9punkt - Die Debattenrundschau

Dunkelste Motive und gewaltige Irrtümer

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
09.07.2022. Im Guardian hofft Fintan O'Toole, dass sich die demokratische Welt von den Wunden erholen wird, die ihr Boris Johnson geschlagen hat. In der NZZ verabschiedet sich Ivan Krastev von der EU als einem Imperium der harten Budgets und weichen Ränder. Transgender-Aktivisten säen eine Kultur des maximalen Misstrauens, meint die FAZ. Aber nein, meint die FAZ, mit der Hysterie wollen die Republikaner nur Stimmen fangen.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 09.07.2022 finden Sie hier

Europa

Aufstieg und Fall von Boris Johnson haben nicht die Größe einer Tragödie, meint Fintan O'Toole im Guardian, seine politische Karriere war eher eine Farce, allerdings mit bitterem Ausgang: "Johnson har Großbritannien auf der Weltbühne herabgesetzt und es zum Freiwild für den Hohn der Tyrannen gemacht. Auch wenn Johnson mit seiner Unterstützung für die Ukraine richtig handelte, gab er gleichzeitig Wladimir Putin Grund zu der Annahme, dass der Westen nur so tue, als würde er an Rechtsstaatlichkeit glauben. Ein solcher Abstieg ist nicht nur schlecht für das Vereinigte Königreich. Er ist schlecht für die gesamte demokratische Welt. Johnson hat eine der großen historischen Demokratien in einen Staat verwandelt, in dem sein eigener Zynismus, seine Rücksichtslosigkeit und sein Mangel an Ehre zur offiziellen Politik wurden. Damit hat er es jedem Feind der Demokratie ermöglicht zu sagen, dass sie ein hohles System ist, dessen Regeln und Werte eine Täuschung sind."

Ulf Poschardt findet Boris Johnson dagegen im Welt-Newsletter Pop: "Selbst das politische Leben war ihm ein Karneval, auf dem man die Masken wechselt, um sich oder anderen einen Spaß zu bereiten. Anders als die vom Naturell eher humorlose Linke zeigte er der Welt auf diese Weise, dass Konservatismus modern sein kann, jedenfalls nicht langweilig sein muss."

Als neuen Parteichef und Premierminister müssten die Tories eine Persönlichkeit nominieren, die dem öffentlichen Leben wieder Integrität verschafft, schreibt der Guardian in seinem Leitartikel, doch wahrscheinlich wird es anders kommen: "Die Wahl wird von Parteimitliedern entschieden, die älter, südenglischer, reicher und weißer sind als das Land."

In der NZZ umreißt der Politologe Ivan Krastev, wie der Ukraine-Krieg die EU verändert, den Blick der Staaten auf sich selbst und die Idee nationaler Souveränität: "Das europäische Projekt war immer dadurch gekennzeichnet, dass man nicht bereit oder in der Lage war, die endgültigen Grenzen Europas zu definieren. Die EU war ein Imperium, das durch harte Budgets und weiche Ränder definiert wurde. Dieses war eng mit der Idee verbunden, dass Europa nicht an den Grenzen der EU endet. Die Verschiebung der EU-Grenzen war immer eine Frage der Transformation der Nachbarn. Der Krieg in der Ukraine stellt die EU jedoch nicht vor die Frage, wie sie ihre Nachbarn verändern kann, sondern vor die, wie sie sich gegen feindliche Mächte wie Russland zur Wehr zu setzen vermag, die sie verändern oder zerstören. Plötzlich werden harte und verteidigungsfähige Grenzen gefordert, selbst wenn dies mit höheren Haushaltsdefiziten verbunden ist. Und Europa und die EU werden immer kongruenter."

Für ZeitOnline protokolliert Anna Orlowa Aussagen junger russischer Friedensaktivistinnen, die selbst von ihren eigenen Familien für ihr Engagement angefeindet werden. Zum Beispiel die 20-jährige Xenia aus Leningrad, die sich blaue Vergissmeinnicht und gelbe Sonnenblumen ans Revers heftete: "Als meine Mutter nun den Button sah, schrie sie mich an, mitten auf der Straße. Sie nannte mich Faschistin und Heimatverräterin. Es fielen auch Worte wie Heuchlerin und Zombie. Sie sagte, sie werde mich nicht mehr unterstützen. Ich solle meine Sachen packen, mir eine Arbeit und eine eigene Wohnung suchen. Ich solle einfach verschwinden, am besten in die von mir so geliebte Ukraine."

In der FR erinnert Arno Widmann an die Unterzeichnung der Nato-Ukraine-Charta vor fünfundzwanzig Jahren.
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Ideen

In der taz glaubt der Psychoanalytiker Daniel Strassberg, dass sich hinter der Skepsis gegenüber Künstlicher Intelligenz dieselbe Dämonisierung der Technik verberge, die seit Jahrhunderten dem Fortschritt misstraue: "Im Mittelalter galt als lebendig, was sich von selbst bewegt, also war die mechanische Uhr das Teufelswerk schlechthin; im 19. Jahrhundert galt als lebendig, was über einen Stoffwechsel verfügt, also war die Dampfmaschine die Maschine des Teufels. Im 20. Jahrhundert galt reflexives Bewusstsein als Zeichen des menschlichen Lebens, als sein Alleinstellungsmerkmal. Deshalb ist in unseren Tagen der Computer zur Maschine des Teufels geworden, zur Maschine, die alles, was der Menschen kann, auch vermag - nur viel besser, schneller und fehlerloser. Der Mensch hat das Höchste, was Gott erschaffen hat, nicht nur nachgeahmt, sondern sogar verbessert. Dafür wird die Menschheit dereinst bestraft werden: Wie sie sich einst Gott abgeschafft hat, wird sie in Zukunft von genau jenen Maschinen abgelöst werden, die sie selbst erbaut hat."
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Gesellschaft

Im Leitartikel der FAZ missbehagt Jürgen Kaube der Stil des maximalen Misstrauens, in dem Auseinandersetzungen wie die um die Biologin Marie-Luise Vollbrecht geführt werden, die in ihrem Vortrag auf der Existenz zweier biologischer Geschlechter beharren wollte und der unter de Vorwand der Sicherheit von der Universität abgesagt wurde: "Was sich hoffentlich nicht durchsetzt, ist jener stets dunkelste Motive und gewaltige Irrtümer unterstellende, jede Aussage ins Extreme verlängernde, böswillige Stil der Auseinandersetzung. Er wäre das Ende der Diskussion. Denn Diskussion unterscheidet sich von Streit dadurch, mit den Gegnern geführt zu werden, anstatt Zustimmung zu verlangen."

Im Feuilleton der FAZ meint Frauke Steffens mit Blick auf die USA allerdings, dass Transgender-Themen auch deswegen so hochgekocht werden, weil sich über sie besonders Wähler und Wählerinnen mobilisieren lassen. Gerade fordern etwa die Republikaner, Transpersonen vom Schulsport auszuschließen, weil sie hormonelle Vorteile haben könnten: "Forscher der Fairleigh-Dickinson-Universität in New Jersey fanden heraus, dass Männer, die eine binäre Vorstellung von Geschlecht hätten, sich besonders explizit als Republikaner identifizierten... Politiker wie Floridas Senator Rick Scott haben das Potenzial erkannt: Sein 'Plan zur Rettung Amerikas', mit dem er kürzlich den Wahlkampf eröffnete, stellte den Programmpunkt 'Männer sind Männer, Frauen sind Frauen' gleichwertig neben Themen wie Kriminalitätsbekämpfung oder die Steuerpolitik. Ähnlich steht es im Programm der Republikaner von Texas. Sie beschlossen darin, Homosexualität als 'abnormal' zu bezeichnen."

In Deutschland simmert die Abtreibungsdebatte auf kleiner Flamme, aber in der SZ fragt sich Wolfgang Janisch doch, warum der Paragraf 218 im Strafrecht bleibt. Nur um eine Drohkulisse aufrecht zu erhalten? "Wenn aber das Strafrecht dem Schutz des ungeborenen Lebens nur einen eindrucksvollen Sound verpassen soll, dann ließe sich der Klang durchaus der Zeit anpassen. Dann könnten Abtreibungsregeln zuvorderst Hilfe und Unterstützung signalisieren, um den Fötus im Mutterleib zu schützen. Gewiss, diesen Schutz zu gewährleisten, ist eine bleibende Pflicht des Staates, dahinter wird kein Gericht und kein Gesetzgeber mehr zurückgehen. Doch die unpassende Symbolik des Strafrechts ist dafür nicht nötig."
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Politik

Die Ermordung des früheren japanischen Ministerpräsidenten Shinzo Abe kam wie aus dem Nichts. Ein politisches Motiv scheint es nicht zu geben, in der SZ weist jedoch Stefan Cornelius darauf hin, welche herausgehobene Rolle Abe in Japan spielte: "Wie friedliebend ist die aggressionsentzogene und enorm rücksichtsvolle japanische Gesellschaft wirklich? In Japan kann praktisch niemand privat eine Waffe besitzen, die Mordrate fällt im globalen Vergleich unter die besten zehn. Schwere Gewalt ist im öffentlichen Bewusstsein nicht präsent. 2017 gab es im gesamten Land drei durch Waffengewalt verursachte Todesfälle. Der bekannteste politisch motivierte Mord datiert zurück auf das Jahr 1960, als der Anführer der sozialistischen Partei von einem rechtsextremen Fanatiker mit einem Samurai-Schwert getötet wurde. Abe stand dafür, Japans defensive Rolle in der Sicherheitspolitik grundlegend zu ändern und das Land aus dem nach dem Zweiten Weltkrieg verordneten Pazifismus in eine sicherheitspolitische Normalität zu führen."
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Geschichte

In der taz antwortet der russische Historiker Alexander Gogun auf einen Text von Stefan Reinecke (unser Resümee), der Gogun zufolge Putins manipulative Erinnerungspolitik gleichgesetzt habe mit russischer Erinnerungskultur. Gogun pocht auf die Pluralität russischer Forschung: "Jetzt ist in Deutschland der Vorschlag eines akademischen Boykotts Russlands zu hören, obwohl die Kleptokratie in Moskau genau das will. Ihr Regime basiert auf einer schrittweisen Isolierung der Russen von der freien Welt. Deshalb muss ein Abbruch der Zusammenarbeit mit Putins Beamtenschaft - auch im historischen Bereich - gerade mit einer vielfachen Ausweitung und Intensivierung der Kontakte zur russischen Gesellschaft, auch zur Diaspora, einhergehen. In Zeiten des Internets hören auch immer mehr Menschen in Russland russischen Emigranten zu und werden das auch weiter tun."
Archiv: Geschichte