Efeu - Die Kulturrundschau

Ein Portal zur universellen Wahrheit

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28.05.2018. Die FAZ nimmt mit Lauryn Youden ein Klangbad. Die SZ spekuliert, ob Harvey Weinstein der Elia Kazan der #MeToo-Zeit werden wird. Der Tagesspiegel erkundet, wie männliche Autoren ihren Missbrauch literarisch aufarbeiten. Die taz lernt im Luxemburger Pavillon der Architekturbiennale, wem der Boden gehörtSZ und FAZ berichten zudem, dass Russlands Reaktionäre jetzt sogar die Bilder von Ilja Repin stürmen. 
9punkt - Die Debattenrundschau vom 28.05.2018 finden Sie hier

Kunst

FAZ-Kritiker Niklas Maak erkennt grob zwei große Richtungen in der Kunstwelt, die bekanntermaßen nicht mehr kritisch, politisch oder aufklärerisch sein will. Schlimmer als die Fraktion, die Kunst als "Luxury Accessoires" zusammen mit dem Porsche kauft, findet er allerdings die neuen Heiler wie die Klangbäder der Kanadierin Lauryn Youden, bei denen praktischerweise Markteroberung und Sinnstiftung, Entspannung und Selbststählung zugleich stattfinden: "Die Form des Yoga, die Teile der Kunstwelt nicht nur erreicht hat, sondern komplett überwölbt, geht aber deutlich weiter in Richtung einer elaborierten Form von Mystizismus: Spiritualität sei ein Tabu in der Kunstwelt, aber das ändere sich gerade, erklärt Kaczor: 'Kunst ist für mich Schönheit und, wie Yoga, ein Portal zur universellen Wahrheit.' Der Yogakünstler im dreifach verknoteten Schneidersitz wird zum Druiden, der seinen Körper vor den erstaunten Augen schwitzender Mercedes-Manager und Sammlungsberater in Richtung Weltwahrheit biegt."

Ilja Repin: "Iwan der Schreckliche und sein Sohn Iwan", 1870-1873. Tretjakow Galerie


Der reaktionäre Bildersturm macht in Russland nicht einmal Halt vor den Großmeistern, berichtet Julian Hans in der SZ: Ilja Repins Gemälde "Iwan der Schreckliche und sein Sohn Iwan" wurde schwer beschädigt. Das Gemälde zeigt, wie der Zar seinen Sohn ermordet. "Bei einer ersten Befragung durch die Polizei erklärte der mutmaßliche Täter, die Darstellung entspreche 'nicht den historischen Fakten'." Friedrich Schmidt verweist in der FAZ auf die Vorläufer des Geschehens: "Im Jahr 2013 forderten Nationalisten einer Gruppe namens 'Heilige Rus' mit gleichgesinnten Historikern den Kulturminister, Wladimir Medinskij, und die Tretjakow-Galerie auf, Repins Gemälde abzuhängen, da es die 'patriotischen Gefühle russischer Menschen' beleidige, die ihren Vorfahren dankbar seien, einen 'großen, mächtigen Staat' geschaffen zu haben."

Besprochen werden eine Inge-Morath-Schau im Verborgenen Museum in Berlin (Tagesspiegel), die Ausstellung "Königsklasse IV" im Schloss Herrenchiemsee (SZ) und die Ausstellung "Das Zeitalter der Kohle" im Essener Zollverein (FAZ).

Archiv: Kunst

Literatur

Vor Christian Kracht haben auch Bodo Kirchhoff und Andreas Maier ihre Erfahrungen mit sexualisierter Gewalt aufgegriffen und literarisch verarbeitet, erinnert Gerrit Bartels im Tagesspiegel: Bei Maier wird "die Literatur ein Möglichkeitsraum; eine durch die Fiktion gepolsterte Schutzzone, die das individuell Unbegreifliche in einen größeren Zusammenhang bringt. ...  Anders als Christian Kracht, der seine Offenbarung und die Heilung quasi in einem Aufwasch erledigt, hat man bei Maier den Eindruck, er versuche noch mittels der Literatur, dem Trauma auf die Spur und so zu etwas wie einer Diagnose zu kommen."

In der SZ spricht der 59-jährige Romandebütant George Saunders über seinen erstaunlichen Werdegang, den er selbst kaum fassen kann. Nach seiner Teenagerzeit tingelte er ein bisschen vor sich hin, "Sumatra war interessant, ich las wie verrückt, aber dann badete ich aus Versehen in einem Fluss voller Affenscheiße und wurde krank. Zu Hause bildete ich mir dann ein, eine Art zweiter Jack Kerouac werden zu können und begann Short Stories zu schreiben. Über Seite drei kam ich aber meistens nicht hinaus. Damals war Raymond Carver ziemlich berühmt, und zufällig las ich, dass er an der Uni in Syracuse, New York, Creative Writing unterrichtete. Also bewarb ich mich."

Weitere Artikel: Für die Zeit porträtiert Katrin Hörnlein die amerikanische Autorin Jacqueline Woodson, die in dieser Woche mit dem Astrid Lindgren Memorial Award ausgezeichnet wird. Für die Zeit spricht Alexander Cammann mit Joke Haverkorn van Rijsewijk über die Missbrauchsvorwürfe, die zuletzt gegenüber Wolfgang Frommel laut wurden. Stefan Schomann berichtet im Tagesspiegel von seiner Reise zum Literaturfestival der Étonnants Voyageurs in Saint-Malo. Von (durchaus positiv gemeinten) "erleuchtenden Enttäuschungen" beim Poesiefestival in Berlin berichtet Anna Gyapias in der Berliner Zeitung. Manuel Müller schreibt in der NZZ darüber, wie zwei Zürcher Bachmann-Juroren den Schweizer Literaturnachwuchs fordern. Annik Hosmann porträtiert in der Zeit die Schweizer Trivialautorin Blanca Imboden. Im Standard freut sich Christoph Winder auf eine Tolkien-Ausstellung in Oxford und ein weiteres Mittelerde-Buch aus dem Nachlass. In der Welt erklärt Denis Scheck, warum ihm bei Vergils "Aeneis" die Tränen kommen.

Besprochen werden Kristine Bilkaus "Eine Liebe, in Gedanken" (taz), Nicolas Mahlers Comicadaption von Elfriede Jelineks "Der fremde!" (Jungle World), Alexander Schimmelbuschs "Hochdeutschland" (Jungle World), Bände aus der von Isabel Kreitz herausgegebenen Reihe "Die Unheimlichen" (Tagesspiegel), Karl Ove Knausgårds "Im Frühling" (online nachgereicht von der FAZ) und neue Kinder- und Jugendbücher, darunter Simone Buchholz' "Johny und die Poemmesbande" (FAZ). Außerdem berichtet Erhard Schütz im Freitag von seinen jüngsten Lektüren, darunter der Band "Robert Walsers Ambivalenzen".

In der Frankfurter Anthologie schreibt Jan Volker Röhnert über Raoul Schrotts "Shak-i-Nabat":

"die zigaretten ein abgegriffenes adreßbuch
streichhölzer und stifte eine schatulle aus getriebenem silber
..."
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Bühne

Schön vulkanisch findet Astrid Kaminski in der taz Constanza Macras' Afrofuturismus-Produktion "Hillbrowfication" mit zwanzig südafrikanischen Jugendlichen am Gorki Theater in Berlin. SZ-Kritikerin Christine Dössel trifft noch einmal den Regisseur Luk Perceval, der Hamburgs Thalia Theater verlässt und künftig mit Milo Rau am Theater von Gent arbeiten wird.

Besprochen werden Milan Peschels Abschiedsvorstellung am Schauspiel Bochum mit Johann Nestroys "Freiheit in Krähwinkel" (Nachtkritik), Dürrenmatts "Besuch der alten Dame" im Wiener Burgtheater (laut Standard-Kritiker Ronald Pohl "mit großem Behagen vom stark vergilbten Blatt" gespielt), Barrie Koskys Inszenierung von Händels "Semele" an der Komischen Oper in Berlin (SZ), Händel-Aufführungen auch in Göttingen und Halle (FAZ) und Nurkan Erpulats Rassisten-Singspiel "Grand Bal Almanya" im Gorki Theater (in dem Doris Meierhenrich nicht mehr erkennen kann als eine "schale Schenkelklopftümelei" (Berliner Zeitung).
Archiv: Bühne

Musik

In der Frankfurter Pop-Anthologie schreibt Holger Schulze über das Stück "Serienmodell" der Rapperin Haiyti, die darin von der Freude singt, "einer Bestellung nachzukommen, erwartbar zu sein, übersichtlich zu sein, bereit zu sein für andere. ... Es ist eine Freude, selbst ein vollständig verfügbares, bestellbares, postwendend geliefertes Konsumprodukt zu sein: Es ist meine und Deine Bestimmung nicht nur Modell, sondern auch noch Serienmodell zu sein! Keine Ironie und gar kein Sarkasmus hier: Weg mit dem verquasten Innerlichkeitsgewimmere! - Her mit dem guten Leben!"


           
Weitere Artikel: Ueli Bernays berichtet in der NZZ gutgelaunt vom Jazzfestival Schaffhausen. Christian Schachinger wirft für den Standard einen Blick zurück ins Musikjahr 1968, als Heintje reüssierte und die Beatles, die Stones und Johnny Cash bahnbrechende Alben aufnahmen.

Besprochen werden Courtney Barnetts "Tell Me How You Really Feel" (Tagesspiegel. Jungle World), Kamasi Washingtons Berliner Konzert (taz), das neue Album "Sparkle Hard" von Stephen Malkmus and the Jicks (Jungle World), das neu GAS-Album "Rausch" (Spex), das neue Album "Fake" von Die Nerven (Freitag), Theresa Waymans Solo-Album "LoveLaws" (FR), ein Konzert des Pianisten Seong-Jin Cho (FR) und ein Schostakowitsch-Abend mit dem Geiger Sebastian Bohrer (NZZ).
Archiv: Musik

Film

Dass Harvey Weinstein bei seiner Verhaftung eine Biografie des Filmemachers Elia Kazan unter dem Arm trug, lässt David Steinitz in der SZ stutzen: Kazan ist schließlich berüchtigt dafür, in der McCarthy-Ära zahlreiche Kollegen ans Messer geliefert zu haben, um sich selbst vor Sanktionen zu bewahren - was ihn später lange Zeit zur Persona Non Grata im Betrieb machte. "Will Weinstein damit andeuten, dass er keinesfalls allein für sexuellen Missbrauch unter den Stars verantwortlich gemacht werden und vor Gericht weitere Namen nennen will, um andere mit nach unten zu reißen?" fragt sich Steinitz. "Manche Kommentatoren in der amerikanischen Unterhaltungsindustrie lasen die Kazan-Biografie als eindeutige Drohung an Hollywood. Oder hat er das Buch dabei gehabt, um zu signalisieren, dass der anstehende Prozess keinesfalls das Ende seiner Karriere bedeuten soll? Für Kazan, den Verstoßenen, gab es einst ein Happy End. 1999 folgte eine Aussöhnung mit der amerikanischen Filmakademie, die ihm einen Ehrenoscar für sein Lebenswerk zusprach."

Besprochen werden Thomas Frickels Dokumentarfilm "Wunder der Wirklichkeit" (SZ) und Stéphane Brizés Verfilmung von Guy de Maupassants "Ein Leben" (Freitag, unsere Kritik hier).
Archiv: Film

Architektur


Architektur des gemeinsamen Besitz: Luxemburger Pavillon auf der Biennale Foto: LUCA Luxembourg Center for Architecture / Alberto Sinigaglia, OpFot

Für die taz besichtigt Renata Stih die Ende voriger Woche eröffnete Architekturbiennale von Venedig (siehe das Efeu vom Samstag. Besonders interessant findet sie den Luxemburger Pavillon von Florian Hertweck und Andrea Rumpf, der fragt, wem der Boden gehöre: "Welche Formen von Renitenz und Aktivismus müssen wir Bürger*innen entwickeln? - Das wird die zentrale Frage der kommenden Jahre. Denn Geld, nicht Sozialpolitik regiert die Welt, und Geld entwendet Raum in den Städten, münzt öffentliche, bürgerliche Freiräume in private Zweckräume für Wenige um. In Luxemburg etwa sind nur 8 Prozent des Bodens in öffentlicher Hand. Für die herausragende Umsetzung des Themas hätten Hertweck und Rumpf mindestens einen besonderen Preis verdient." Doch der Goldene Löwe ging an den Schweizer Pavillon, der Christian Thomas in der FR nicht überzeugt: "Die unmöblierte Leere ist eher ein V-Effekt zum Schmunzeln. Gemessen an dem Biennale-Motto 'Freespace' ist es eine nette Idee. Die inszenierte Innenwelt hat es nicht wirklich in sich. Alles bloß ulkig, darauf läuft es hinaus. Frohgemut geht man rein, fidel geht man raus, wie aufgeräumt."
Archiv: Architektur