Magazinrundschau

Die halbe Charakterarbeit

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag Mittag
04.06.2019. In Clarin erklärt J.M. Coetzee, warum er nur noch aus dem Spanischen übersetzt werden möchte. Adda erzählt die Geschichte des schottischen Sklavenhandels. Der New Yorker besucht Tombstone. Der Guardian untersucht die Krise des Konservatismus. Der Rolling Stone sucht nach Gründen für die Selbstmordepidemie unter weißen mittelalten amerikanischen Männern. Respekt würdigt den großen Jiří Stránský. Im Spectator würdigt Quentin Tarantino das Genie Carlo Simis.

Clarin (Argentinien), 29.06.2019

Der südafrikanische Schriftsteller und Nobelpreisträger J.M. Coetzee wird, seiner eigenen Ankündigung nach, "den Rest meines Werks" nicht auf Spanisch schreiben, aber - in Argentinien - ins Spanische übersetzen lassen, und diese Version gilt dann als das Original, von dem alle möglichen Übersetzungen - auch (zurück) ins Englische - auszugehen haben werden. So ist er bereits mit dem Erzählungsband "Siete cuentos morales" (2018) verfahren, und er wiederholt dies mit dem am 1. Juni im spanischen 'Original' erschienenen dritten Teil seiner Jesus-Trilogie, betitelt "La muerte de Jesús": "Ich habe nichts gegen die Idee einer Lingua franca, aber Tatsache ist, dass jede Sprache eine bestimmte Sicht der Welt in sich birgt, eine Sicht der Welt, die ihre Sprecher als Selbstverständlichkeit betrachten - die Welt ist so, wie 'die Welt' ihnen durch das Prisma ihrer Muttersprache erscheint. Aus philosophischen und politischen Gründen gleichermaßen bin ich für einen Pluralismus der Sprachen und Meinungen über die Welt, um die wir streiten. Die philosophische und politische Sicht der Welt, die die englische Sprache vorschlägt, wird mir immer fremder. Zugleich habe ich den Eindruck, dass ich in der englischsprachigen Welt als ausländischer Schriftsteller betrachtet werde, mit einem Nachnamen, der ausländisch klingt - als Vertreter dessen, was man dort als 'Weltliteratur' bezeichnet."
Archiv: Clarin

adda (UK), 03.06.2019

Auch die Briten waren eine Zeit lang in großem Stil am Sklavenhandel beteiligt, und die höchste Rate von Sklavenhaltern gab es in Schottland, erzählt Yvonne Singh, deren Vorfahren aus der ehemaligen Kolonie Guyana, heute eins der ärmsten Länder der Welt, stammen. Und nicht nur die Reichen profitierten vom Sklavenhandel, lässt sie sich von dem Historiker David Alston erklären: "Alston erklärt: 'Die Existenzgrundlage einiger der ärmsten Menschen im schottischen Cromarty war abhängig von dem, was in der Karibik geschah. In der Nähe des Hafens befindet sich ein Gebäude aus rotem Sandstein, das in den 1770er Jahren als Proto-Fabrik gegründet wurde: Es importierte Hanf aus St. Petersburg und beschäftigte 250 Personen und 600 Außendienstmitarbeiter - mehr als die Bevölkerung von Cromarty heute -, um Zucker in Säcken zu verpacken.' Die wirtschaftlichen Vorteile der Sklaverei wirkten sich auf alle Teile der schottischen Wirtschaft aus: In den Highland-Lochs boomte der Heringsfang, da dieser gesalzene Fisch als Quelle proteinreicher Sklavennahrung ein wichtiger Export in die Karibik war. Ebenso waren auf den Äußeren Hebriden viele einfache Arbeiter mit der Herstellung von rohem Leinen, dem so genannten Sklavenstoff, für den Export in die Kolonien beschäftigt. Tatsächlich profitierte Cromarty so sehr vom Sklavenhandel, dass es eine der Städte war, die gegen seine Abschaffung protestierten."
Archiv: adda

168 ora (Ungarn), 02.06.2019

Vor einem Jahr trat in Ungarn ein "Theaterförderungsgesetz" in Kraft, durch das unabhängige und private Theater ihre bisherigen Fördermöglichkeiten zum großen Teil (teilweise vollständig) verloren haben. Der Theaterkritiker und Publizist Győző Mátyás zieht schon mal Bilanz: "Es war vorherzusehen, dass die größten Verlierer der Veränderung des Theaterzuschusssystems die unabhängigen und privaten Theater sein werden. Für die illiberale Regierung stellt der unabhängige Intellektuelle, der eigenständige, freie Künstler eine Gefahrenquelle dar. Die Ordnungsregulierung der Theater dient genauso der Verstärkung der staatlichen Kontrolle wie die Aufhebung der Unabhängigkeit der Forschungsinstitute oder die Verpflichtung für Schriftsteller und literarische Organisationen, Mitglied in einer Dachorganisation werden zu müssen. (…) Und dennoch haben wir leider keinen Grund für eine Verurteilung, denn die Theaterkrise ist lediglich ein Spiegelbild einer moralisch auseinanderfallenden Gesellschaft."
Archiv: 168 ora

Guardian (UK), 28.05.2019

Seit Margaret Thatcher und Ronald Reagan war der Konservatismus aufs Regieren geeicht. Er versprach zugleich Fortschritt, sachten Wandel und Bewahrung des Guten, verachtete Ideologie und verteidigte Privilegien. Doch überall werden die Wahlsiege knapper, die Allianzen heikler, stellt Andy Beckett fest und sieht den Konservativismus der westlichen Welt in der Krise: "Der britische Philosoph John Gray, ein enger und mitunter sympathisierender Beobachter der globalen Rechten seit den siebziger Jahren, sieht in dem neuen Rechtspopulismus - wie auch in den Versuchen der etablierten konservativen Parteien, ihm nachzueifern -, ein Anzeichen dafür, dass der uralte konservative Herrschaftsanspruch ins Wanken gerät. 'Die Konservativen glauben noch immer, dass ihre Vorstellungen über die Welt natürlich seien', meint Gray, 'aber sie spüren, dass ihnen die Wählerschaft entgleitet'. Das Ergebnis sei 'eine Politik wilder, unzusammenhängender Gesten' - Versuche, die Zuneigung der Wähler zurückzugewinnen. Als Boris Johnson letztes Jahr 'Scheiß auf die Wirtschaft' posaunte, als Antwort auf die Ablehnung des Brexits durch die Unternehmen, erlebten wir, wie der wahrscheinlich künftige Chef einer Partei, die seit Jahrhunderten eng mit der Wirtschaft verbunden ist, mit einer Rücksichtslosigkeit agierte, die so kontraproduktiv wie bedeutsam erschien. Sie könnte darauf hindeuten, dass die Allianz zwischen Kapitalismus und Konservatismus zu Ende geht. 'Konservative waren immer stolz auf ihre Kompetenz', sagt Gray, 'jetzt kann es zwanzig Jahre dauern, um die Vorstellung wiederzubeleben, dass sie die Erwachsenen seien.'"

Außerdem: Nicola Davison beschreibt die Schwierigkeiten, das Anthropozän als neues Zeitalter auch unter Geologen durchzusetzen.
Archiv: Guardian

Jacobin (USA), 02.06.2019

David Broder unterhält sich mit dem italienischen Politologen Marco Revelli, der eine der so zahlreich gewordenen Theorien zum Populismus verfasst hat. Revelli analysiert die Ergebnisse der Europawahlen, konstatiert die Krise der alten Volksparteien der Sozialdemokratie, sieht aber eher ein konservatives Kleinbürgertum als Hauptfutter der Populisten: "Es sind einst konservative Wähler, die sich radikalisieren. Sie sind nicht die ärmsten, haben aber das Gefühl, ihnen sei etwas weggenommen worden. Nicht unbedingt Einkommen, obwohl dies in der Krise durchaus vorkam. Aber eher noch verspüren sie einen Verlust ihrer sozialen Position, oder sie haben das Gefühl, dass ihr Land den Status einer führenden Macht eingebüßt hat. Das sehen wir in den Vereinigten Staaten und aufs Dramatischste im Vereinigten Königreich und sogar in Italien. Zu den Faktoren gehört auch, dass Männer ihre grässliche Gender-Macht über Frauen verloren haben und gegen den Feminismus revoltieren, und der weiße Backlash gegen Multikulti."

Außerdem in Jacobin, aber noch vor den Europawahlen verfasst, Thomas Fazis von ganz weit links kommende Kritik an der ach so undemokratischen Europäischen Union, eine "Farce", die er rät, zugunsten des einzigen Horts der Demokratie aufzugeben, der Nation natürlich.
Archiv: Jacobin

Washington Post (USA), 01.06.2019

In einem größeren Dossier, das die Washington Post zum Massaker am Platz des Himmlischen Friedens vorlegt, sei besonders ein Text der Journalistin Louisa Lim empfohlen, die nach vielen Gesprächen mit Korrespondenten in China herausgefunden hat, dass praktisch alle Journalisten in der Berichterstattung zu dem Jahrestag behindert wurden, aber mehr noch, dass es der chinesischen Regierung gelungen ist, ein bestimmtes Narrativ über den 4. Juni durchzusetzen: Alles in der Berichterstattung konzentriere sich auf das Massaker in Peking. Aber die sieben Wochen zuvor, die Ereignisse in der Provinz, die breite Bewegung zu einer Reform des Landes werden zusehends ausgeblendet - und das auch in ausländischen Medien! "Journalisten mögen den ersten Entwurf einer Geschichte liefern, aber in diesem Fall arbeitet ein repressiver Staat langsam, geduldig und rückwirkend daran, jene Sektionen aus diesem Entwurf zu entfernen, die er aus der Erinnerung tilgen will. Die Botschaft, dass politische Mobilisierung oder sogar die Diskussion darüber um jeden Preis unterdrückt werden, kommt genau zu der Zeit, wo Peking seine Staatsmedien im Ausland expandieren lässt und seine finanziellen Mittel nutzt, um Platz in westlichen Medien zu kaufen, während westliche Tech Firmen bereits freiwillig als Handlager der Zensur arbeiten und Posts zu Tienanmen löschen." (Wie der Guardian bereits 2014 berichtete, d.Red.) Louisa Lim ist Autorin des Buchs "The People's Republic of Amnesia" (mehr hier).
Archiv: Washington Post

Respekt (Tschechien), 30.05.2019

Soeben verstorben ist der 87-jährige tschechische Schriftsteller, ehemalige politische Häftling und PEN-Club-Vorsitzende Jiří Stránský, "ein großer Erzähler" (Literární noviny) und "einer der wenigen, der beharrlich an die Monstrosität des kommunistischen Regimes erinnerte" (Aktuálně). Auch Jan H. Vitvar verneigt sich vor dieser "moralischen Autorität": "Nachdem bereits sein Vater (aristokratischer Herkunft) unter den Nazis nach Auschwitz kam und anschließend unter den Kommunisten in Haft saß, steckten die Kommunisten auch den jungen Stránský für viele Jahre ins Arbeitslager. "In den hölzernen Baracken, umgeben von tödlichem Staub, erhielt Jiří Stránský von seinen akademischen Mithäftlingen, Professoren und Pfarrern, die Bildung, von der er buchstäblich bis zu seinem Tode zehrte." Erst in nachkommunistischer Zeit wurde er zum Schriftsteller und Drehbuchautor, und die Wahrheiten über den Totalitarismus zu schildern wurde ihm zur Lebensaufgabe. (Seine kompromisslose Haltung ging so weit, dass er sich wegen der kommunistischen Vergangenheit einiger späterer Dissidenten selbst niemals als Dissident bezeichnete.) Dennoch, so Vitvar, sei Stránský einer der wenigen alten Männer gewesen, "die mit abnehmenden Kräften nicht verbitterten. Er sagte immer öffentlich, was er dachte, und wenn jemand anderer Meinung war, berief er sich nie auf seine moralische Überlegenheit oder seine bitteren Lebenserfahrungen, sondern brachte immer Argumente an." Nur schade, dass von Stránský noch keine Übersetzungen auf Deutsch vorliegen.
Archiv: Respekt

Rolling Stone (USA), 30.05.2019

47.173 Selbstmorde gab es 2017 in den USA. Dazu kamen 1,4 Millionen Selbstmordversuche. Und sie werden zu 70 Prozent von weißen Männern begangen. Die höchste Rate weist der Bundesstaat Montana auf, gefolgt von Alaska, Wyoming, New Mexiko, Idaho und Utah, schreibt Stephen Rodrick, der sich auf eine Reise durch die USA begeben hat, um die Gründe dafür zu finden. Sie sind vielfältig, aber ein bestimmtes Männlichkeitsbild trägt einiges dazu bei: Man gibt gern den harten Kerl, liebt Waffen und redet wenig, schon gar nicht über psychische Probleme. "Der Höhepunkt im Western war schon immer die große Schießerei. Nun, die wird in einem tödlichen Monolog ausgetragen. Aktivisten in waffenfreundlichen Staaten tänzeln auf Zehenspitzen um die Forderung nach einem Verbot von Schusswaffen herum und treten statt dessen dafür ein, sie mit Schlössern zu blockieren, um sie von Verzweifelten und Wütenden fernzuhalten. Ihre Bemühungen sind edel, aber sinnlos. In Utah sind 85 Prozent der durch Feuerwaffen verursachten Todesfälle Selbstmorde. Eines der schockierenden Dinge, die Dr. Craig Bryan bei seinen Studien über ländliche Selbstmorde erfuhr, war, dass viele dieser Todesfälle Selbstmorde aus Leidenschaft waren - impulsive, unwiderrufliche Handlungen. 'Ein Drittel der Selbstmorde mit Schusswaffen in Utah geschahen während eines Streits', sagt Bryan. 'Zwei Leute sind dabei. Nicht unbedingt körperlich gewalttätig, aber sie schreien sich an. Und jemand, fast immer ein Mann, sagt im Grunde genommen nur: Mir reicht's, schnappt sich eine Waffe und erschießt sich.' Kein Bevölkerungssegment ist von diesen schrecklichen Zahlen stärker betroffen als Männer mittleren Alters im ländlichen Amerika. Sie besitzen nicht nur Waffen, ihnen fehlt auch ärztliche Hilfe - nach einer Schätzung gibt es etwa 80 Psychiater, die in Wyoming zugelassen sind [laut Wikipedia ein Staat mit 579.315 Einwohnern und einer Fläche von 253.336 Quadratkilometern, d.Red.] -, und sie haben ein Leben gewählt, das Unabhängigkeit über alles andere stellt."
Archiv: Rolling Stone

La vie des idees (Frankreich), 28.05.2019

Die Krise der Demokratie in Brasilien war die Koinzidenz einer Krise der traditionellen Parteien, besonders auch der Linken, und der Entstehung neuer Kommunikationstechniken - der sozialen Medien -, die es Jair Bolsonaro gestatteten, die Bevölkerung direkt, ohne die verhassten Mittler wie Medien anzusprechen, schreibt die brasilianische Politologin Tatiana Roque in einem längeren Essay. Sie sympathisiert zwar deutlich mit der brasilianischen Linken, kritisiert sie aber auch, weil sie die Impulse nicht verstanden hätten, die aus der demonstrierenden Bevölkerung vor der fatalen Weltmeisterschaft von 2014 kamen: "Die Revolte zielte auf alle traditionellen politischen Organisationen und galt nicht der Arbeiterpartei oder der Regierung Dilma Rousseffs allein. Aber da man nichts weiter als eine diffuse Wut gegen das System sah, haben viele Analytiker der Linken beschlossen, der Bewegung dieser sozialen Akteure zu misstrauen, und ebenso wenig trauten sie ihrer horizontalen Art sich zu organisieren, die einer gewissen institutierten Politik so fremd war. Die Linke hat es also nicht geschafft, diese Revolte für sich anzunehmen."

New Yorker (USA), 17.06.2019

Die mexikanische Schriftstellerin Valeria Luiselli hat mit ihrer Familie die Grenze zwischen den USA und Mexiko besucht. Weil sich die Kinder bei den Recherchen langweilten, besuchten sie zwei Grenzstädtchen, die vom Reenactment historischer Ereignisse leben (die Schießerei am OK Corral etc.). Und hier lernt Luiselli langsam mehr über die Mentalität der Grenzbewohner, die zum Teil freiwillig auf Patrouille gehen, um illegale Flüchtlinge aufzuspüren. Einen Zusammenhang mit der in den Reenactments gefeierten schießwütigen Selbstjustiz des 19. Jahrhunderts, oder mit der Tatsache, dass Mexikaner, Schwarze und Indianer nur als feindselige Angreifer vorkommen, will man dort nicht sehen. "Die Geschichte von Grenzstädten wie Shakespeare und Tombstone ist eine, in der vor allem weiße Bevölkerungsgruppen nach Westen zogen, Territorium beanspruchten und diejenigen, die bereits dort waren, gewaltsam vertrieben oder getötet wurden, dann dieses Territorium gegen 'Eindringlinge' verteidigten, die oft die früheren Bewohner waren - also Indianer und später Mexikaner - und schließlich Gesetze aufstellten. Diese letzte Phase der Grenzgeschichte ist das, was am häufigsten für Reënactments ausgegraben wird: eine manichäische Darstellung von guten (weißen) Gesetzeshütern gegenüber schlechten (weißen) Cowboys, die letztlich eine Feier zur Gründung des weißen Amerikas ist. Der Rest - der Teil, in dem es darum geht, nicht-weiße andere zu töten oder zu verbannen, um beanspruchtes Land zu verteidigen - wird bequemerweise weggelassen. Aber die Praxis lebt weiter, in einer Art Reënactment mit sehr realen Folgen, bei dem die Protagonisten zivile Grenzpolizisten sind - Menschen, die überzeugt sind, dass sie das Recht haben, alles tun zu dürfen, um andere, insbesondere nicht-weiße andere, von diesem Land fernzuhalten."

Jon Lee Anderson untersucht die Spaltung der venezolanischen Gesellschaft zwischen Juan Guaidó (Voluntad Popular) und Nicolás Maduro (Vereinigte Sozialistische Partei), die mit harten Bandagen kämpfen und drohen, eine internationale Krise heraufzubeschwören. Inzwischen hat man sich aber, unter dem Druck der Verhältnisse auf Verhandlungen geeinigt. "'Die große Unsicherheit ist, was das Militär tun wird'", sagt Luis Vicente León, Venezuelas prominentester politischer Meinungsforscher, zu Anderson. "Es sei ein Fehler gewesen, die Armee zu zwingen, sich von Maduro zu trennen, sagt er. 'Die Militärs sind die Regierung und sie wollen wissen, wo sie nach Maduro stehen.' Er weist außerdem darauf hin, dass ein erfolgreicher Coup nicht notwendigerweise zu einer weniger brutalen Regierung führen muss. 'Was passiert, wenn das Militär gegen Maduro vorgeht, aber sich auch nicht mit der Opposition verträgt? Es kann mächtiger und repressiver werden. Dann haben wir eine echte Diktatur.' Die einzige realistische Lösung, so León, besteht darin, irgendwie einen Konsens zu finden. 'Wir sind dazu verdammt, mit den Bösewichten zu verhandeln', sagte er. 'Sonst wird dieses Land bald unregierbar.'"

Außerdem in dieser Ausgabe, die fast ganz der Literatur gewidmet ist: Orhan Pamuk erzählt von seiner Schulzeit in einer Schweizer Grundschule. Und auch Ta-Nehisi Coates (hier), Han Ong (hier), Jennifer Egan (hier), Dinaw Mengestu (hier) und andere erzählen von ihren Erfahrungen in einem "fremden Land".
Archiv: New Yorker

Esquire (USA), 28.05.2019

Lili Anolik erinnert sich an eine dekadente Zeit am Bennington College in Vermont Mitte der 1980er, als einige Frischlinge dort wilde Kokspartys feierten - und ihre Schriftstellerkarrieren begannen: "Was das Café du Dôme für die Lost Generation war, war der Speisesaal des Bennington College für die Generation X, das heißt, die Lost Generation Revisited. Das Gelage hatte sich sechs Jahrzehnte und über den Atlantik hinweg weiterentwickelt, und obwohl der Südwesten von Vermont natürlich nicht Paris war, war es in den frühen bis mittleren achtziger Jahren genauso schlau, durchgeknallt, niedergeschlagen und dunkel perdu. Apropos Schlauheit, Faulheit, Niedergeschlagenheit, Dunkelheit - schauen wir uns einmal die Gäste an. Die Baskenmützen gegen Sonnenbrillen eingetauscht, saßen um den Tisch, bereit, im Gespräch zu schwelgen, wenn schon nicht im Essen (Kokain, der Absinth unserer Zeit, war ein berüchtigter Appetitdämpfer): der Neo F. Scott Fitzgerald, Ernest Hemingway und Djuna Barnes: Bret Easton Ellis, künftiger Autor von 'American Psycho' und Gründungsmitglied des literarischen Brat Pack; Jonathan Lethem, künftiger Verfasser von 'The Fortress of Solitude' und Donna Tartt, künftige Autorin von 'The Secret History' und Gewinnerin des Pulitzer-Preises für 'The Goldfinch'. Alle drei waren in der Klasse von 1986. Alle drei waren weit weg von zu Hause - Los Angeles, Brooklyn bzw. Grenada, Mississippi. Alle drei waren zu verschiedenen Zeiten betört und enttäuscht voneinander, ihre Freundschaften waren durch Rivalität befeuert. Und alle drei würden Bennington in ihren Büchern mythologisieren, die nicht nur Fiktion sind und dadurch selbst mythisch wurden - die barocke Verruchtheit, den bösartigen Glamour, eine Verderbtheit, die so abgrundtief ist, dass sie genau das darstellt, was mit dem Wort Dekadenz gemeint ist."

Nach dieser Einleitung tauschen sich eine Reihe ehemaliger Studenten, darunter Ellis und Lethem, über ihre Zeit in Bennington aus. So in dieser Art: "Lethem: Brets Mitbewohner Miles war der Sohn des berühmten Galeristen Richard Bellamy und in der Gegenkultur der New Yorker Kunstwelt aufgewachsen. Ich identifizierte mich mit Miles, aber ich fühlte mich mehr zu Bret hingezogen. Sie kamen nicht miteinander aus. Der Raum wurde durch eine Reihe zerbrochener Flaschen in zwei Hälften geteilt. Es war wie eine Berliner Mauer aus Glasscherben."
Archiv: Esquire

The Atlantic (USA), 23.05.2019

Emma Green erkundet die düsteren Perspektiven für Christen in Nahost, eine Gefahr für den Pluralismus in der Region, warnt sie, aber auch eine politische Gelegenheit: "Der prekäre Zustand des Christentums im Irak ist tragisch. Die Welt könnte bald Zeuge der dauerhaften Vertreibung einer uralten Religion und eines uralten Volkes werden. Die Bewohner dieser Gegend teilen mehr als den Glauben: Sie nennen sich Suraye und fühlen sich alten Völkern verbunden, die dieses Land lange vor Christi Geburt bewohnt haben. Das Schicksal des Christentums in der Ninive-Ebene ist von geopolitischer Bedeutung. Religiöse Minderheiten sind ein Test für den Pluralismus eines Landes; eine gesunde liberale Demokratie schützt gefährdete Gruppen und ermöglicht ihnen gesellschaftliche Teilhabe. Ob Christen in Ländern mit muslimischer Mehrheit überleben können, ist ein entscheidender Indikator dafür, ob die Demokratie an diesen Orten lebensfähig ist. Im Irak sind die Aussichten düster, wie auch in anderen Ländern der Region, in denen alte christliche Bevölkerungsgruppen leben, darunter Ägypten, Syrien und die Türkei. Christen an diesen Orten sind Diskriminierung, staatlich gestützter Einschüchterung und dauernder Gewalt ausgesetzt. Sie haben allerdings einen mächtigen Verbündeten: die USA, die unter Trump der Unterstützung des Christentums im Nahen Osten noch höhere Priorität einräumen als unter Bush oder Obama. Unter Trump flossen hohe Investitionen in die Region. Diese außenpolitische Position ist zum Teil innenpolitisch begründet. Den konservativen Trump-Wählern liegen unterdrückte Christen am Herzen, und sie unterstreichen das durch effektives Lobbying. Aber die Notlage der Christen in der Region spielt auch einer Regierung in die Karten, die ihre Außenpolitik als Kampf um die den globalen Einfluss des Westens betrachtet. Für Trump ist das Christentum ein Bollwerk westlicher Werte in einer Region voller Feinde."
Archiv: The Atlantic

Film Comment (USA), 29.05.2019

"Tommaso" (hier eine Besprechung in Variety) ist Abel Ferraras erster Spielfilm seit "Pasolini" (2014) - zwischenzeitlich hat er vor allem Dokumentarfilme gedreht. Der mit Willem Dafoe - Ferraras Nachbar und langjähriger Kollaborateur - zwar prominent besetzte, aber mit äußerst niedrigem Budget umgesetzte neue Film ist durchaus autobiografisch angehaucht: Dafoe spielt einen Filmemacher in der Krise - und zwar an der Seite von Christina Ferrara, Abel Ferraras Ehefrau, und Anna, der dreijährigen Tochter der beiden Eheleute. Gedreht wurde digital - mit allen Freiheiten zur Improvisation, die das Medium gestattet, erklärt Ferrara im Gespräch: "Manche unserer Szenen wurden vorab abgesprochen, manche folgten einem strengen Plan, manche nicht - sie sind alle unterschiedlich. Peter Zeitlinger ist ein grandioser Kameramann, der schon viele großartige Dokumentarfilme fotografiert hat. Er ist sich stets bewusst, in welche Richtung sich etwas bewegt und wie wir arbeiten. ... Wir produzieren viel Material. Und mit Fabio Nunziata haben wir einen großartigen Schnittmeister, also drehen wir mit viel Gottvertrauen. Das ist der Vorteil digitalen Filmemachens. Man verschwendet keinen Gedanken daran, wie viel Negativmaterial man kaufen muss. Ob man nun fünf Minuten oder 45 fotografiert - das ist kein großes Ding. Das ist cool für uns, denn wir können es einfach laufen lassen. Nicht wie früher, von wegen 'Action - Cut!' Man dreht einfach. Man weiß, sobald man am Set erscheint, läuft die Kamera. Jeder ist auf Draht und wenn etwas Cooles passiert, Sachen, auf die man nicht vorbereitet war oder von denen man nicht wusste, dass sie passieren würden, dann dreht man mit."

Außerdem: Im aktuellen Podcast des Magazins spricht die Filmemacherin Mary Harron über ihren neuen Film "Charlie Says", der von den Manson-Morden handelt.

Archiv: Film Comment

London Review of Books (UK), 03.06.2019

In den USA werden die Schriften der faszinierenden Rachel Carson neu herausgegeben. Meehan Crist kann nur bewundern, wie die amerikanische Umweltschützerin und Wissenschaftsautorin nahezu im Alleingang nachwies, dass Pestizide krebserregend und für das Artensterben verantwortlich sind. Erschütternd ist für Crist allerdings, dass Carson mit einem einzigen Buch genug öffentliches Bewusstsein schaffen konnte, um einen rigorosen Politikwandel herbeizuführen. In Bezug auf den Klimawandel sei dies bisher niemandem gelungen, weder Al Gore noch Bill McKibben oder Elizabeth Kolbert: "Auf der ganzen Welt, in den Städten wie in den Dörfern, kämpfen die Menschen mit Dürren, Fluten, Feuer, Lebensmittelknappheit, Konflikten und dem Druck durch die größte menschliche Wanderung seit der letzten Eiszeit. Aber niemandem ist es gelungen das Bedürfnis nach Handeln zu wecken wie es Carson mit 'Silent Spring' ('Der stumme Frühling') tat. Und während wir sehr wohl die Maßnahmen kennen, mit denen wir das drohende Desaster mildern könnten, sind sie viel schwieriger in die Tat umzusetzen als jene, die Carson vorschlug, um die giftigen Chemikalien loszuwerden. Sie umfassen eine komplette und weltweite Neuausrichtung von Landwirtschaft, Transport und Energie zu einer Zeit, in der die notwendigen politischen System nirgends vorhanden sind. Die Klimakatastrophe hat offenbart, dass der globale Kapitalismus fundamental bankrott ist, aber auch dass die Neigung der liberalen Orthodoxie zum Moderaten und schrittweisen Wandel nicht ausreicht. Nur sofortiger, tiefgreifender Wandel, der auch den Konflikt mit den mächtigen Interessen der CO2-ausstoßenden Industrie wagt, kann vielleicht das biologische System retten, von dem alles menschliche Leben abhängt. Wie McKibben kürzlich im New Yorker erklärte: 'Es geht darum, den Klimawandel so zu verlangsamen, dass er Zivilisation nicht unmöglich macht'."

Weiteres: James Meel liest Puschkin. David Runciman arbeitet sich durch den Mueller-Report.

HVG (Ungarn), 31.05.2019

Vergangene Woche wurde im ungarischen Gesetzesblatt verkündet, dass die bisher zur Nationalbibliothek gehörende und weitgehend unabhängig agierende 56er Institut, das sich der Erforschung des ungarischen Aufstands 1956 widmet (mehr hier), in das von der Orban-Regierung gegründete umstrittene "Wahrheits Institut" (mehr hier) eingegliedert wird. Mit der Ausgliederung der Forschungsinstitute aus der Ungarischen Akademie der Wissenschaften (MTA) und der weiteren Aufwertung der regierungsnahen (mehr hier) Ungarischen Kunstakademie (MMA) sehen Kritiker den systematischen Abbau der Unabhängigkeit von Kunst und Forschung voranschreiten. So auch der Philosoph Gáspár Miklós Tamás, der schreibt: "So wie das literarische und künstlerische Leben der Ungarischen Kunstakademie (MMA - einem ehemals nationalistischen Privatklub), die (nicht ausschließlich) aus Dilettanten und verschrobenen Halbtalenten besteht, gesetzlich und verfassungsrechtlich eingegliedert wurde, so wartet jetzt auf die geistes- und sozialwissenschaftlichen Forschungen ein ähnliches Schicksal. Die eingliedernde Auflösung des 56er Instituts, das seit Längerem ein Dorn im Auge der Rechtsradikalen ist, ist hierfür ein weiteres mahnendes Beispiel. In einer in Europa, jedoch nicht in Ungarn erdrückenden Situation suchen die Rechtsradikalen sich erneut gemäßigt konservative Verbündete, denn im Europäischen Parlament wird das rassistische Parteienbündnis doch nicht so groß, wie von ihnen erhofft. Doch selbst diese Situation kann die Regierung nicht davon überzeugen, auf die Schikane, Verfolgung und - bei Regierungserfolg - Zerschlagung der von ihr sowohl institutionell als auch weltanschaulich unabhängigen ungarischen Intellektuellen zu verzichten."
Archiv: HVG

Spectator (UK), 01.06.2019

Dass Quentin Tarantino nicht nur den räudigen B- und C-Genres aus den Bahnhofskinos der 70er huldigt, sondern auch ehrfürchtig zu den großen Italowestern-Opern von Sergio Leone aufblickt, weiß man allerspätestens seit "Inglourious Basterds", dessen Inszenierung deutlich von Leones Ästhetik beeinflusst war und für dessen Soundtrack der Regisseur sich ausgiebig in Ennios Morricones Fundus bedient hatte. In einem Essay für den Spectator erläutert Tarantino seine Leidenschaft für den italienischen Regie-Großmeister nun genauer - wie stets beim hyperaktiven US-Filmemacher nicht unbedingt allzu tiefgründelnd und mitunter auch in Sichtnähe zum Klischee, aber ein paar schöne Beobachtungen finden sich eben doch: "Designer Carlo Simi ist ein unbesungenes Genie - Leones Geheimwaffe, genau wie Ennio Morricone. Die Sets und Kostüme in den amerikanischen Western der späten 60er waren nichts besonderes: Die Kostüme kamen stets aus dem Fundus des Studios, für das eben gerade gedreht wurde. Carlo Simi hingegen schuf Outfits mit einem Elan wie aus einem Comicheft und das manchmal ganz buchstäblich - einer der drei Sergios blätterte einmal durch einen Comic und rief aus: 'Hey, verpass' ihm so einen Umhang!' Diese verrückten Kostüme erledigen die halbe Charakterarbeit, egal, ob es sich dabei um die Schurken, Helden oder Abenteurer handelt. Leone bezeichnete sie einmal als Ritterrüstung. Und aus ihnen spricht der popkulturelle Zeitgeist. Die Staubtücher in 'Spiel mir das Lied vom Tod' sind genauso zeitlos wie die Trenchcoats bei Melville. Spricht man über Leones Western, dann spricht man über das beste Produktionsdesign, das beste Kostümdesign und über die Filme mit den besten Requisiten aller Zeiten. Es gibt einfach nichts Vergleichbares."

Unten eingebettet: Ein kleines Tributvideo zu Ehren von Carlo Simi. Außerdem der Hinweis, dass Tarantino im Blog seines Kinos in Los Angeles regelmäßig über die Filme schreibt, die er dort handverlesen präsentiert (leider kann man keine Autorenprofile verlinken - aber mit einen bisschen Scrollen findet man rasch die entsprechenden Einträge).

Archiv: Spectator