Magazinrundschau

Die Magazinrundschau

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag ab 10 Uhr.
20.09.2005. In der New York Review of Books erklärt Peter Galbraith die irakische Verfassung zur letzten Chance für Frieden. Im Espresso erzählt Andrzej Stasiuk von seinem Urlaub in Budva. Der Spectator erklärt die UNO für hoffnungslos korrupt. Für schwedische Reformen sind die Deutschen zu ungehorsam, glaubt die Gazeta Wyborcza. Nepszabadsag singt ein Loblied auf deutsche Politiker. Karl Schlögel reist für Le Monde diplomatique durch den Archipel Europa. In Le Point setzt sich Alain Finkielkraut mit Hannah Arendt auseinander. Der Figaro bespricht ein Schwarzbuch der Psychoanalyse. In der Weltwoche freut sich Martin Walser über ein Dutzend Professoren, die ihm bescheinigen, kein Antisemit zu sein. Das New York Times Magazine porträtiert die NGO Bono.

New York Review of Books (USA), 06.10.2005

Der frühere US-Diplomat Peter W. Galbraith hofft angesichts der politischen Fliehkräfte im Irak, dass die Verfassung von allen Bevölkerungsgruppen angenommen wird: "Einige liberal und säkular ausgerichtete Schiiten sprechen bereits von einem schiitischen Nationalismus - als wären sie eine ethnische und nicht eine religiöse Gemeinschaft. Sie sehen den Irak als einen zusammengebrochenen Staat und wollen nicht ihr Leben damit verbringen, einen endlosen Aufstand in der Mitte des Landes zu bekämpfen. Wenn die aktuelle Verfassung abgelehnt wird, wird es keine andere geben. Und eine weitere Regierung mit einem Einjahresmandat wird nicht in der Lage sein, Iraks politische, wirtschaftliche und sicherheitsrelevante Probleme anzugehen. Bei all ihren Fehlern ist die Verfassung die letzte Chance, den Irak zusammenhalten. Die Alternative ist nicht ein zentralisierterer Staat, sondern Desintegration und Chaos."

Weitere Artikel: Die Autorin Alma Guillermoprieto zeichnet ein Porträt von Venezuelas autoritärem Präsidenten Hugo Chavez, der das Land wie eine Reality Show führt: "Selbst nach einem Besuch von nur zwei Wochen beginnt man, in Venezuela an Klaustrophobie zu leiden, als würden alle Menschen dort in Chavez' Kopf leben, wobei einige ein pfeifendes Geräusch erzeugen beim Versuch, rauszukommen." Pankaj Mishra ist gar nicht begeistert von Salman Rushdies Kashmir-Roman "Shalimar the Clown", in dem Rushdie wieder und wieder Szenen von Massakern, Folterungen, Selbstmordattentaten und Köpfungen vorführe: "Tatsächlich erklärt uns das nicht viel. Für einen politisch engagierten Autor bleibt Rushdie erstaunlich indifferent gegenüber den spezifisch politischen Prozessen."

William L. Taylor sieht sich den Lebenslauf des von George Bush als Oberster Richter nominierten John Roberts an und erkennt darin eigentlich nur einen juristischen Schwerpunkt: die Feindseligkeit gegenüber Bürgerrechten. George Friedman, Chef des geostrategischen Erkundungsunternehmens Stratfor, schildert die geopolitischen und ökonomischen Auswirkungen des Hurrikan Katrina, denn New Orleans war auch Dreh- und Angelpunkt der über den Mississippi führenden Binnenschiffahrt. Darryl Pinckney erklärt sich den Rassismus, den er bei der schleppenden Hilfe für die Opfer des Hurrikans wirken sah, so: "In den USA können Weiße von Schwarzen als besser oder schlechter, als höher oder niedriger denken, aber einfach nicht als gleich."

Elet es Irodalom (Ungarn), 19.09.2005

Der Essayist György Petöcz zieht eine Zwischenbilanz des Versuchs von Budapester Intellektuellen, das historische jüdische Viertel zu retten. In der Stadtplanung soll nämlich eine Reihe historischer Mietshäuser einer neuen Allee weichen: "Hier, im Zentrum der Elisabethstadt entstand das 'echte' Budapest, die Welt des modernen, kosmopolitischen Gewimmels und der Begegnungen, der Geburtsort des Pester Kleinhändlers, der literarischen Kaffeehäuser und Kabaretts, die Heimat vieler Theater und Redaktionen, die Mischung aus bürgerlichem Reichtum und kleinbürgerlicher Armut, aus Groß- und Kleinstädtischem und sogar des sich in die kreisförmigen Höfe zurückziehenden Provinziellen, ein bezauberndes Sammelsurium des Westens und des Balkans."

Espresso (Italien), 22.09.2005

Andrzej Stasiuk macht Urlaub in Montenegro, im chaotischen Budva, das für ihn die Moderne in Reinform darstellt . "Der Sommerurlaub in Budva gleicht einem Karneval in der Hölle. Vor allem abends, wenn die Strandpromenade anfängt, von einer tödlichen mechanischen Musik erschüttert zu werden. In Dutzenden Buden werden Würstchen, Spieße und Cevapcici gebraten. Der Rauch von Holzfeuern liegt in der Luft. Es ist das Fest eines armen Volkes, das bis vor kurzem Fleisch nur an wenigen Tagen im Jahr gegessen hat, es ist ein Fest des Überflusses, eine sommerliche Kirmes. Zwischen einigen Ständen sind Autos abgestellt, vor denen irgendwelche sonnenbebrillte Typen stehen: BMWs und Mercedesse, die längsten und größten Modelle, je weiter die Karossen in den Menschenstrom hineinragen, desto unverschämter wird man von den Bewachern zur Seite geschoben."

Leo Sisti stimmt in der Titelgeschichte ein Requiem für Neapel an. Die Bevölkerung verarmt, die Camorra floriert und Tausende von desillusionierten Jugendlichen terrorisieren Mitbürger, Touristen und sich selbst. "Der letzte Schrei im August ist der Sprung vom Tragflächenboot. Ziel der 13- bis 14-Jährigen sind die Schiffe, die von Mergelina nach Ischia und Capri ablegen. Wenn das Schiff anlegt, werfen sie sich von einem Podest ins Wasser, was das Boot zu gefährlichen Manövern zwingt. Und mehr. Einige laufen wie verrückt über das Oberdeck, um sich gleich darauf von dort oben ins Meer zu stürzen: sieben, acht Meter Adrenalin."

Im Kulturteil entdeckt Cesare Balbo auf dem Festival von Toronto Martin Scorseses Filmporträt über Bob Dylan.
Archiv: Espresso

Le Monde diplomatique (Deutschland / Frankreich), 16.09.2005

In einem wunderschönen Text reist der Osteuropa-Historiker Karl Schlögel durch den Archipel Europa, der sich nicht aus Staaten und ihren Hauptstädten zusammensetzt, sondern aus Inseln alltäglicher Erfahrungen. Zu ihnen zählt Schlögel zum Beispiel die Warteschleife über Heathrow, die Tankstellen an der Autobahn, Kanak Sprak, die Schwimmer im Budapester Thermalbad Gellert, das Ikea an der Leningrader Chaussee, die Wanderdünen aus Plastikmüll und den Hafen von Rotterdam: "Alle großen europäischen Verkehrslinien führen nach Rotterdam, von Rotterdam führen die Wege nach ganz Europa, vor allem den Rhein hinauf: Ruhrgebiet, Köln, Frankfurt, Straßburg, Basel, Lyon, Marseille, Barcelona, Mailand. Rotterdam ist der Endpunkt der 'blauen Banane', jener Hochenergie- und Hochleistungszone, die zu einer der Hauptachsen Europas geworden ist ... Käme die Rotterdamer Bewegung zum Stillstand, würde der Mund und die Mündung Europas für einen Augenblick auch nur geschlossen, der ganze Kontinent würde sich in Konvulsionen winden, die Bewegung auf den Autobahnen käme zum Stillstand, die Anzeigentafeln in den Börsensälen würden verrückt spielen. In Rotterdam wird das Tempo Europas gemacht. In Rotterdam beginnt jedes Stückgut seine Reise nach Europa."

Hussam Tamman zeichnet nach, wie die Kräfte der ägyptischen Muslimbrüder schwinden. "Zu den Versammlungen kommen immer weniger Aktivisten, die Rekrutierung neuer Anhänger stagniert, das Durchschnittsalter der Mitglieder steigt, und die Disziplin lässt zu wünschen übrig."

Weiteres: Ein Schwerpunkt ist der UNO gewidmet: Samantha Powers, Direktorin des Carr Centers for Human Rights Policy an der Harvard Universität, nimmt die Organisation zwar gegen ihre Kritiker in Schutz, sieht aber nach dem annus horibilis 2003 erheblichen Reformbedarf und -möglichkeiten; Andreas Zumach erklärt, woran die UNO-Reform scheiterte. Mathias Greffrath hofft, dass die europäische Linke ihre Spaltung überwinden wird und mit neuer Kraft das "WTO-IWF-Washington-Konsens-System gründlich revidieren" wird. Andrea Böhm betrachtet das durch Katrina zerschundene Selbstbild der USA. Weitere Artikel befassen sich mit Chinas neuer diplomatischer Charmeoffensive.

London Review of Books (UK), 22.09.2005

T. J. Clark, Professor für Kunstgeschichte in Berkeley, sieht in Malcolm Bulls Renaissance-Studie "The Mirror of the Gods: Classical Mythology in Renaissance Art", in der die Renaissance als regelrechte kulturelle Revolution inszeniert wird, ein wunderbar ketzerisches Werk. Für Bull vollziehe sich im verschobenen Verhältnis der Kunst zur Wahrheit - mit dem Aufkommen der "Idee einer brillanten Nicht-Wahrheit" - eine kopernikanische Wende in Kunst und Gesellschaft: "Fantasia, favola, poesia: Diese Begriffe, die in der Sprache der Kunstbeurteilung im 16. Jahrhundert allmählich Verbreitung finden, weisen auf ein im Wesen neues Territorium hin. (...) 'Die antike Welt und die christliche Zivilisation, die aus ihr hervorging, arbeiteten stark mit der Annahme, dass alle kulturellen Produkte wahr seien - und wenn nicht buchstäblich, dann auf irgendeiner anderen Ebene', schreibt Bull. Nun nicht mehr. Unmöglichkeiten, Lügengeschichten, überdehnte Fantasien, Bilder, an deren Gehalt niemand glaubte: All das wurde allmählich zu einer ganzen, für das gebildete Leben grundlegenden Kultur."

Weitere Artikel: Jacqueline Rose begegnet in Michael Cunnighams jüngstem Erzählband "Specimen Days" der vereinnahmenden Stimme von Walt Whitman und mit ihr der beunruhigenden Frage, "was es bedeutet in den Geist oder den Körper eines anderen einzudringen". David Runciman blickt auf einen grandiosen Cricket-Sommer zurück und versucht zu ergründen, was das Aufeinandertreffen der Supermächte England und Australien so besonders machte. In Short Cuts porträtiert Thomas Jones den beinharten BBC-Radiojournalisten John Humphrys, der sogar Tony Blair das rhetorische Handwerk legen konnte. Und schließlich wandelt James Davidson durch eine sehr persische Persien-Ausstellung im British Museum ("Forgotten Empire").

Spectator (UK), 17.09.2005

Die UN ist so korrupt, dass eine Reform zwecklos ist, konstatiert Mark Steyn. "Mr Annans marode UN aus humanitären Geldwäschern, Peacekeeper-Vergewaltigern und einer Menschenrechtsorganisation, die anmutet wie eine Preisverleihungsstelle für das Lebenswerk der Folterer dieser Welt ist keine vorübergehende Fehlentwicklung. Sie kann auch nicht durch bürokratische Reformen korrigiert werden, die darauf abzielen, dass das gescheiterte Haushalts-Kontrollkomitee künftig von einem Haushalts-Kontrollkomitee-Kontrollkomitee überwacht wird."

Rod Liddle wettert gegen die Watte, in die islamistische Brandprediger seiner Meinung nach in Großbritannien gepackt werden. "Mein Punkt ist, dass diese Leute eigentlich unter der allgemeinen Rubrik 'Verrückte' laufen, manchmal auch unter 'Psychos', 'Irre', 'Bekloppte' etc. Aber in Großbritannien kann man an so ein paranoides, irrationales Gewäsch glauben und nicht nur toleriert und als 'jenseits von gut und böse' bezeichnet werden, sondern man wird auch noch höchstpersönlich zum Premierminister eingeladen, um seine Dummheit dort auszubreiten. Weil man Muslim ist und diese Art zersetzender Paranoia mehr oder weniger von einem erwartet wird."
Archiv: Spectator
Stichwörter: Folter, Geldwäsche, Paranoia

New Yorker (USA), 26.09.2005

In einem persönlichen und historisch ausholenden Brief aus Mississippi beschreibt Peter B. Boyer, wie sich dieser Teil eines schon immer "abweichenden" Südens nach der Katastrophe neu erfinden muss. "Neben der Mondschein-und-Magnolien-Kulisse der Küste war es ein widerspenstiger Geist, der sowohl die heterogene Bevölkerung als auch einen fieberhaften Ehrgeiz widerspiegelte, der gelegentlich Kurzzeittouristen anzog. Aufgrund ihres geografischen Schicksals hatte die Küste ihre eigene Soziologie, die nicht an das feudale Gefüge gebunden war, das den überwiegenden Rest von Mississippi in seiner melancholischen Vergangenheit einschloss."

Nicolas Lemann kommentiert die staatlichen Wiederaufbaupläne für die Krisenregion und beschreibt den in der Geschichte schon immer konfliktreichen Umgang des Nordens mit dem Süden. Paul Rudnik erzählt in einer Glosse mit dem Titel "Intelligent Design" eine eigene Version der Schöpfungsgeschichte. Lauren Collins beschreibt ein Treffen mit dem Fotografen William Egglestone. Zu lesen ist außerdem die Erzählung "The Kidney-Shaped Stone That Moves Every Day" von Haruki Murakami.

Louis Menand porträtiert anhand von Büchern und Schriften die "seltsame" Beziehung von Jean-Paul Sartre und Simone de Beauvoir. Die Kurzbesprechungen widmen sich unter anderem dem neuen Buch ("Bait and Switch") von Barbara Ehrenreich; nach einem Ausflug in die Welt der Niedriglohnjobs ("Arbeit poor") bemühte sich Ehrenreich diesmal inkognito um einen White-collar-Job. Alex Ross stellt neue Einspielungen von Wagner bis Golijov vor. Nancy Franklin kommentiert die amerikanische Fernsehberichterstattung über die Hurrikan-Katastrophe. Und David Denby sah im Kino Andrew Niccols Film über einen internationalen Waffenhändler "Lord of War" mit Nicolas Cage und das Teenagerdrama "Thumbsucker" von Mike Mills.

Nur in der Printausgabe: ein Bericht über die chinesische Autoproduktion, die den amerikanischen Markt im Visier hat, ein Porträt des Modeschöpfers Valentino, ein Artikel über einen nicht näher genannten "Mogul", der das Nachtleben von Los Angeles aufmischen will, und Lyrik von Yusef Komunyakaa, Meghan O?Rourke, Martin Espada und Lorenzo Mattotti.
Archiv: New Yorker

Gazeta Wyborcza (Polen), 17.09.2005

Eigentlich ist es egal, wie die Wahlen in Deutschland ausgehen, denn "das Problem sind die Menschen", findet die Publizistin Danuta Zagrodzka. "Die Wirtschaft ist nicht das Hauptproblem - ihr geht es relativ gut. Das Problem ist die Gesellschaft, die alle Schuld auf den Kanzler abwälzt. Er hat mit seiner inkonsequenten Politik dazu beigetragen, dass die Deutschen nicht begriffen haben, was die Zeiten von ihnen verlangen". Auch das oft zitierte schwedische Beispiel wird Deutschland bei seinen Reformen wenig hilfreich sein, meint Zagrodzka. "Die Deutschen sind nicht so gehorsam wie die Schweden, es wird kaum zum Durchbruch kommen".

Abgedruckt werden Auszüge des Buchs "Familienbande. Die Politisierung Europas" des Zeit-Redakteurs Gunter Hofmann. Er plädiert dafür, Polen als wichtigen Partner in Europa ernst zu nehmen und in das Projekt der Normalisierung und Europäisierung Deutschlands einzubinden. Allerdings: "In Deutschland hat man Polen noch nicht entdeckt, nicht als gleichberechtigt anerkannt. Erst wenn diese Asymmetrie endet, wird man davon sprechen können, dass die deutsch-polnischen Beziehungen so weit sind wie die deutsch-französischen."
Archiv: Gazeta Wyborcza

Plus - Minus (Polen), 17.09.2005

Das Magazin der Tageszeitung Rzeczpospolita erinnert an den Jahrestag des sowjetischen Überfalls auf Polen am 17. September 1939. Der Historiker Pawel Wieczorkiewicz schreibt dazu: "Hätte man in Warschau vom deutsch-sowjetischen Abkommen gewusst, hätte man gleich kapituliert. Ein Krieg hätte dann keinen Sinn gemacht". Er erinnert auch daran, dass bis März 1939 Polen vom Dritten Reich als potenzieller Verbündeter angesehen wurde, und erst die Allianz mit Großbritannien diese untergraben hat. "Die Briten und Franzosen wussten vom Hitler-Stalin-Pakt und haben Polen mutwillig ins offene Messer laufen lassen, um mehr Zeit für die eigenen Kriegsvorbereitungen zu gewinnen."

Was macht einen durchschnittlichen Literaten zu solch einem Star, fragt Grzegorz Dobiecki und meint damit den französischen Schriftsteller Michel Houellebecq, der mit seinem letzten Buch "Die Möglichkeit einer Insel" für Schlagzeilen sorgte. "Das Buch erinnert an die vorherigen Romane Houellebecqs und bringt eigentlich nichts Neues ein. Wieder geht es um die Kritik der modernen Konsumgesellschaft und wieder bedient sich der Autor einer provokativen Sprache. Er will kein Denker sein, sondern ein Romancier, ein Narrator, eine Art Candide, nur sehr pessimistisch."
Archiv: Plus - Minus

Nepszabadsag (Ungarn), 17.09.2005

In Deutschland ist der Wahlkampf zu Ende. In Ungarn beginnt er demnächst. Die ungarische EU-Abgeordnete Katalin Levai ist der Meinung, dass sich die ungarischen Politiker die deutsche politische Kultur zum Vorbild nehmen sollen: "Als ungarische Staatsbürgerin kränkt mich die Prahlerei und Inkompetenz, die viele Politiker bei uns an den Tag legen. Als geistig Arbeitende ärgert mich die intellektuelle Trägheit unserer Politiker, die Niveaulosigkeit politischer Debatten und dass die Presse ihnen zur Hand geht. Als sozialpolitische Expertin erzürnt mich die Ahnungslosigkeit maßlos, mit der bei uns gesellschaftspolitische Fragen und die Chancengleichheit behandelt werden. Als Europapolitikerin verdrießt mich die Beschränktheit von Sichtweisen, die das öffentliche Leben prägt. Als Frau entrüstet mich die sexistische Sprache, die in der Öffentlichkeit immer noch ganz selbstverständlich verwendet wird. Als lernbegieriger Menschen bekümmert mich die Sturheit, mit der sich die ungarische politische Elite neuen Werten und Umgangskulturen widersetzt und sperrt. Traurig, dass es uns an Politikern wie Schröder und Merkel mangelt."

Der renommierte Soziologe Elemer Hankiss ist der Ansicht, dass Ungarn, wo die Armut einiger Schichten immer noch ein großes Problem darstellt, den Westeuropäern trotzdem beispielhaft zeigen soll, dass es dringend nötig ist, der Dritten Welt mehr zu spenden: "Warum sollte dieses kleine, arme osteuropäische Land den großen, reichen, auf ihr Europäertum stolzen Ländern gegenüber nicht endlich vorbildhaft handeln? Warum sollte Ungarn nicht demonstrieren, dass wir nicht nur für uns, sondern auch für andere und für eine bessere Welt etwas tun wollen und können? Wir wissen ja vielleicht besser, was das menschliche Leiden bedeutet, als jene, die in einer glücklicheren Lage sind als wir."
Archiv: Nepszabadsag
Stichwörter: Chancengleichheit, Wahlkampf

Point (Frankreich), 15.09.2005

Seit 27 Jahren lehrt Alain Finkielkraut Geschichte des Denkens an der Ecole polytechnique. Nun legt er einen Band mit vier seiner Vorlesungen vor: "Nous autres, modernes" (Editions Ellipses). Zu lesen sind Auszüge aus zwei dieser Vorlesungen, über den "Gebrauch der Welt" und die Frage "Warum die Schule konservativ sein soll", in denen sich Finkielkraut vor allem mit Hannah Arendt auseinandersetzt. "In ihrem ganzen Werk besteht Hannah Arendt immer wieder auf der Verbindung zwischen Neugeschaffenem und Erhaltung der Welt. Die Schule, soweit sie zur Autonomie erzieht, erscheint ihr als das Allerheiligste dieser fragilen Verknüpfung. 'Gerade um das Neue und Revolutionäre in jedem Kind zu erhalten, muss die Schule konservativ sein.' Man wird nicht zur Emanzipation gelangen, wenn man nur dem Lauf der Zeit folgt, sondern nur über den Umweg über die Zeichen des Menschseins, die in den Werken der Kultur zu lesen stehen. In der Schule Ciceros, so sagten bereits die Meister der Renaissance, lernt man nicht, Cicero zu sein, sondern man selbst."

Und in seinen bloc notes schreibt Bernard-Henri Levy noch einmal über Katrina und New Orleans und die klammheimlich Freude über die Schwierigkeiten der Amerikaner bei der Bewältigung der Katastrophe. Dieser Text war am Wochenende auch in der FAS zu lesen.
Archiv: Point

Economist (UK), 16.09.2005

Der Economist verrät, warum die großen Telekommunikations-Firmen angesichts des unaufhaltbaren Aufstiegs der (von eBay unlängst gekauften) Internet-Telefonie-Software Skype in Angstschweiß ausbrechen sollten. "Weil Skype derzeit jeden Tag 150.000 Nutzer hinzugewinnt, ohne irgendetwas für neue technische Ausrüstung (die Nutzer 'bringen' ihre eigenen Computer und Internetzugänge mit) oder für Marketing (die Nutzer laden sich untereinander ein) ausgeben zu müssen. Da keine Nebenkosten entstehen, kann es sich Skype leisten, die Anzahl seiner Nutzer ins Unbegrenzte zu steigern, wohlwissend, dass wenn nur einige von ihnen anfangen, seine gebührenpflichtigen Dienstleistungen - wie SkypeOut, SkypeIn und voicemail - zu nutzen, Skype Geld verdienen wird. Dies ergibt einen sehr ungewöhnlichen Business-Plan: 'Wir wollen so wenig Geld wie möglich am einzelnen Nutzer verdienen', sagt Skype-Gründer Niklas Zennstrom, weil 'wir keinerlei Kosten pro Nutzer haben, aber viele von ihnen wollen.' "

Außerdem zu lesen: Michel Houellebecq kommt dem Economist wie der sprichwörtliche Einäugige unter den Blinden vor. Denn auch die Veröffentlichungs-Schwemme des französischen Bücherherbstes könne nicht über die peinliche Trockenperiode in der zeitgenössischen französischen Literatur hinwegtäuschen. Schließlich: ein freundlicher Nachruf auf Dame Eugenia Charles, die Eiserne Lady der Karibik.
Archiv: Economist

Weltwoche (Schweiz), 15.09.2005

In einem langen Gespräch mit Julian Schütt erklärt Martin Walser (mehr hier), warum Wahlkampf keine Beschäftigung für ihn ist - "Ich will anderen Leuten nicht in ihre Wahlentscheidung reinreden" - und schwärmt von Maybrit Illner ("Die ist toll."). Den Anschuldigungen des Lüneburger Kulturwissenschaftlers Martin N. Lorenz, Walser sei Antisemit, hält er triumphierend eine Studie entgegen, "die sich mit meinem von manchen Medien als antisemitisch eingestuften Buch 'Tod eines Kritikers' beschäftigt. Über ein Dutzend Professoren aus allen möglichen Ländern und Fakultäten, auch Juristen, kommen darin einhellig zum Schluss, dass mein Buch nicht die geringste antisemitische Tendenz habe. Die Studie der mit feinem Besteck operierenden Fachleute wird totgeschwiegen. Nun kommt so ein Skandalstudent aus Lüneburg und hat mit seiner Arbeit ein enormes Echo. (...) Die Anschuldigungen haben nichts mit mir und meinen Büchern zu tun. Schreiben ist schöner als diese Hysterie."
Archiv: Weltwoche

Figaro (Frankreich), 15.09.2005

Die in Frankreich heftig geführte Debatte um die Psychoanalyse, deren Vertreter dort viel größeren intellektuellen Einfluss haben als hierzulande, dürfte nun durch ein "Schwarzbuch" neu angefacht werden. Denn "Le Livre noir de la psychanalyse" zählt ihre Opfer, schreibt Paul Francois Paoli. "Wie viele Tote? Das ist die Frage, die uns bei der Lektüre eines Buchs anspringt, das eine große Debatte verspricht und einen Skandal gleich dazu, ... das aber dennoch enttäuscht. Es gehört schon einiges dazu, einen solchen Titel zu wagen und nach der Anprangerung der Verbrechen des Stalinismus und des Kolonialismus auch die Psychoanalyse als eine Geißel des letzten Jahrhunderts zu betrachten." Auch gerate die Auseinandersetzung mit der Person Freuds doch etwas zweifelhaft. Freud hat "nicht gedacht", war "ahnungslos" und hat die Ideen anderer geklaut, musste Paoli lesen. "Und ein Geschäftemacher war er auch noch. Nachdem er begriffen hatte, dass ihn seine Methode reich und berühmt machen würde, hat er seine Konkurrenten ausgeschlossen, Jung und Adler verfolgt, Ernst Jones und Ferenczi domestiziert. Ein Monster, dieser Freud! (...) Dieses Buch enthält vermutlich einige unbestreitbare Wahrheiten, aber warum diese Übertreibung?"
Archiv: Figaro

Al Ahram Weekly (Ägypten), 15.09.2005

Die neue Ausgabe der Cairo Review of Books ist ganz dem 35. Todestag von Gamal Abdel-Nasser gewidmet, der zwei Jahre nach dem relativ sanften Königssturz von 1952 die Geschicke des Landes übernahm. Mona Anis erinnert sich: "Unsere Generation war auf vielerlei Weise die ägyptische Antwort auf die Generation von Indern, die Salman Rushdie in 'Mitternachtskinder? porträtierte. Sie bestand aus Menschen wie mir, die zu Beginn der zweiten Hälfte des Jahrhunderts zur Welt kamen und ihre Schulzeit umgeben von Nasser-Bildern verbrachten, deren Schulhefte mit Zitaten aus Nassers Reden geschmückt waren und die jeden Tag vor Unterrichtsbeginn 'Nasser, wir lieben dich alle? sangen." Neuerdings, hat Anis festgestellt, liegen die Bücher von damals als Neuauflagen wieder in den Buchläden.

Passend dazu werden drei Nasser-Biografien besprochen, die ihr Subjekt offenbar durchweg mit großem Respekt behandeln. Jean Lacoutures "Gamal Abdel Nasser", Said K. Aburishs "Nasser: the Last Arab" sowie Anne Alexanders "Nasser, His Life and Times".
Archiv: Al Ahram Weekly

Ozon (Polen), 15.09.2005

Das polnische Parlament kann nach den Wahlen am 25. September eine neue politische Lobby erleben: die konservativen Feministinnen - prophezeit Agnieszka Lesiak. "Eine neue Generation von Frauen tritt in die Politik ein. Sie wollen für die wirklichen Bedürfnisse von Frauen kämpfen, ohne sich selbst aufzugeben. Von den traditionellen Feministinnen trennen sie Welten ... Aber auch von ihren Vorgängerinnen bei den Rechten unterscheidet sie viel: sie haben wenig mit der katholischen Kirche am Hut, und sie glauben nicht, dass das Patriarchat das Ideal ist. Sie wollen eine Frauenlobby schaffen, die sich der authentischen und konkreten Probleme von Frauen in der Gesellschaft annimmt."

Ein politisch-philosophisches Interview mit einem Senatskandidaten der national-konservativen Partei "Recht und Gerechtigkeit", dem Philosophie-Professor Ryszard Legutko, führt uns in eine völlig andere Dimension der polnischen Politik. "Das Absolute des modernen Europa ist die Idee der Gleichheit. Trotz seines Pragmatismus' und Relativismus' ist Europa sehr moralistisch. Der Egalitarismus ist eine grundlegende, nicht verhandelbare Idee , auf die die Europäer ihren Menschheitsbegriff stützen. Sie mögen sich über ihre politische Weltanschauung oder die Existenz Gottes streiten, aber als Ur-Idee erkennen sie an, dass alle Menschen gleich sind und noch gleicher werden sollten", meint Legutko.
Archiv: Ozon
Stichwörter: Patriarchat, Relativismus

Foreign Policy (USA), 01.09.2005

William Easterly kritisiert die von Rockstars wie Politikern mit großem Aplomb verkündeten Entschuldungs- und Hilfepläne für die Armen dieser Welt als "utopischen Albtraum". "Das Hauptproblem besteht darin, dass die reichen Leute, die das Geld überweisen, nicht die gleichen Ziele haben wie die armen Menschen, denen sie zu helfen versuchen. Ein subtileres Problem besteht darin, dass wenn alle von uns kollektiv verantwortlich für ein großes weltweites Ziel sind, keine einzelne Institution oder Politiker dafür verantwortlich gemacht werden kann, wenn dieses Ziel nicht erreicht wird. Kollektive Verantwortung für Weltziele funktioniert ungefähr genauso gut wie Kollektive in der Landwirtschaft, und zwar aus denselben Gründen."

China wird im Augenblick heftiger umworben als die Kameliendame seinerzeit. Die Briten versuchen es mit Cricket, die Amerikaner mit Basketball: Der Aufmacher von Foreign Policy ist dem Vorsitzenden Yao gewidmet, der 2,29 Meter großen chinesischen Sensation in der NBA, die 1,3 Milliarden Fans im Mutterland des Stars zum Basketball verführen soll. (Können wir nicht einen Chinesen in die Fußballnationalmannschaft aufnehmen?)
Archiv: Foreign Policy

New York Times (USA), 18.09.2005

Ted Widmer, Leiter des C. V. Starr Center for the Study of the American Experience, macht sich in einem Brief aus Istanbul Sorgen über den Verkaufserfolg des türkischen Thrillers "Metal Firtina" (Metal Storm), in dem ein Krieg der USA gegen die Türkei im Jahr 2007 heraufbeschworen wird. Antiamerikanische Fantasien haben bei Amerikas wichtigem Verbündeten Hochkonjunktur. "Eine türkische Zeitung stellte kürzlich fest: 'Zu keinem Zeitpunkt der türkischen Geschichte gab es eine derartige Antipathie gegen die Vereinigten Staaten.' Der amerikanische Botschafter in der Türkei musste offenbar Wissenschaftler bemühen, die bewiesen, dass der Tsunami in Asien vergangenen Winter nicht von einer amerikanischen Nuklearexplosion verursacht wurde. (Die kulturellen Missverständnisse gehen auch in die andere Richtung; die Fernsehserie 'West Wing' porträtierte die Türkei vor kurzem als Land, in dem Frauen geköpft werden, weil sie Sex mit ihrem Verlobten hatten)."

Mit dem vor 25 Jahren geschriebenen und nun postum erschienenen, trashigen Roman "Fan-Tan" (erstes Kapitel) von Marlon Brando hat Joe Queenan offensichtlich einen Heidenspaß gehabt. "'Ein paar derbe Szenen ausgenommen - in einer entleert sich die Heldin auf der Brust des Helden, in einer anderen benutzt der Held gestohlene Perlen als Liebeshilfe beim Rendezvous mit seiner Geliebten - ist das die Art von Roman, den man locker einem Teenager zum Geburtstag schenken könnte. Mit einem Haufen verwegener, blutrünstiger Piraten, skrupelloser Kriegsherren, pikaresker Huren, unbestechlicher Sikh-Leibwächter und aphrodisierender Mineralien ist 'Fan-Tan' vor allem - eine herrliche Spinnerei."

Frank Rich ist ganz begeistert von Zadie Smith' neuem Roman. In "On Beauty" (Leseprobe) sieht er eines der wenigen komischen Bücher, die den Kulturkampf in den USA mildern können, weil beide Seiten schmunzeln müssen. Arthur Schlesinger jr. erinnert an den Theologen Reinhold Niebuhr (1892-1971), dessen ambivalentes Menschenbild in diesen wild religiösen Zeiten von Nutzen sein könnte. Niebuhr selbst erklärt es kurz: "Die Fähigkeit des Menschen zur Gerechtigkeit macht Demokratie möglich, seine Neigung zu Ungerechtigkeit hingegen macht Demokratie notwendig." Sarah Glazer offenbart, dass nach den Mangas, die eher von Jungs gelesen werden, jetzt auch die für das weibliche Publikum gedachten Shojos weggehen wie warme Semmeln.

Für das New York Times Magazine porträtiert James Traub die NGO Bono, auch als Sänger von U2 bekannt. "Er ist eine seltsame Erscheinung, dieser Rock Star mit dem Stoppelbart und den getönten Gläsern - ein neuer und bisher unerforschter Planet in einer sich gerade herausbildenden Galaxie aus transnationalen, multinationalen und subnationalen Organisationen. Er ist eine Art Ein-Mann-Staat der seine Haushaltskasse mit der globalen Währung des Ruhms füllt. Natürlich ist er auch eine Emanation des Starkults. Aber es ist Bonos Bereitschaft, seinen Ruhm einzusetzen, mit einer zielgerichteten Beständigkeit und einer Toleranz für Einzelheiten, die ihn zur politisch einflussreichsten Figur in der jüngeren Popgeschichte gemacht haben."

Weiteres: "Alle Teenager sind Dogmatiker, ein Teenager mit einer Bibel ist einfach nur ein konsequenterer Teenager." Mark Lilla besucht eine Massenpredigt von Billy Graham, und erinnert sich dabei an seine sieben Jugendjahre als Evangelikaler. Jonathan Dee widmet sich dem Regisseur David Cronenberg, der es einfach nicht schafft, sich dem Mainstream hinzugeben und richtig Geld zu verdienen. Und Deborah Solomon unterhält sich mit dem Begründer der afro-amerikanischen Geschichtsforschung John Hope Franklin über das Rassengefälle in den USA.

In der neu eingerichteten Sektion "Funny Pages" wird der erste Part der 14-teiligen Fortsetzungsgeschichte "Comfort to the Enemy" veröffentlicht, die Krimischriftsteller Elmore Leonard (Website) exklusiv für das Magazine verfasst hat. "Ein deutscher Kriegsgefangener des Lagers mit dem Namen Deep Fork hatte sich das Leben genommen, er hat sich in der vorvorherigen Nacht im Waschraum der Anlage erhängt." Dazu gibt es einen mp3-Podcast mit Leonard im Interview.
Archiv: New York Times