Efeu - Die Kulturrundschau

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.

April 2015

Triumph der drei alten Frauen

30.04.2015. In der Paris Review erklärt der britische Knausgaard-Übersetzer Don Bartlett, warum er den Knausgaard-Sound mit dänischen Ohren hört. Die Berliner Theaterkritiker freuen sich schon auf politisches Gegenwartstheater beim Theatertreffen. In der Spex fragt HAU-Chefin Annemie Vanackere eben diese Kritiker anlässlich des Theaterstreits: Wo habt ihr eigentlich die letzten zwanzig Jahre gelebt? Der Freitag ist genervt vom halbwissenden Popkultur-Berlin. Die NZZ schickt einen ersten Bericht von der Mailänder Expo

Eine Aura von Ernsthaftigkeit

29.04.2015. Die Zeit ahnt, warum Chris Dercon in Berlin einen so schweren Stand hat: Der Mann hat Charme, eine dem Berliner unheimliche Charakterdisposition! Critic.de freut sich über die Wiederentdeckung von Will Trempers Film "Flucht nach Berlin" aus dem Jahr 1961. Die New York Review of Books gruselt sich vor Goyas alten Frauen. Die Zeit stellt die Literaturminiaturen von Lydia Davis vor.

Utopische Entrückung

28.04.2015. Eva-Maria Höckmayrs Berliner Inszenierung der Telemann-Oper "Emma und Eginhard" stößt auf freundliche Kritik: zu viel gurrende Flauto-d'amore-Flirts oder anders gesagt: zu viel erlesene Halbherzigkeit. Etwas thesenhaft kommt Tocotronics neues Konzeptalbum über die Liebe beim Tagesspiegel an, die Welt möchte dagegen sofort knutschen. Im Standard beklagt der Choreograf Chris Haring die neue Lust am Einteilen und Sortieren in der Kulturpolitik. Dem Tages-Anzeiger stellen sich die Nackenhaare hoch vor Berlinde De Bruyckeres Wachskadavern. Und der Guardian erklärt, wie John Galliano sich die Zukunft des Avantgarde-Modelabels Margiela vorstellt.

Überwiegend sehr herrlich

27.04.2015. Im Tagesspiegel fragt Thomas Oberender von den Berliner Festspielen, warum plötzlich so viel Mittel in die Volksbühne fließen statt in Radialsystem, Sophiensäle, HAU und Kunstwerke. Chris Dercon benennt das Problem der horizontalen Linken: Sie hat Probleme mit Veränderungen. Am neuen Whitney Museum ist das Schönste der Blick nach draußen, findet die SZ. Der Tagesspiegel hat einen neuen Chef für die Philharmoniker gefunden: den Florettfechter Andris Nelsons.

Vertretbare Einzelfälle

25.04.2015. Der Theaterkampf ist beigelegt: Bei seiner Vorstellung in Berlin erobert Chris Dercon die Herzen seiner Gegner mit Charme und Konzept. Wie recht Dana Buchzik mit ihrer Kritik am Sexismus im Literaturbetrieb hatte, beweist die Reaktion, die sie hervorrief, schreibt sie in der taz. Die Kunstform Album lebt, freut sich die Spex angesichts neuer Veröffentlichungen von Faith No More und Blur. Die SZ ekelt sich vor dem Raumhunger der Internetgiganten. Und die FAZ staunt im Nachbau der Chauvet-Höhle über die hochentwickelte Kunstfertigkeit des frühen Homo Sapiens.

Meine Seele lebt nicht in meinem Kopf

24.04.2015. Großes Bohei um die Berufung Chris Dercons an die Volksbühne: Tagesspiegel und SZ hätten das gern mit Tim Renner vorher ausdiskutiert. Die Berliner Zeitung freut sich schon mal auf einen ganz neuen Stil. Im Tagesspiegel meint Peter Raue: Schön, dass man nach 25 Jahren Castorf jetzt auch mal was anderes wagen will. In Standard und Presse erklärt Tracy Emin, was sie mit Egon Schiele verbindet. Die Jungle World feiert Ana Lily Amirpours iranischen Vampirwestern "A Girl Walks Home Alone at Night". Critic.de berichtet vom 35mm-Filmfestival "Terza Visione". Die SZ fordert mit den Seaford Slobs: Beschimpft die herrschende Klasse.

Die Masken unserer Hoffnung

23.04.2015. Nun also doch: Chris Dercon kommt an die Volksbühne, meldet der Tagesspiegel und prophezeit: Der Berliner Theaterkampf beginnt jetzt erst richtig. Ebenfalls im Tagesspiegel macht der 73-jährige Jürgen Flimm das ganz große Fass auf und bescheinigt dem Neuen schon mal, doch nur alte, angejahrte Moderne unters Volk bringen zu wollen. Die taz immerhin freut sich auf Abwechslung. Die nachtkritik bewundert das Faust-Event von Wilson/Grönemeyer am BE. Vielleicht wird die deutsche Literatur besser, wenn sie nicht mehr subventioniert wird, überlegt der Freitag. Der Standard porträtiert den ukrainischen Filmregisseur Sergej Loznitsa.

Von der globalen Sehnsucht, jung sein zu dürfen

22.04.2015. Die NZZ geht vor dem Chor der Komischen Oper in die Knie, der mit ekstatischer Wucht Schönbergs dodekafone Gesangslinien in "Moses und Aron" bewältigt. Die taz sah Romeo und Julia in der Ukraine. Die Berliner Zeitung hüpft zur magischen Peitsche Blurs. Die FAZ lässt sich noch mal vom Terrororchester Günther Ueckers provozieren. Und Georg Seeßlen macht seinen Frieden mit der mechanischen Hand.

Dunkel gerahmte Tristesse

21.04.2015. Die neuen Folgen von Mad Men, Game of Thrones oder House of Cards? Nicht hier! Jetzt gehts den Umgehern von Geoblockaden an den Kragen, meldet Heise. Seit wann ist die Volksbühne ein heiliger Tempel der Hochkultur, fragt die SZ genervt vom Berliner Theaterkrieg. Außerdem hätte sie gern mal ein Schwimmbad oder eine Bibliothek im Bahnhof, nicht immer nur noch eine Filiale von H&M. Die Berliner Zeitung lässt sich von Michael Beutlers Moby Dick verschlucken.

Glaube an die Kraft junger Kunst

20.04.2015. Liebe, Begehren, Erfüllung ohne Furcht vor Verlust, magnetische Körper - alles da in Sasha Waltz' "Romeo und Julia"-Choreografie, jubeln die Theaterkritiker. Eher ins Frösteln kommt der Standard in Barbara Freys Inszenierung des Labiche-Schwanks "Die Affäre Rue de Lourcine". Die Dokumentationswut deutscher Stadtplaner könnte manchem Einwohner von Aleppo noch das Dach über dem Kopf retten, meldet die Welt. Die taz hörte mit wenig Gewinn deutsche Schriftsteller über die Welt grübeln.

Die Welt als Paradies

18.04.2015. Zeit online porträtiert die Lyrikerin Mara Genschel, die Poesie als Störfall begreift. Der Tagesspiegel berichtet von der großen Sebastião-Salgado-Schau in Berlin. Die Berliner Zeitung widmet sich dem Thema deutsche Schuld und "Der Kommissar". Auch für Grass war die Welt nur ein old boys club, bemerkt Marlene Streeruwitz in der taz. Die taz feiert den Record Store Day. NZZ und SZ besuchen die Mailänder Möbelmesse

Geld ebnet den Weg zu den Göttern

17.04.2015. Regisseur Clemens Bechtel schickt der Nachtkritik einen Brief vom Theaterfestival "Buja Sans Tabou" in Burundi. Die Indie-Labels mögen zu Recht protestieren, aber am Ende siegt bei den Öffentlich-Rechtlichen immer der Mainstream, fürchtet der Freitag. Die Filmkritiker lernen eine Menge über griechische Befindlichkeiten in Syllas Tzoumerkas' Film "A Blast". Und: Mit Louis Vuitton ins Jenseits. Die Welt steht staunend in Dresden vor chinesischen Brandopfern aus Papier.

Brutalistisch inspiriert

16.04.2015. Die Welt fragt gerade noch: Warum gibt es nach Grass nur noch Biedermeier-Intellektuelle in Deutschland? Da lässt der Maler Markus Lüpertz in der Zeit schon die Muskeln spielen: "Es ist doch nur Mist aus dem Osten herübergekommen." Die NZZ singt dafür ein Lob der Ostmoderne. Ebenfalls in der Zeit erzählt Martin Walser, warum er Grass nur betrunken ertrug. Wolkenkratzer werden zum Nadelöhr des sozialen Aufstiegs, meldet der Freitag. Die SZ staunt über die Frauen Leonardo Da Vincis.

Unbestreitbarer Gegenwartswahn

15.04.2015. Im Freitext-Blog fragt sich Nora Bossong, ob es wirklich besser ist, als braves Zirkuspferd in der Arena zu traben statt wie Günter Grass die Hufe zum Keilen zu nutzen. Der Ensemble-Gedanke lebt, auch an jüngeren Bühnen, ruft der Tagesspiegel Claus Peymann zu. Die NZZ lernt von der kolumbianischen Künstlerin Doris Salcedo, wie man das Grauen sichtbar macht. Die taz porträtiert den amerikanischen Filmkritiker und Videoessayisten Kevin B. Lee.

Ein Findlingsblock

14.04.2015. Günter Grass ist tot. Die Feuilletons haben ihn noch nicht bewältigt. Den freiesten Blick hat der Guardian. Die FAZ verabschiedet ihn ziemlich kaltschnäuzig, die SZ bringt eine Menge Stoff, die taz bekennt: "Irgendwo ist auch eine Dankbarkeit dafür da, dass man nicht in seiner Haut stecken musste." Eine leidenschaftliche Verteidigung bringt ausgerechnet Springers Welt. Und Salman Rushdie rauft sich die Haare über das Verhältnis deutscher Journalisten zu ihrem Nationaldichter.

In den Berg hineinschauen

13.04.2015. Kunst ist zur Legitimationsideologie für die Ökonomie geworden, lernt der Standard. In Russland besteht kritische Kunst heute im Organisieren sozialer Prozesse, lernt der Tagesspiegel. Kunstvermittlung ist heute oft Kunstverharmlosung, kritisiert die Zeit. Im Standard erweist sich Péter Esterházy als großer Freund der - gern auch falschen - Fußnote, denn: Jeder Text baut auf einen anderen auf, erklärt er. Es kommt eben drauf an, die alten Wortschichten miteinander ins Glimmen zu bringen, meinte einst Thomas Kling. Und die Theaterkritiker? Saßen am Wochenende zumeist in Armin Petras' Münchner Uraufführung seines Stücks "Buch (5 Ingredientes de la Vida)".

Die Nachbarzelle der Realität

11.04.2015. Auch in Griechenland, weiß Marlene Streeruwitz, kommt es vor allem auf das Oben und das Unten an. Welt und Standard rufen dazu auf, wieder Lateinamerikaner zu lesen, vor allem César Aira. Der Standard vermisst außerdem Michael Glowgger. Die NZZ entdeckt in Genf Luigi Cherubini als ganz unverstaubten Komponisten. Die FAZ beobachtet Chinas neues Interesse an der westlichen Oper. Und die Huffpo.fr erinnert anlässlich der kommenden Le Corbusier-Schau im Centre Pompidou an das faschistische Engagement des Architekten.

Gegenwartsekel

10.04.2015. Zeit online warnt vor Kunst, die unmittelbare Wirkung haben will: da lauert schon der Terrorismus. Der Begriff "lateinamerikanische Architektur" macht der SZ Kopfschmerzen. Die Welt zeigt auf Claus Peymann und fordert: Schmeißt den feisten Revolutionsopa raus. Die FAZ empfiehlt David Schalkos österreichische Serie "Altes Geld". In der taz fordern Laibach ein repolitisiertes Europa.

Berühre mich!

09.04.2015. In der Zeit beschimpft Claus Peymann Berlins Kulturstaatssekretär Tim Renner als "leeres, nettes weißes Hemd". In der Berliner Zeitung findet der Filmemacher Volker Heise diesen Hochmut schwer zu ertragen. Die NZZ versinkt in Paris in den schwülen Träumen des Barockzeitalters. Und Oliver Hirschbiegels Film über den Hitler-Attentäter Georg Elser spaltet die Kritik.

Schön arrangierte Tableaus

08.04.2015. Die Atmosphäre bleibt kalt: Weder Andrea Breths "Macbeth"-Inszenierung in Amsterdam noch Antú Romero Nunes' Inszenierung von Tolstois "Die Macht der Finsternis" in Wien konnten die Theaterkritiker begeistern. Die Welt hört schwarzen Himmelslärm aus Brooklyn. Filmregisseur Francois Ozon erklärt im Standard, warum jede Liebe ein wenig nekrophil ist.

Sackgasse der Verfeinerung

07.04.2015. In der FAZ schreibt Amir Hassan Cheheltan über Leben und Sterben der Schriftsteller im Iran. In der SZ erklärt Clemens J. Setz seine Leidenschaft für gräu. Die Schirn sitzt durchgeknallten Christusgurus auf, ärgert sich die taz. Weltkunst erklärt, was unter Post-Internet-Art zu verstehen ist. Und alle denken an Billie Holiday, die vor 100 Jahren geboren wurde.

Maikäferhaft summend und brüllend

04.04.2015. Der Tagesspiegel fürchtet immer mehr nivellierende Projektkultur in Berlin - vor allem, wenn Chris Dercon die Volksbühne übernimmt. In der Welt ärgert sich Leander Haußmann über die Rostocker Politiker, die ihr Vier-Sparten-Haus schleifen wollen. In der FAZ schreibt Orhan Pamuk einen Liebesbrief an die Kunst Anselm Kiefers. Die Welt sieht den Blutstrahl der Gnade auf Lucas Cranach landen. Und: Alle trauern um Manoel de Oliveira, der mit 106 Jahren als dienstältester Regisseur der Welt gestorben ist.

Alles ist Spektakel

02.04.2015. Jochen Werner schildert von seinem Feldbett aus 30 Stunden Musikperformance "The Long Now" bei der MaerzMusik. Die New York Times porträtiert den algerischen Autor Kamel Daoud. Der Freitag beschreibt die Welt der Audiodeskription. Die SZ gibt einen Ausblick aufs Cranach-Jahr 2015. Oh, und Claus Peymann fordert den Rücktritt von Berlins Kulturstaatssekretär Tim Renner: der wolle die Volksbühne verhunzen.

Quantitativ Überwältigendes

01.04.2015. Der Standard versinkt in den Pixelfluten von Pipilotti Rists Donau. In der Zeit erklärt Wim Wenders die Risiken der 3-D-Technik. Die Berliner Zeitung wünscht sich die Volksbühne nach Frank Castorf als Dauerprobenraum. Die NZZ bestaunt das ganz große Seelentheater Alexander McQueens im Londoner Victoria and Albert Museum. Der Guardian grübelt über Tidal, den neuen Streamingdienst für mittelalte Multimillionäre.