Magazinrundschau

Wenn sich ein Infizierter nähert

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag Mittag
31.03.2020. Der New Statesman zeichnet unsere Zukunft im Bio-Überwachungsstaat. Elet es Irodalom und 168 ora staunen über die Selbstentmachtung des ungarischen Parlaments. Die London Review blickt in das Loch, in dem Mexiko-Stadt bald verschwinden könnte. Vanity Fair starrt auf die blutgetränkte Wüste, die Brasilien zu werden droht. Robin Detje stiert im Merkur in den Abgrund einer Abteilungssitzung der SPD. A2 ergibt sich der Virokratie, vorausgesetzt sie ist befristet.

New Statesman (UK), 27.03.2020

Allenthalben wird jetzt das Corona-Trilemma beschworen oder konstruiert, demzufolge auf Bio-Überwachung setzen muss, wer nicht Tausende von Toten oder Monate in Ausgangssperre in Kauf nehmen will. Etliche asiatische Regierungen haben ihre Entscheidung getroffen, konstatiert Jeremy Cliff: "In Singapur, Taiwan und Südkorea können normale Menschen per App die Bewegungen ihrer Mitbürger verfolgen und erhalten Textnachrichten, wenn sich ein Infizierter nähert. Während in China das Leben allmählich zurückkehrt, müssen Stadtbewohner immer wieder ihren persönlichen QR-Code scannen lassen, wenn sie sich bewegen, um zu zeigen, dass sie nicht ihre nach Farben geordneten Restriktionsstufen verletzen." In Europa und den USA empfehlen Forscher ihre neuen Apps noch mit einer freiwilligen Teilnahme". Aber, meint Cliff: "Die Logik des Panopticons besteht nicht darin, zu beobachten, sondern Verhalten zu beeinflussen. Das ist stets der zweite Teil der Bio-Überwachung. Wenn Behörden in Erfahrung gebacht haben, wer das Virus hat, wen diese Menschen infiziert haben und welchem Risiko die Bevölkerung insgesamt ausgesetzt ist, können sie auf Grundlage dieser Informationen handeln. Der Bio-Überwachungsstaat dringt nicht nur in die Privatssphäre ein, er setzt auch Zwangsmaßnahmen durch. Die britischen Corona-Gesetze geben der Regierung die Macht, Häfen und Flughäfen zu schließen oder Wahlen und andere Großveranstaltungen  abzusagen. In Taiwan werden diejenigen, deren Smartphone den Schluss nahelegen, dass sie ihre Quarantäne verletzen, sofort von der Polizei aufgesucht. Israels Notfallmaßnahmen erlauben die Anwendung verhältnismäßiger Gewalt, um Versammlungen aufzulösen. Frankreich erfordert von allen, die ihr Haus verlassen, eine Bescheinigung mit gültigen Gründen. In Polen fordert eine App Menschen unter Quarantäne auf, zu verschiedensten Uhrzeiten Selfies von sich mit genauer Ortung zu senden. Immer noch nicht überzeugt, dass sich quasi-chinesische Szenen in westlichen Städten abspielen können? Die belgische Polizei ließ kürzlich Drohnen über einen Park in Brüssel fliegen, um Spaziergänger nach Hause zu scheuchen."
Archiv: New Statesman

Elet es Irodalom (Ungarn), 31.03.2020

Das ungarische Parlament hat mit der Mehrheit der Regierungspartei Fidesz eine Notstandsermächtigung erlassen, die es Viktor Orban erlaubt, auf unbestimmte Zeit per Dekret zu regieren. Das Parlament hat sich damit selbst seiner Kontroll- und gesetzgebenden Funktionen entbunden. Die Regierungspartei verfügt im Parlament seit der dritten Legislaturperiode über eine Zweidrittelmehrheit. Auch die während der Flüchtlingskrise 2015 verabschiedete "Migrations-Notstandsregelung" ist bis zum heutigen Tage in Kraft. Das Verfassungsgericht wurde in seiner Kontrollfunktion stark eingeschränkt. Somit ist die Funktion des neuen Notstandsgesetzes, das in der Öffentlichkeit als "Ermächtigungsgesetz" bezeichnet wird, selbst in der gegenwärtigen Pandemie-Krise unklar, denn der Regierung stehen bereits alle ansonsten unüblichen Handlungsmöglichkeiten zur Verfügung. Die gesetzliche Beschränkungen und Kontrollmöglichkeiten von Parlament und Justiz wurden in den vergangenen Jahren konsequent abgebaut. In den Zeitschriften Élet és Irodalom und 168 óra bewerten der Soziologe Márton Kozák und der Kritiker Győző Mátyás die Situation in ihrer Tendenz ähnlich. "Im gesetzgebenden Schwung der Regierung will ich kein Hindernis, sondern Motor sein - sagte vor seiner Wahl Pál Schmidt, der 2012 wegen Plagiats zurückgetretene Staatspräsident", schreibt Marton Kozak. "Und das wurde er auch. Die jetzige Nationalversammlung unterscheidet sich vom ehemaligen Staatspräsidenten nur dadurch, dass die in den letzten zehn Jahre funktionslos gewordene Institution weder Hindernis noch Motor sein möchte - eigentlich will sie gar nicht sein. (...) Mit dem Ermächtigungsgesetz gibt die parlamentarische Mehrheit einem Pyromanen einen Flammenwerfer in die Hand. Dafür wurde sie Kopf für Kopf von Orbán ausgesucht."

168 ora (Ungarn), 31.03.2020

"In einer gesunden, normalen politischen Atmosphäre, könnte vielleicht tatsächlich so eine Ermächtigung erteilt werden", meint Győző Mátyás zu der neuen Notstandsregelung, "denn niemand würde sich fürchten, dass die Regierung sie missbraucht und ihre Macht dadurch ins Unbegrenzte wächst. Bei uns ist die Situation anders. Und da gibt es etwas, was schwerwiegender ist als die Kodifikationsprobleme, nämlich das Vertrauen. Die Regierung hätte ohne weiteres eine zeitliche Begrenzung einsetzen können, um zu deklarieren, dass sie sich über die Rechtsordnung setzen möchte. Die apokalyptische Vision, wonach dieses Gesetz das Gegenstück des deutschen Gesetzes von 1933 sei, halte ich für eine unbegründete Übertreibung. Doch dieser Regierung kann - aufgrund ihrer eigenen Praktiken - kein nüchterner Mensch trauen. Das Beharren auf eine zeitliche Begrenzung ist schon aus dem Grunde rechtens, weil der in Folge der Flüchtlingskrise verhängte Ausnahmezustand bis heute in Kraft ist, obwohl weit und breit keine Migranten zu sehen sind. Und wir wissen auch, dass dieses Regime die selbst erlassenen Gesetze nicht achtet - siehe das für die Central European University kreierte Spezialgesetz und dessen Verdrehung bis heute."
Archiv: 168 ora

London Review of Books (UK), 02.04.2020

Vor zwei Jahre wäre Kapstadt beinahe das Wasser ausgegangen, nachdem es vier Jahre nicht geregnet hatte. Seitdem liefert sich die Stadt eine Art furchtbares Rennen mit São Paulo, Chennai und Mexiko-Stadt. In weniger als fünf Jahren werden zwei Drittel der Weltbevölkerung unter Wassermangel leiden, berichtet Rosa Lyster in einer  Kontinente umfassenden Reportage: "Ich dachte immer, dass die Menschen es im übertragenen Sinne meinten, wenn sie sagten, Mexiko City versinke, oder dass diese Tatsache nur für Hydrologen oder Ingenieure sichtbar wäre. Aber nein: Die Stadt sackt ab, während sie immer mehr Wasser aus immer tieferen Schichten hochpumpt, und droht in dem Lehmbett zusammenzustürzen, auf dem sie errichtet ist. Selbst wer nicht weiß, was ein Grundwasserleiter ist, kann das sehen. In der Kathedrale spürt man es: Der Boden wellt sich uneben, die Säulen neigen sich, und wenn man beim Gehen seine Augen schließt, fühlt man sich wie auf einem Boot. 2016 spracht Papst Franziskus zu den mexikanischen Bischöfen. Er ermahnte sie, den Drogenhandel anzuprangern und den Gemeinden dabei zu helfen, 'den Fluten zu entkommen, in denen so viele ertränken'. Gewalt wird oft auf diese Art beschrieben, aber diese Worte tönen leer in einem Gebäude, das in einer Stadt untergeht, die sich zu Tode trinkt. Es gibt unzählige Straßen mit schiefen Häusern, Geschichten von wegsackenden Grundschulen, in Itztapalapa wurde eine Kind von einem Senkloch verschluckt. Das sollte nirgendwo passieren, aber wirklich nicht in Mexiko-Stadt, wo es an mehr Tagen im Jahr regnet als in London. Die ursprünglichen Aztekenstadt Tenochtitlan wurde auf einer Insel in der Mitte eines Sees erbaut, umgeben von weiteren Seen. Bevor Cortés begann sie trockenzulegen und die Stadt für immer verwandelte, war sie so etwas wie ein Süßwasser-Venedig. In Zeiten des Klimawandels kann man das nicht mit aller Sicherheit sagen, aber Mexiko ist nicht Kapstadt. Es regnet dort viel, und der Regen wird direkt in das Abwassersystem kanalisiert. Das Problem ist nicht Wasserknappheit, sondern Missmanagement, schlechte Infrastruktur und Ungleichheit."

Weiteres: Brasiliens Autokrat Jair Bolsonaro stürzt mit seiner Strategie, Donald Trump auch in der Corona-Krise alles nachzumachen ("Affe sehen, Affe tun"), das Land ins totale Chaos, stöhnt Forrest Hylton: Das Parlament opponiert, die Gouverneure meutern, die Ökonomie stürzt ins Bodenlose: Vier Fünftel der Bevölkerung verdienen ihr Gelf in der informellen Ökonomie. Mit Begeisterung und großem Vergnügen liest Julian Barnes die versammelten Attacken von J.K. Huysmans auf die moderne Kunst des 19. Jahrhundert

Vanity Fair (USA), 30.04.2020

Jesse Hyde erzählt in einer Reportage von Jane de Oliveira, einer Lehrerin, die der Sem Terra, der Bewegung der Landarbeiter ohne Boden in Brasilien half, Land zu besetzen, dass seinerseits illegal von der stinkreichen Familie Babinski besetzt worden war. Vor Gericht hatten die Landlosen mehrfach verloren, als sie jedoch erneut Boden besetzten, heuerten die Babinskis Polizisten an, die das Problem für immer erledigten. "Wie viele Landarbeiter der Sem Terra hatte Oliveira jahrzehntelang zugesehen, wie der Regenwald stetig verschwand. Die Farm Santa Lucia liegt mehr als 1.500 Meilen von Rio de Janeiro entfernt in einem abgelegenen und gesetzlosen Gebiet etwa 30 Meilen westlich der BR 155, einer Autobahn, die durch den einstmals dichten, üppigen Dschungel führt. In den 1990er Jahren war Oliveira als alleinerziehende Mutter Anfang 20 in die Region gezogen und fand Arbeit als Lehrerin in der nahe gelegenen Gemeinde Xinguara, der traditionellen Heimat der Kayapo- und Parakana-Stämme. Das Gebiet befand sich in einem schrecklichen Wandel. Eine neue Eisenbahnlinie war durch 550 Meilen Regenwald im Norden gebaut worden, und Landspekulanten waren in die Region gekommen, um das Amazonasgebiet abzuholzen. Einheimische Bauern wurden ihres Landes beraubt, mit vorgehaltener Waffe vertrieben oder gefesselt und gezwungen zuzusehen, wie ihre Hütten verbrannt wurden. Wohlhabende Landbesitzer benutzten riesige Dreschmaschinen und teure Düngemittel für den Sojaanbau, die sie auf für China bestimmte Schiffe luden, während Kleinbauern den Boden mit Holzpflügen bestellten und die angebauten Bohnen und Yucca aßen. Die Zahl der Rinder in der Region stieg von 22.500 auf 2,2 Millionen - die größte Rinderherde des Landes. Heute sind fast 20 Prozent des Regenwaldes in der Region zerstört, und die obersten zwei Prozent der brasilianischen Landbesitzer besitzen mehr Land als die Fläche von England, Frankreich, Deutschland und Spanien zusammen. Oliveira kam in die Region, als die landlosen Arbeiter gerade anfingen, sich zu wehren. Bis 1997, ermutigt durch einen Regierungsbeschluss zur Umverteilung von Millionen Hektar ungenutzten Ackerlandes, hatten 350.000 Familien in ganz Brasilien legal Land erhalten, indem sie 1.300 Lager auf brachliegenden Grundstücken errichteten. Als die Sem Terra jedoch einen ähnlichen Ansatz im Amazonasgebiet versuchten, stießen sie auf den hartnäckigen Widerstand wohlhabender Landbesitzer - und der Polizei und der Richter, die sie schützen. Im Jahr 2017, dem Jahr, in dem Oliveira die Besetzung von Santa Lucia anführte, gab es in Brasilien mehr Morde wegen Landstreitigkeiten als in jedem anderen Land."
Archiv: Vanity Fair

Merkur (Deutschland), 01.04.2020

Der Merkur stellt die komplette Aprilausgabe frei zugänglich online. Sehr großzügig! Robin Detje ist zum Beispiel in die SPD eingetreten und kommt mit leichtem Schleudertrauma aus seiner ersten Abteilungssitzung: "Deutschland ist ein Lied mit dem immergleichen Refrain. Deutschland ist eine Platte, die hakt. Feigheit und Opportunismus, Opportunismus und Feigheit und Geldgier. Dazu diese fundamentale Unfähigkeit, sich auch überhaupt nur vorzustellen, dass ein Konflikt sich austragen ließe. Ich könnte immer die gleiche Kolumne schreiben, über das Land mit der lähmenden Zukunftsangst vor seiner eigenen Gegenwart, eine Kolumne, die dann von der Realität immer bestätigt, aber nie anerkannt werden würde, was mir in alle Ewigkeit meinen Job garantiert. Meine einzige Hoffnung ist, dass es nicht funktioniert."

Tilman Baumgärtel beobachtet, wie der Ruf von Hongkongs Polizei auf den Hund gekommen ist, seit ihr Bild vom chinesischen Staatsfernsehen und nicht mehr von den großen Regisseuren des Actionskinos bestimmt wird: "Dabei hatten Regisseure wie Johnnie To Kei-fung oder Alan Mak in den letzten Jahrzehnten die Polizei in ihren Filmen immer wieder als effektive, engagierte, unkorrumpierbare und dem Allgemeinwohl verpflichtete Institution porträtiert. Seit immer deutlicher wird, dass China versucht, in Hongkong verstärkt ins politische und kulturelle Geschehen einzugreifen, kann man diese Filme auch als einen Versuch auffassen, die Rechtsstaatlichkeit und das Potential des politischen Modells Hongkongs zu betonen. Die Gesetzestreue seiner Polizei fungierte immer als Lackmustest einer fairen, regelbasierten öffentlichen Ordnung, die es in China nicht gibt."

Weiteres: Johanna Hedva liest Benjamin Mosers bisher nur auf Englisch erschienene Susan-Sontag-Biografie. Marcus Twellmann widmet sich dem Konzept der Urbanormativität, mit dem Gregory M. Fulkerson und Alexander R. Thomas urbane Dominanz gegenüber dem ländlichen oder peripheren Raum beklagen, und stellt fest: Auch wenn Populisten gegen eine Vorherrschaft der Städte Stimmung machen, lässt sie sich nicht ganz leugnen. Felix Heidenreich betrachtet Emanuel Macrons Strategie der digitalen Souveränität.
Archiv: Merkur

La regle du jeu (Frankreich), 18.03.2020

Claude Sitbon zeichnet ein sehr liebevolles Porträt des tunesisch-jüdisch-französischen Autors Albert Memmi, der im Dezember hundert Jahre alt geworden wäre. Der Sohn eines Sattlers aus Tunis nahm an der Dekolonisierung teil und sagte: "Ich habe den Nationalisten geholfen und wusste, dass ich keinen Platz in diesem Abenteuer habe." Memmi war überzeugter Zionist, zog aber das Exil in Paris vor, wo er im Umkreis von Sartres Zeitschrift Les temps modernes publizierte. In seinem letzten Buch, "Porträt eines Kolonisierten" (mehr hier), spricht er über jüdische Identität. Wie komplex Identität war, bevor das grauenhafte 20. Jahrhundert mit seiner ethnischen Bereinigung der Territorien kam, beschreibt Sitbon, indem er Memmis Kindheit schildert: Seine Familie wohnte am Rand des jüdischen Ghettos von Tunis, in Hara. Das war "kein Zufall, sondern zeugte von den Bindungen zu der Gemeinde und zugleich von kommerziellem Interesse. Die Halfter, die sein Vater François mit seinem italienischen Arbeiter Peppino fertigte, verkaufte er an maltesische Kutscher oder Wagenführer in der Stadt Gabès. Seine Frau war Berberin reinster Herkunft, die nur das jüdische Arabisch sprach, während François sich auf Arabisch, Maltesisch, Italienisch und ein wenig auf Französisch verständigen konnte. Der Duft des Leders, die jüdischen und arabischen Handwerker, die Familien- und Sprachtraditionen waren für Memmi eine Quelle der Inspiration und Reflexion." Memmi war ein früher Theoretiker des Rassismus. Die Wikipedia zitiert eine Definition, die den heutigen Antirassismus aus seinen intellektuellen Sackgassen führen könnte: "Der Rassismus ist die verallgemeinerte und verabsolutierte Wertung tatsächlicher oder fiktiver biologischer Unterschiede zum Nutzen des Anklägers und zum Schaden seines Opfers, mit der eine Aggression gerechtfertigt werden soll." Einige Bücher Memmis wurden von den sechziger bis achtziger Jahren übersetzt - vielleicht Zeit für ein paar Neuauflagen oder Übersetzungen?
Archiv: La regle du jeu

New Yorker (USA), 06.04.2020

In der aktuellen Nummer des Magazins erläutert der Arzt und Autor Siddharta Mukherjee, wie sich das Coronavirus im menschlichen Körper verhält, und stellt Überlegungen zur viralen Exposition insbesondere des Pflegepersonals an: "Im weiteren Verlauf der Pandemie wird es möglich sein zu beantworten, wie die Intensität der viralen Exposition den klinischen Verlauf von COVID-19 beeinflusst … Wie wird das den Umgang mit Patienten, Krankenhäusern und der Bevölkerung verändern? Beginnen wir mit der Beziehung zwischen Expositionsintensität und Infektion. Wie behandeln wir Menschen, die mit Radioaktivität arbeiten? Mit Strahlendosimetrie quantifizieren wir die absolute Dosis und setzen Limits. Wir wissen, wie schwierig es für Ärzte und Schwestern ist, die Exposition mit Corona durch Schutzmasken, Handschuhe u.a. zu begrenzen. Aber bei denen, die an der Front der Pandemie arbeiten, vor allem da, wo es an entsprechender Ausstattung fehlt, müssen wir auch die absolute Expositionsdosis im Blick behalten, sodass ein Individuum nicht wiederholt mit hoch ansteckenden Patienten in Kontakt kommt. Das Verhältnis von Dosis und Krankheitsgrad kann andererseits den Umgang mit Patienten beeinflussen. Wenn wir Patienten, die einer hohen Virus-Dosis ausgesetzt waren, noch vor dem Auftreten von Symptomen identifizieren können, jemand der mit multipel erkrankten Familienmitgliedern zu tun hatte, oder eine Krankenschwester, die eine Reihe Patienten mit hoher Virusdosis betreut hat, könnten wir einen schweren Verlauf vorhersagen und im Fall von Ressourcenknappheit Prioritäten setzen, sodass solche Kandidaten früher, schneller, intensiver behandelt würden. Schließlich könnte die Betreuung von COVID-19-Patienten sich verändern, wenn wir anfingen, die Virenmenge zu zählen. Diese Parameter könnten im Labor einfach und kostengünstig in zwei Schritten festgestellt werden: Zuerst müssten infizierte Patienten identifiziert und dann die Virenmenge durch Nasen- und Rachenabstriche bestimmt werden, vor allem bei solchen, die mutmaßlich die höchste Behandlungsstufe erhalten. Viruenmenge und therapeutische Maßnahmen miteinander in Beziehung zu setzen, könnte zu neuen Strategien der Behandlung und der Quarantäne führen."

Außerdem: Elizabeth Kolbert zeigt, wie Pandemien die Menschheitsgeschichte beeinflusst haben. Jill Lepore vertieft sich in eine Geschichte der Einsamkeit. Jiayang Fan erzählt in einem Brief aus Yangquan, wie die sozialen Veränderungen in China auch das Sterben verändert haben. Rachel Aviv porträtiert die Butoh-Tänzerin Sharon Stern. Alex Ross besuchte die Premiere von "Sweet Land", einer Oper von Raven Chacon and Du Yun, in einem Park in Los Angeles. Sheila Heti wirft einen Blick in Tove Jonassons privates Universum. Hilton Als liest Gedichte von Carolyn Forché. Und Hua Hsu amüsiert sich mit Gute-Laune-Musik von Yaeji. Das tun wir jetzt auch:

Archiv: New Yorker

A2 (Tschechien), 31.03.2020

Die tschechische Soziologin Tereza Stöckelová spricht in einem Beitrag in A2 über die neue Virokratie. "SARS-CoV-2 erwischte die Menschheit in der Regierungszeit einiger Politiker, die die Gesellschaft radikal spalten, wie Donald Trump, Boris Johnson oder bei uns Andrej Babiš. Für deren Ablösung existieren jedoch keinen vernünftigen Rechtsmechanismen. Die Virokratie ersetzt nun die Demokratie nicht deshalb, weil jemand das angezettelt hätte, sondern vor allem weil der Virus selbst es verlangt. Demonstrationen gegen die verhängten Maßnahmen finden nicht deshalb keine statt, weil die Demonstranten nicht ausreichend Courage besäßen, sondern weil sie andere anstecken könnten, zumal die, die ihnen politisch am nächsten stehen. Parlamentssitzungen werden nicht aus Mangel an politischer Energie aufgehoben, sondern weil klar ist, dass früher oder später der Virus selbst sie auflösen würde. Derjenige, der heute einen Spitzenpolitiker absetzen oder zeitweilig aus dem Verkehr ziehen kann, ist so vor allem der Virus selbst, der die betreffende Person in Quarantäne oder auf die Intensivstation schickt. Verfassungsrechtler denken jetzt darüber nach, wie sich ein physisch nicht zusammenzubringendes Parlament zusammenrufen lässt, das gegebenenfalls den Ausnahmezustand verlängert, und vor allem, wie sich die demokratische Verantwortlichkeit der Regierung aufrechterhalten lässt, wenn ihr gängiges Funktionieren in einem Monat aus epidemologischen und gesundheitlichen Gründen nicht mehr möglich ist. Gegenwärtig bleibt uns jedenfalls nichts anderes übrig, als unsere ungeliebten Führer mit all ihren Schwächen und Makeln zu unterstützen und ihre Fehler und Mängel in der Zusammenarbeit und nicht in Feindschaft zu korrigieren. Die Alternative zur gegenwärtigen Virokratie ist nämlich die Anarchie, und nicht der demokratische Alltag. Die Schlüsselrolle für uns alle wird natürlich sein, darauf aufzupassen, dass das Regime der Virokratie ein befristetes bleibt, und dass wir die wichtigen demokratischen Streitigkeiten und Kontroversen wieder aufnehmen, sobald es möglich ist."
Archiv: A2

Magyar Narancs (Ungarn), 27.03.2020

Im Interview mit Máté Pálos denkt der Schriftsteller Ferenc Barnás über die Bedeutung der Sprache bei der Beobachtung psychischer Vorgänge nach. "Die vielleicht wichtigste Erfahrung meines Erwachsenendaseins ist, dass eine minimale, kaum wahrnehmbare psychische Veränderung das Ergebnis von unglaublich viel Arbeit ist. Für mich ist es auch eine große Erkenntnis, dass Entwicklung überhaupt möglich ist. Ich bin ein notorischer, krankhafter Selbstbeobachter und ich bin der Ansicht, dass kleinkindliche Traumata uns für Jahrzehnte in unsere Schicksale einsperren. Ich halte mich für einen privilegierten Menschen, denn das Leben erlaubte mir, dass ich mit solchen Zuständen arbeiten konnte. Ich traue der Psychologie und den professionellen Helfern nicht. Und ich schreibe nicht, weil ich irgendjemandem helfen möchte. Aber aus diesen extremen Bewusstseinszuständen erfahre ich vielleicht ein klein wenig mehr über die Welt, und ich kann dazu beitragen zu erkennen, warum wir so sind, wie wir sind. Die wirklich bedeutenden Verschiebungen entstehen aus winzig kleinen Veränderungen. Die große Leistungen der Literatur handeln zum Teil davon, dass die Schriftsteller der Funktion des Hirns eine eigene Sprache zuweisen."
Archiv: Magyar Narancs

New York Times (USA), 29.03.2020

Für die neue Ausgabe des New York Time Magazines spricht David Marchese mit dem Food-Guru David Chang (Momofuko Noodle Bar) über die Überlebenschancen für Restaurants in der Corona-Krise: "Ich denke, dass die Todesrate in der Service- und Restaurant-Industrie hoch sein wird, ausgenommen die großen Ketten. Der vielseitige Mix, der das Essen hier so spannend macht, könnte verschwinden. Sogar in guten Zeiten ist es hart für Köche, Kredite zu bekommen. Ob die Regierung den Restaurants Anschubkredite verschafft wie 2008 der Autoindustrie, bezweifel ich. Vielleicht sollte man zuerst den Immobilieneigentümern helfen und so den Restaurantbesitzern … die meisten Restaurants zahlen ja Miete. Das nächste wären Zahlungserlässe. Wir sind mit Lebensmittelanbauern, Händlern etc. eng verbunden. Kann ein Restaurant seine Rechnungen nicht bezahlen, ist das ein Problem. Und der finanzielle Ausfall an jedem Schließtag ist extrem hoch, wegen der schnell verderblichen Zutaten und so weiter. Es ist ein sehr anfälliges Geschäft. Ich kenne erfolgreiche Köche, die noch ein paar Tage aushalten können, und dann? Wenn schon Toprestaurants in Schwierigkeiten sind, wie dann erst ein Migrant, der gerade seinen eigenen Pizzaladen eröffnet hat, um dem Amerikanischen Traum zu folgen?"

Außerdem: Mattathias Schwartz über die ökonomischen Folgen von Corona in den USA. Und Heidi Julavits berichtet von einem Trip nach Italien in Zeiten des Virus.
Archiv: New York Times
Stichwörter: Coronakrise, Corona, Autoindustrie