erklärt, warum er seinen Job als Direktor der Wiener Kunsthalle hinwirft.

Jenseits der großen Erzählungen

24.05.2018. Die Literaturkritiker würdigen den verstorbenen Philip Roth und rätseln immer noch über Christian Krachts Poetikvorlesung. Die taz feiert Stéphane Brizés Maupassant-Film "Ein Leben", der aus Luft, Licht und Wasser Schönheit destilliert. Der Perlentaucher widerspricht und setzt dagegen auf Ausgesetztsein als Erfahrung. Der Tagesspiegel schwärmt vom Cinemascope-Jazz des Saxofonisten Kamasi Washington.

Ich grabe ein Loch

23.05.2018. Philip Roth ist tot. Die New York Times trauert. Die USA verdanken ihm große Momente onanistischer  Überschwänglichkeit, hielt ihm selbst die feministische Autorin Katie Roiphe zugute. Die taz erkennt die glückliche Fügung im Werk Tacita Deans. Im Deutschlandfunk Kultur spricht der georgische Clubbetreiber Zvias Gelbakhiani über die Demonstrationen gegen die Regierung in Tiflis. Die Welt blickt mit Entsetzen auf die Zerstörung der Städte durch den Siedlungsbau.

Träger von Talenten ohne Heimat

22.05.2018. In Cannes ist das Filmfestival mit einer Goldenen Palme für Hirokazu Kore-Edas "Shoplifters" zu Ende gegangen. SZ, FAZ und NZZ resümieren recht missmutig den Wettbewerb, der für sie fast schon so durchschnittlich war wie eine Berlinale. taz, FR und Standard sind dagegen ganz zufrieden.  Beim Berliner Theatertreffen ging der Schauspieler Fabian Hinrichs mit seiner Zunft ins Gericht, die sich von Regie-Konzepten verzwergen lasse: Der Tagesspiegel bringt seine Rede. Die  Berliner Zeitung atmet auf: Zum Glück hat es für den Mauerstreifen kein Konzept gegeben. Und alle trauern um den Avantgarde-Komponisten Dieter Schnebel.

Neue Wege des künstlerischen Ausdrucks

19.05.2018. Die Kritiker wagen eine vorsichtige Palmen-Prognose: Alice Rohrwachers "Happy As Lazzaro" hat gute Chancen, glauben sie. In der SZ wünscht sich Salman Rushdie mehr Streitlust in der Literatur. Der Tagesspiegel erfährt von dem chinesischen Maler Liu Xiadong, wie man das System provoziert, wenn man die Augen offen hält. Das Essen könnte demnächst aus dem 3-D-Drucker kommen, befürchtet die Berliner Zeitung. Und in der NZZ ahnt Klaus Dörr, was an der Volksbühne falsch gelaufen ist.

Demutvolles Dröhnen

18.05.2018. Die Filmkritiker feiern Lukas Feigelfelds Filmdebüt, den Mittelalter-Alpenhorrorfilm "Hagazussa", dessen Hauptfigur die Schwester heutiger depressiver und gemobbter Mädchen ist, so Silvia Szymanski im Perlentaucher. In der Kunst hat Political Correctness nichts zu suchen, meint im Freitext-Blog die Schriftstellerin Dagmar Leupold. Die SZ besucht den Theater- und Filmszenografen sowie "amtierenden Weltmeister der Drehbühne", Aleksandar Denić, in Belgrad.

Und dann ein gewisser Ästhetizismus

17.05.2018. Die Feuilletons verarbeiten den Schock, den Christian Kracht mit seinem Bekenntnis ausgelöst hat, sexuell missbraucht worden zu sein. Oder ist das Literatur, fragt die FAZ verstört. Die Neue Musikzeitung unterzieht die Akustik der Elbphilharmonie einer erneuten Probe. Zeit online hält den Kopf hin für den Wiener Hutmachermeister Shmuel Shapira. Und Cannes rockt mit Filmen von Spike Lee, Alice Rohrwacher und Hirokazu Kore-Eda.

Komik für Fortgeschrittene

16.05.2018. Lars von Trier kann es immer noch: Scharenweise sind die Kritiker in Cannes aus dem Kino gelaufen. SZ und Standard fanden seine Serienmörderfilm saubrutal, aber klug reflektiert. Die NZZ sieht Trier schon auf dem Weg in die Hölle. Die FAZ erholt sich mit Spike Lees Farce "BacKkKlansman". Die taz erkundet derweil in Essen mit Luigi Ghirri Karte und Gebiet der Fotografie. Und große Trauer herrscht über den Tod von Autor und Stil-Ikone Tom Wolfe. Wir verlinken auf seine Reportage über Leonard Bernsteins Party für die Black Panther.

In diesem Film ist Gott erschienen

15.05.2018. Der Standard stürzt sich in Graz mit Ashley Hans Scheirl in einen erotisch-psychedelischen Farbenrausch. Die Welt verfolgt in Leipzig, wie sich Arno Rink vom sozialistischen Realismus emanzipierte. Die NZZ erlebt mit Renato Guttuso in Turin noch einmal eine wahre Kundgebung der Italianità. In Cannes haben Tagesspiegel und Standard ein erstes Meisterwerk gesehen: Alice Rohrwachers  "Happy as Lazzaro".

Flipperkugeln durch den Kinosaal

14.05.2018. Frauen in Cannes. Die FAZ lernt, dass in 71 Jahren gerade mal 82 Regisseurinnen auf dem Festival vertreten waren. Schade nur, dass Eva Hussons Film über jesidische Kämpferinnen so schwach war, meint die SZ. Die Welt erlebt mit Jean-Luc Godards kyptischem Bilderreigen "Le livre d'image" einen Seh- und Hörsturm. Die NZZ fragt, warum sich das moderne Musikdrama immer häufiger in diffuse Mehrdeutigkeit flüchtet. Die FAZ erlebt in Singapur ein Dorf auf Steroiden. Und in der Berliner Zeitung ruft Toni Morrison: "Verschont mich mit euren kleinen Geschichten über euch und eure Großmutter."

In Austernweiß getüncht

12.05.2018. Nachtkritik und NZZ denken über die schlechten Arbeitsbedingungen von Frauen im Theater und in der Kunstszene nach. Immerhin in der Literatur kündigt sich ganz leise eine postfeministische Wende an, hofft die SZ. Keinen leichten Stand hat indes die Literatur in Nigeria, schreibt die Welt. Der Tagesspiegel bewundert in Wolfsburg, wie indische Künstlerinnen auf Unterdrückung aufmerksam machen. Die taz tanzt zu westafrikanischem Punk und urkongolesischen Rhythmen. Die Feuilletons trauern um Gerard Genette. Und: Tag drei in Cannes.

Gespenstersonate Berliner Art

11.05.2018. Immerhin Kirill Serebrennikovs Schwarz-Weiß-Musical "Leto" über Punk- und Rockmusik in der Sowjetunion steht in Russland nicht unter Arrest, atmen die Kritiker in Cannes auf. Viel Lob gibt es auch für Sergei Loznitsas Film "Donbass". Die NZZ muss sich nach einer Diskussion über die Zukunft der Volksbühne erstmal die Kante geben. Tagesspiegel und FR werden in der Alten Nationalgalerie von der Wanderlust gepackt.

Ohne irgendeinen Bombastschnickschnack

09.05.2018. Die SZ berichtet über den heiklen Fall Junot Diaz, der offenbar Opfer, Täter und PR-Stratege zugleich ist. taz und SZ diskutieren über Wes Andersons "Isle of Dogs": Spricht aus ihm die Liebe des Regisseurs zu Japan oder die Überheblichkeit der Siegermacht? Die Zeit erlebt in Brüssel, wie Milo Rau den Mord an einem schwulen Araber rekonstruiert und dabei sogar den Regen jener Nacht verhört. Im Tagesspiegel empört sich Claus Peymann über die Ticketpreise am Berliner Ensemble unter seinem Nachfolger. Die FAZ jubiliert über die Rekonstruktion der Frankfurter Altstadt.

Die Allverfügbarkeit von Text

08.05.2018. Heute beginnen die Filmfestspiele in Cannes - ohne Selfies auf dem Roten Teppich, ohne Harvey Weinstein und ohne Netflix. FAZ und Tagesspiegel ahnen die Falle, in die das Festival tappt. Der Standard diskutiert über Michael Köhlmeiers Brandrede im Wiener Parlament. Im Freitag erklärt Hannes Bajohr seine digital konzeptuelle Lyrik. Die FAZ weiß, warum die Franzosen so viel Undank in Belgien für ihr Museumsgeschenk ernten. Geschenke. Fashion is over, erkennt die taz, kein Mensch will heute mehr so aussehen wie die anderen.

Die Perücken gehen ins Krustige

07.05.2018. Frank Castorfs siebenstündiger "Faust" reißt zum Beginn des Berliner Theatertreffen noch einmal die Gräben auf: Die SZ jubelt über die Kraft und Freiheit der alten Volksbühne, der Tagesspiegel erkennt auf Hysterie und Häme. Museen sind nicht mehr Orte der Kontemplation, sondern des Stadtmarketings, seufzt die NZZ. Die Jungle World lernt von der funkig-eckigen Musik der Band Les Truc, dass Einklang mit sich selbst nicht möglich ist: Der Mensch ist aus Dissonanzen gebaut.  Und die FAZ erinnert daran, dass 1968 auch das Jahr war, in dem Yves Saint-Laurant Coco Chanel ablöste.

Verschobene Euphorie

05.05.2018. Die Literaturkritiker sind sich einig: Erst muss sich die Jury für den Nobelpreis reformieren, dann kann sie auch wieder Nobelpreise verleihen. Im Tages-Anzeiger ermuntert Sarah Kenderdine, Professorin für digitale Museologie, zum Einsatz digitaler Technologien im Museum, Roland Nachtigäller vom Marta Herford fürchtet dagegen, damit zum ADHS-Patienten zu werden. Die New York Review of Books reist unterdessen mit einer Ausstellung in San Francisco zurück ins Maschinenzeitalter. Der Tagesspiegel plädiert für mehr Welttheater in Berlin. Die FAZ besucht die Buchmessen in Beirut, Bahrein und Riad.

Stärker als jeder Kontext

04.05.2018. Aktualisiert: Der Literaturnobelpreis fällt dieses Jahr aus. Im Theater geht's nicht um Identität, sondern um Fiktion, beharrt der Dramaturg Bernd Stegemann in der FAZ. Die NZZ erinnert daran, wie sehr die Kritik an "kultureller Aneignung" nach hinten losgehen kann, und tanzt dann in Saint-Louis bis zum Morgengrauen zu Mbalax. In der SZ warnt der Brüsseler Kurator Dirk Snauwaert vor der weltumspannenden Kulturindustrie. In Berlin-Lichtenberg droht ihr Bezirksstadträtin Birgit Monteiro mit saftigen Geldstrafen. Die Filmkritiker feiern Sergei Loznitsas "Die Sanfte".

In diesem adriatischen Licht

03.05.2018. Die Zeit feiert eine Berliner Ausstellung, die nicht-westliche Kunst endlich als Kunst und nicht als exotische Happen zeigt. Intendant Oliver Reese stellt in der Welt klar: Die Million Schulden des Berliner Ensembles stammen noch von Claus Peymann. Die Filmkritiker reagieren verstört auf Oskar Roehlers Film "HERRliche Zeiten". Die SZ feiert die Mischung aus Industrial-Noise und fiedelndem Appalachian-Folk von Mouse on Mars. Franz Hohler reist für die NZZ nach Samarkand, wo die Bücher und Dichter verehrt werden. Und Tom Schulz fängt ein Lächeln auf der Friedhofsinsel von Venedig.

Wo ist die Liebe hin?

02.05.2018. Die Welt blickt wehmütig nach Italien, das einst so begeistert in die Moderne marschierte. SZ und Nachtkritik bejubeln Komik, Poesie und Trauer, mit der die Münchner Kammerspiele Strindbergs antiemanzipatorisches Stück "Der Vater" noch einmal leuchten lassen. In der taz schwärmt Michael Walter von den Qualen, Henry James zu übersetzen. Die FAZ begegnet den geschlitzten Kleidern der Renaissance.