9punkt - Die Debattenrundschau

Die Robben, die für Greenpeace spenden

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
09.03.2015. In der FAZ schreibt Viktor Jerofejew eine großartige Hommage auf Boris Nemzow. Im Tagesspiegel erklärt Orlando Figes, warum Putin in der Tradition von Stalin steht. Berliner Zeitung und Welt denken über den Geschichts- und Kulturmord durch IS-Milizen und Boko Haram nach. Der Guardian erzählt, wie die BBC die Whistleblower aus ihren eigenen Reihen behandelte, die die Machenschaften des BBC-Moderators Jimmy Savile enthüllten. Taz und SZ präsentieren neue Modelle der Zahlbarkeit.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 09.03.2015 finden Sie hier

Europa

Russland-Historiker Orlando Figes sieht Putin im Interview mit Christian Schröder vom Tagesspiegel in der Tradition Stalins: "Die Angst hatte sehr viel Macht, die Sowjetbürger haben sie nicht ständig empfunden, aber sie hat sich tief in ihre Seelen hinabgesenkt. Die Kultur der Angst verhinderte das Entstehen einer politischen Opposition, sie verhinderte sogar, dass die Menschen sich bewusst machten, was in ihrem Land geschah, und darüber sprachen. Daraus entstand eine Art indirekter Akzeptanz. Man könnte es als Loyalität zu dem System bezeichnen, sogar bei den Menschen, die unter dem System litten."

Viktor Jerofejew schreibt in der FAZ eine großartige Hommage an Boris Nemzow: "Ich schreibe unter Tränen. Boris Nemzow war mein Freund. Das Wichtigste aber ist jetzt, dass er ein Freund Russlands war, ein echter, ergebener, furchtloser Freund. Wenn Sie wollen, sein Ritter. Er wollte Russland schützen vor dem qualvollen Abdriften in die Isolation, in den Abgrund, in den Wahnsinn. Er zweifelte keinen Moment, dass Russland noch zu retten und in den Kreis der europäischen Länder zurückzuführen sei. Russland - und das meine auch ich - ist noch zu retten. Boris hingegen nicht, er wurde von gut geschulten Dreckskerlen erschossen."
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Politik

Nikolaus Bernau beschreibt in der Berliner Zeitung, wie wohlkalkuliert die Zerstörungen der assyrischen Kulturgüter sind und welche Bedeutung sie für die Gotteskrieger haben: "Öffentliche Museen und Bibliotheken sind nämlich eine Gefahr. Sie zeigen assyrische Statuen oder iranische Miniaturen mit der Darstellung Mohammeds. Wer sie sieht, kann denen nicht mehr absolut glauben, die behaupten, die Welt vor dem Islam sei unfähig gewesen. Solche Sammlungen sind tödlich für jeden totalitären Versuch, die Welt aus einem Guss zu erklären."

Im taz-Interview mit Sabine Vogel spricht mit der Aktivistin Nareen Shammo über Hilfe für jesidische Frauen, die in die Hände des Islamischen Staates geraten sind: "Die Mädchen und Frauen sind nicht nur Geiseln, der IS benutzt sie als Sexsklavinnen, sie werden verkauft und als Geschenk in alle möglichen Länder verschickt. Es ist eine furchtbare Situation, die uns große Angst macht. Unter den Entführten sind auch 1.500 Kinder. Sie werden zu Dschihadisten erzogen. Und die irakische Regierung schaut zu."

Außerdem: In der Welt erkennt unterdessen Richard Herzinger zum IS: "Dieser "Staat" ist kein geschichtliches, sondern ein situationistisches Projekt - Tat und Ziel verschmelzen, die grauenvolle Utopie realisiert sich in dem Moment in ihrer unverstellten Wucht, in dem die Terroristen ihr Mord- und Zerstörungswerk beginnen." Johannes Boie berichtet in der SZ, dass Twitter 40.000 Accounts von mutmaßlichen Dschihadisten gelöscht hat. Und weil ihnen dasselbe mit Facebook droht, haben sie jetzt angeblich ihren eigene Socialkit-Klon gestartet: 5elafabook.com, was irgendwie an Kalifat erinnern soll.

Bundespräsident Joachim Gauck hat letzte Woche die Hilfsorganisation Terre des Femmes zu einer Veranstaltung gegen Gewalt im Namen der Ehre eingeladen. Die Schauspielerin Sibel Kekilli hielt eine Rede "An Väter, Brüder, Ehemänner", die die FAZ nachdruckt: "Warum vertreibt ihr mich? Warum muss ich weg, wenn ich nicht den mit Regeln vollgepflasterten Weg gehe, den ihr mir aussucht. Warum wollt ihr mir ein Korsett aus starren Regeln und Pflichten überstreifen und immer fester schnüren, wenn ich so doch nicht mehr atmen kann? Wieso könnt ihr Freiheit nicht einfach als Wert für alle anerkennen? Ihr müsst mich und meine Wünsche ja nicht unbedingt verstehen, sondern respektieren."

Markus Decker fasst in der Berliner Zeitung die gestrige Sendung von Günther Jauch über Russland zusammen, in der Boris Nemzows sehr mutige Tochter Zhanna Nemzow aufgereten ist, neben dem Staatsjournalisten Wladimir Kondratiev und einem friedenssehnsüchtigen Matthias Platzeck "am Rande der demokratischen Selbstverleugnung".
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Ideen

(Ergänzt und korrigiert um 10.04 Uhr) Der französische Premieminster Manuel Valls fällt mal wieder durch eine überraschend hellsichtige Äußerung auf. Der linke und populäre Philosoph Michel Onfray hat in Le Point - hier etwas verkürzt - gesagt, er ziehe zur Not eine korrekte Analyse des rechtsextremen Philosophen Alain de Benoist einer inkorrekten von Bernard-Henri Lévy vor. Darauf Manuel Valls laut Huffpo.fr in einem Radiointerview: "Wenn ein bekannter, von vielen geschätzter Philosoph wie Michel Onfray sagt, dass Alain de Benoist, der die Neue Rechte in den Siebzigern und Achtzigern formte und in gewisser Hinsicht die ideologischen Grundlagen für den Front national legte, besser sei, als Bernard-Henri Lévy, dann muss man wohl sagen, dass hier die Maßstäbe verloren gehen." Michel Onfray verwahrt sich in einem Blogeintrag gegen Valls" Darstellung.
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Überwachung

Die Spiegel-Meldung, dass die Bundesregierung die Vorratsdatenspeicherung nun doch wieder in nationalem Alleingang betreibe, wurde inzwischen von der SPD dementiert. Markus Beckedahl kommentiert in Netzpolitik: "Wir würden jetzt nicht unsere Hände für die SPD ins Feuer legen, dass die bei ihrem Nein bleibt. Wir wünschen aber viel Erfolg beim Standhalten. Es gilt wohl noch unsere Einschätzung von Ende Januar: Vorratsdatenspeicherung auf EU-Ebene: Kommission prüft neue Richtlinie - und Ausweitung auf Social Media. Bisher nicht dementiert wurde die Information aus demselben Spiegel-Artikel, dass der Verfassungsschutz mehrere hundert Stellen bekommen soll - weit mehr als in dem von uns geleakten Gesetzentwurf versprochen wurden."

Constanze Kurz wendet sich in ihrer Maschinenraum-Kolumne in der FAZ gegen das besonders in angeblich liberalen Kreisen modische Kleinreden von Edward Snowden: "Die beliebtesten Argumentationsmuster der "Snowden-Zweifler" sind strukturell schon deswegen erheiternd, weil sie sich der gleichen Mechanismen bedienen wie jene sonst von denselben Leuten verlachten Verschwörungstheoretiker, die man neudeutsch "Truther" nennt."
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Medien

Die taz braucht ein neues Geschäftsmodell. Geschäftsführer Kalle Ruch überlegt, wie man Journalismus gemeinnützig machen kann, und präsentiert eine Kampagne für die Abo-Spende von 5 Euro im Monat, damit die taz im Netz kostenlos bleiben kann: "Warum sollen es nicht zwanzigtausend statt zweitausend werden, die mit ihrem Beitrag den unabhängigen Journalismus der taz auch im Internet unterstützen. Weil man taz.de ja auch gratis lesen kann? Die Zeit ist reif, einen Irrtum zu korrigieren. Wäre taz.de gemeinnützig, würde es unmittelbar einleuchten, dass die Unterstützer einer Idee nicht immer auch die Nutznießer derselben sein müssen. Es sind ja auch nicht die Robben, die für Greenpeace spenden."

SZ-Chefredaktuer Stefan Plöchinger ist schon mal dabei: "Vielfalt kostet. Übrigens deutlich weniger als ein täglicher Coffee to go - selbst wenn man taz und SZ zusammen abonniert, und das nicht nur zu Münchner Preisen."

Nicht nur die Bild-Zeitung beherrscht den Kampagnenjournalismus, meint Medienforscher Stephan Russ-Mohl im Tagespiegel: "Neben diesen Altmeistern des Kampagnenjournalismus in der Bundesrepublik wären auch Frank Schirrmacher oder ARD und ZDF zu nennen. Letztere vergessen zumindest, wenn es um den Rundfunkbeitrag geht, all ihre öffentlich-rechtliche Verpflichtung zur Ausgewogenheit und berichten zu diesem Thema seit Jahr und Tag vorhersehbar einseitig. Auch das ist wohl eine Spielart von Kampagnenjournalismus."

ARD-Vorsitzender Lutz Marmor sagt unterdessen im Interview mit Joachim Huber vom Tagesspiegel: "Wir brauchen dafür mehr Freiheiten im Netz, sonst macht ein reines Online-Angebot keinen Sinn."

Nick Cohen erzählt im Guardian die traurige Geschichte des Meirion Jones, der der BBC einen der größen Scoops ihrer Geschichte brachte, wenn sie ihn denn gesendet hätte - die Geschichte des einstigen Nationaldenkmals und BBC-Moderators Jimmy Savile, der ein Kinderschänder war. Aber die BBC brachte den Scoop nicht. Und "vor einer Woche teilten Jones Vorgesetzte ihm mit, dass sein Zeitvertrag bei der Sendung Panorama beendet sei. Er hätte in seinen alten Job zurückgehen könne. Aber da war kein alter Job. Er war gefeuert. Jones" Reporterin in dem Savile-Film war Liz MacKea, die über das Elend der Machtlosen berichtet, ob vergewaltigte Kinder in Britannien oder Schwule in Putins Russland. Aber sie sprach sich aus, und die BBC feuerte auch sie."

In der SZ weiß Christiane Schlötzer, warum in der Türkei mittlerweile weniger Journalisten in Haft sitzen: Erdogan hat die meisten Medien durch Selbstzensur und Korruption auf Linie gebracht.
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