9punkt - Die Debattenrundschau

Auf eure und unsere Freiheit

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
01.03.2022. Im Standard wirft die ukrainische Femen-Aktivistin Inna Schewtschenko der russischen Opposition Feigheit vor. In der FAZ dringt Olga Martynova darauf, nicht die Unfreiheit der Menschen in Russland zu vergessen. In der Nachtkritik nennt Sasha Marianna Salzmann es Stalins Werk, dass in der Ukraine heute Russisch gesprochen wird. Auf ZeitOnline möchte  Hedwig Richter unseren Himmel voller Gendersterne auch mit Waffengewalt verteidigen. Der SZ geht die Zeitenwende zu schnell.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 01.03.2022 finden Sie hier

Europa

"Die Ukraine kämpft diesen Krieg für Europa. Putin wird nicht hier haltmachen", sagt die Femen-Aktivistin Inna Schewtschenko im Standard-Interview mit Colette M. Schmidt, in dem sie auch aktive militärische Interventionen fordert und der Opposition in Russland Feigheit vorwirft: "Die Einzigen, die Putin stoppen können, sind die Russinnen und Russen, sie haben zu lange zugesehen, ihn zu lange geduldet und wiedergewählt. Ich bin komplett desillusioniert und enttäuscht von der Opposition in Russland. Schön, dass ein paar Tausend in Petersburg und Russland jetzt demonstrieren, aber das ist in Proportion zu diesem riesigen Land gar nichts. Ich weiß, wenn sie demonstrieren, müssen sie mitunter 15 Tage ins Gefängnis, aber das ist nichts im Vergleich zu dem, was die Menschen in der Ukraine gerade so tapfer durchmachen."

Putin führt nicht nur Krieg gegen die Ukraine, sondern auch gegen die Freiheit der Menschen in Russland, betont die Schriftstellerin Olga Martynova in der FAZ: "Als 1968 die Panzer des Warschauer Pakts in die Tschechoslowakei einmarschiert waren, demonstrierten acht Menschen auf dem Roten Platz in Moskau dagegen, die innerhalb von wenigen Minuten verhaftet wurden. Unter ihnen war die Dichterin Natalja Gorbanjewskaja, die ich glücklicherweise in ihren späten Jahren kennenlernen durfte, sie wurde zuerst in der Zwangspsychiatrie behandelt und konnte später nach Frankreich emigrieren. Es gab damals einen gemeinsamen Spruch der russischen, osteuropäischen und in den nationalen Sowjetrepubliken lebenden Intellektuellen: 'Auf eure und unsere Freiheit!' Man sollte sich an diesen Spruch erinnern."

In der taz berichtet Inna Hartwich vom mutigen Protest der Russen gegen den Angriff (zu dem sie aber nicht die wachsweichen Erklärungen der Oligarchen zählen würde): "Die Angst ist groß in Russland. Aber auch das Entsetzen. Mehr als 6.000 Ärzt*innen unterschrieben einen offenen Brief: 'Vor Schmerzen schreien alle in einer Sprache.' Lehrer*innen schrieben: 'Jetzt zu schweigen wäre schrecklich. Es wäre eine Schande.' Wissenschaftler*innen legten dar: 'Die Verantwortung trägt Russland allein. Es ist ein fataler Schritt ins Nirgendwo.'"

Wir wussten seit langem, dass Putin die Sowjetunion zurückhaben will, sagt Sasha Marianna Salzmann im Nachtkritik-Interview mit Esther Slevogt, in dem sie auch noch einmal in die traumatische Geschichte der Ukraine zurückblickt: "Stalin hat den Zusammenschluss der Völker in der Sowjetunion erzwungen. In der Ukraine gab es von Anfang an sehr klaren Widerstand von den Intellektuellen und der Politik. Die hat Stalin gezielt ausgerottet - schöner kann man das leider nicht formulieren. Der größte Angriff auf die Ukraine in dieser Zeit ist der Holodomor. Das ist ein Genozid, der als solcher noch immer nicht anerkannt worden ist: Stalins Hungerkrieg gegen die ukrainische Bevölkerung. 1932/33 wurden mehrere Millionen Menschen ausgehungert. Über die genauen Zahlen streiten die Historiker:innen, weil man an die Archive nicht herankommt, von denen die meisten natürlich in Russland liegen. Aber wenn man mit Menschen in der Ukraine spricht, gibt es niemanden, der davon nicht betroffen ist. Wenn also Wladimir Putin heute sagt, in der Ukraine werde russisch gesprochen, dann ist das auch Stalins Werk."

In der FAZ schöpft der Osteuropa-Historiker Jörg Baberowski gerade aus Russlands imperialistischen Traditonen Hoffnung: "Man mag ukrainische Nationalisten und ihre Rhetorik ablehnen, aber die meisten Russen sehen ihre Nachbarn in Odessa, Charkiw und Kiew, mit denen sie eng verbunden sind, nicht als ihre Feinde. In den Großstädten Russlands haben sich viele junge Menschen vom sowjetischen Erbe ohnehin längst verabschiedet. Befände sich Russland im Krieg mit der NATO, es fiele Putin leichter, sich vor der eigenen Bevölkerung für einen aufopferungsvollen Kampf zu rechtfertigen. Mit anderen Worten: Es ist die Sehnsucht nach dem Imperium, die der Gewalt das Wort gibt und sie zugleich begrenzt."

"Bismarck wird der ironische Satz zugeschrieben, dass niemals so sehr gelogen werde, wie im Krieg und bei der Jagd. Meiner Ansicht nach ist das nur teilweise richtig. In Wahrheit ist der Krieg, um es in Anlehnung an einen bekannten Satz von Beaumarchais zu sagen, ein ehrlicher Mann", schreibt der russische Journalist Alexander Golz in einem Text auf Republic.ru, den Osteuropa übersetzt: "Je länger der Krieg dauert, desto deutlicher wird die Fähigkeit (oder Unfähigkeit) der militärischen Führung, die kriegführenden Truppen zu versorgen. Jeder Krieg, selbst einer, der ursprünglich als kleine, siegreiche Spezialoperation geführt werden sollte, wird unweigerlich zur Zerreißprobe für den gesamten Staatsapparat. Ich bin nicht sicher, ob das heutige Russland diese Probe besteht."

Die Sanktionen allein werden Putin nicht zum Einlenken bringen, fürchtet Simon Jenkins im Guardian, es braucht auch Diplomatie: "Die Realpolitik sagt, dass jemand Putin dazu bringen muss, seine Armeen zurückzuziehen und einzuräumen, dass seine Strategie der Pufferzone gescheitert ist. Vermittlung muss Worte finden, um diesen Rückzug zu kaschieren, wie schmerzhaft es auch immer sein mag, diese Worte zu schlucken."

In der FR lässt sich Harry Nutt nicht von Wladimir Putins Machtgebaren täuschen, Russland offenbare ein gewaltiges gesellschaftliches Modernisierungsdefizit: "Putins Russland hat nichts im Angebot, auf das die Welt wartet, sieht man einmal von den Gasreserven ab, die zugleich die wichtigste Einnahmequelle des Landes sind. Und selbst das Gas ist Relikt einer alten Welt, in der fossile Energiewirtschaft selbstverständlich war."

In La règle du jeu besingt Bernard-Henri Levy mit dem ihm eigenen Pathos die Größe Wolodimir Selenskis, der als Schauspieler wie Ronald Reagan oder Beppe Grillo begonnen hat, um dann über sich hinauszuwachsen: "Was ist Größe? Die wahre große Größe, wie sie das europäische Rittertum gelehrt hat? Vielleicht ist es das. Dieser ruhige und stolze Heroismus. Diese Seite von Salvador Allende am Vorabend der Erstürmung der Moneda durch Pinochets Todesschwadronen. Diese Art, Biden zu antworten, als er ihm anbot, ihn herauszuholen: 'Ich brauche Munition, kein Taxi' - und zu Putin, diesem Pinochet von heute: 'Sie können versuchen, mich zu töten, ich bin dazu bereit, denn ich weiß, dass eine Idee in mir lebt und mich überleben würde.'"

Weiteres: In der SZ setzt Oxana Matiychuk ihr Ukrainisches Tagebuch fort, und Kathrin Kahlweit erinnert daran, wie modern und kosmopolitisch das ostukrainische Charkiw ist, das sich Russland bereits 2014 einverleiben wollte: "Tatsächlich gab es ein wochenlanges Ringen, proeuropäische Aktivisten marschierten gegen prorussische Kräfte, es gab Straßenschlachten, Terroranschläge, Tote." Anders als Stalin gibt sich Putin nicht einmal mehr die Mühe, seine Untaten mit ehrenwerten Motiven zu kaschieren, befindet Klaus Hillenbrand in der taz: "Wenn es ein durchgängiges Motiv für das Verhalten der Moskauer Kriegstreiber gibt, dann ist es: der überbordende Nationalismus." Tania Kibermanis, deren lettischer Großvaters mit der Wehrmacht nach Deutschland kam und 1956 nach Lettland zurückging, prangert in der taz die russische Manipulationsmaschinerie an. In einem Artikel, der vor Ausbruch des Krieges geschrieben worden zu sein scheint, ärgert sich der ukrainische Schriftsteller Mykola Rjabtschuk über westliche Medien, die von der Ukraine-Krise gesprochen haben statt von einer Russland-Krise, aber mehr noch über eine Politik, die sich nicht schon viel früher von Russland abwandte.
Archiv: Europa

Politik

Es ist schön und richtig, dass im Westen der Himmel voller Gendersterne und Schneeflöckchen hängt, findet die Historikerin Hedwig Richter auf ZeitOnline, wenn wir die deutsche Friedensliebe nur lächerlich machten, hätte Militarist Putin schon gewonnen. Dennoch begrüßt sie das neue "Verhältnis zur eigenen Landesverteidigung": "Tatsächlich ist die Wehrhaftigkeit der Demokratie die zweite Lehre aus den Weltkriegen - neben dem Frieden. Europa schien diese Lektion weitgehend vergessen zu haben und Deutschland hat sie seit den Achtzigerjahren systematisch verdrängt. Das hat auch damit zu tun, dass diese zweite Lehre moralisch widersprüchlicher und ästhetisch weniger ansprechend ist. Zunehmend verzichteten die deutschen Söhne insbesondere bürgerlicher Familien darauf, den Wehrdienst zu leisten; die Verachtung gegenüber dem Militär wurde unverhohlen. Der Hass, den Soldatinnen und Soldaten immer wieder erleben, zeugt nicht nur von einer schichtspezifischen Arroganz, sondern auch von einer Unfähigkeit, sich der blanken Wahrheit zu stellen: Auch im 21. Jahrhundert müssen wir die Demokratie mit militärischer Gewalt verteidigen."

In der SZ geht Sonja Zekri die Zeitenwende zu schnell. Schwindelerregend findet sie, wie Deutschland auf einmal aufrüstet, selbst Robert Habeck längere AKW-Laufzeiten nicht mehr "ideologosch abwehren" will und eine auf Verhandlungen setzende Außenpolitik als verstockt gilt: "Als wäre beim Machtantritt Putins alles schon klar gewesen, als wären die Gesprächsversuche deutscher Außenpolitiker mit Russland allesamt nur Wunschdenken entsprungen oder, schlimmer noch: wirtschaftlichem Opportunismus. Als hätte Deutschland durch seine Beziehungen zu Russland nicht auch jenen Russen Wege und Möglichkeiten offengehalten, die für ein humaneres, weniger imperiales, moderneres Russland stehen. Auch wenn das gerade untergeht: Die Verhandlungen Steinmeiers, Gabriels, Merkels mit Putin gründeten ebenso auf westlichen Werten und deutschen Interessen wie die Entscheidung der jetzigen Bundesregierung auf- und nachzurüsten."

Gustav Seibt resümiert ebenfalls in der SZ die großen Demonstrationen vom Wochenende, die er nicht umstandslos in die Reihe der Demonstrationen gegen Nato-Nachrüstung und Irakkrieg einsortieren möchte: "Die Demonstrationen von 1983 und 2003 waren ans eigene Lager gerichtet, an die Nato und an die Vereinigten Staaten. Das machte sie noch nicht realpolitisch wirksam, aber doch kommunikativ aussichtsreicher als eine Anti-Putin-Demonstration. Das eigene Lager war immer noch Teil derselben Öffentlichkeit, in der sich die Demonstrationen abspielten. Das war nebenbei auch immer die Antwort auf Einwände, wenn die Pazifisten gefragt wurden, warum sie nicht in gleicher Weise gegen sowjetische Kriegshandlungen protestierten: Es ist nicht unsere Welt, aussichtsreich ist Protest nur zu Hause. Daher bedeutet die Anti-Putin-Demonstration am Sonntag einen Einschnitt in der Kontinuität des Friedensengagements in Deutschland. Zum ersten Mal wurde in dieser Massivität gegen einen konkreten äußeren Feind demonstriert, der noch dazu eine Einzelperson ist, ein Autokrat."

----

"Jeder Oppositionelle in Uganda wird auf jeden Fall strafrechtlich verfolgt, wenn er sich Gehör verschafft", sagt der Schriftsteller Kakwenza Rukirabashaija, der in seiner Heimat Uganda wegen kritischer Bücher und Tweets verschleppt und gefoltert wurde und nun nach Deutschland fliehen konnte im Welt-Gespräch mit Mladen Gladic. "Das Rechtssystem in Uganda ist kaputt, weil die gesamte Justiz unter der Fuchtel eines Diktators steht. Er ernennt Richter, die alle Regeln ignorieren. Wir haben Gesetze. Die Menschenrechte sollten in Uganda gelten und es gibt auch ein Gesetz gegen Folter. In meinem Fall hat der Richter sie nicht beachtet. Obwohl er sehen konnte, dass ich gefoltert worden war, ignorierte er diese Gesetze. Stattdessen hat er sich mit einem Diktator verbündet, um mich politisch zu verfolgen. Die Autoritäten haben sich über die Habeas-Corpus-Regel hinweggesetzt, die mir ein Recht auf Erscheinen vor Gericht garantiert. Aber selbst als ich dann vor Gericht gestellt wurde, beachtete der zuständige Richter meine Rechte nicht. Als ich schließlich auf Kaution freigelassen wurde, entzog man mir meinen Reisepass, und als ich beantragte, ihn zurückzuerhalten, um Zugang zu medizinischer Versorgung zu bekommen, weigerte man sich, ihn mir zurückzugeben."
Archiv: Politik

Gesellschaft

Voller Abscheu vor der neubürgerlichen Welt mit ihrer Diversität, Linksliberalität und ihren infantilen Lifestyle-Attributen vom Lastenrad bis zur Yoga-Matte reicht es Alexander Grau in der NZZ nicht mehr, auf traditionelle Werte zu setzen. Es gelte anti-bürgerlich zu werden, denn Bürgertum an sich bedeute ja schon permanente Revolution: "Am Ende dieser Dauerrevolution werden alle tradierten Institutionen pulverisiert sein: Religion, Familie, Nation, Kulturkanon, Geschlecht. Alles wird fluide, beliebig, posttraditionell und austauschbar geworden sein. Bürgerlichkeit bedeutet Dekonstruktion. Und erst die Postmoderne ist wahrhaft bürgerlich. Es ist kein Zufall, dass das Bürgertum stets Träger der künstlerischen Avantgarde ist, also der Eliminierung aller Grenzen, Regeln, Gesetze und Überlieferungen in der Kunst. Die Idee einer zeitlosen Ästhetik ist aristokratisch. In der bürgerlichen Welt ist jeder ein Künstler."
Archiv: Gesellschaft
Stichwörter: Diversität, Dekonstruktion