9punkt - Die Debattenrundschau

Das ist Realpolitik

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
25.07.2022. Der Osteuropahistoriker Martin Schulze Wessel attackiert auf der Gegenwart-Seite der FAZ seinen Kollegen Ulrich Herbert, der sich gegen Vergleiche des Kriegs gegen die Ukraine mit dem Zweiten Weltkrieg gewandt hatte - und die deutschen Russlandhistoriker gleich mit. Der Soziologe Hartmut Rosa kann es im Spiegel kaum fassen: Trotz der akuten Klimakrise beharrt die Ukraine auf Selbstverteidigung. Ebenfalls Im Spiegel kritisiert Natan Sznaider den Universalismus der documenta-Macher.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 25.07.2022 finden Sie hier

Europa

Ein paar Stunden nach der Einigung über Getreidelieferungen beschoss Russland den Hafen von Odessa. Ein zynisches Spiel, kommentiert Dominic Johnson in der taz: "Warum macht Russland das, fragen sich manche Beobachter - verspielt es sich damit nicht Sympathien? Die Antwort lautet: Moskau pfeift auf Sympathien. Russlands Regierung setzt einzig auf Unterwerfung durch Gewalt. Der Beschuss von Odessa ist eine Machtdemonstration. Die Botschaft: Denkt bloß nicht, ihr hättet unsere Hände gebunden, nur weil wir etwas unterschreiben."

Der Getreidedeal scheint den Russen irgendwie peinlich zu sein. Auf seiner Ägypten-Reise bekräftigte Lawrow dann auch die russischen Kriegsziele deutlicher denn je, berichtet etwa Spiegel online: "Der Diplomat erklärte, dass Russland den Sturz der ukrainischen Regierung anstrebt. 'Wir helfen dem ukrainischen Volk auf jeden Fall, sich von dem absolut volks- und geschichtsfeindlichen Regime zu befreien', sagte Lawrow am Sonntag in Kairo."

Der Politologe Alexander Gabuev von der Carnegie-Stiftung legt in einem Twitter-Thread seine Vermutung dar, warum Russland sich überhaupt auf den Getreidedeal einließ. Eigentlich hätte Russland den Westen durch den Stop der Lieferungen in die Bredouille bringen wollen. Aber "diese Taktik hat Russlands Partner in der MENA-Region alarmiert, darunter so unterschiedliche Akteure wie die Türkei, Ägypten, Saudi-Arabien, Israel und der Iran, die wirtschaftlich und politisch betroffen wären, wenn die Ströme von ukrainischem Getreide und russischem Getreide und Düngemitteln erheblich eingeschränkt würden."

Der Soziologe Hartmut Rosa kann es im Spiegel kaum fassen. Trotz der akuten Klimakrise beharrt die Ukraine auf Selbstverteidigung, und der Westen unterstützt sie noch dabei: "Rekordhitze, Rekorddürre, Rekordwaldbrände. Was tut die Politik? Sie redet von Fracking. Sie setzt auf Kohle. Sie macht saudische Ölkonzerne wieder zu den wertvollsten Unternehmen der Welt. Sie hofiert das mörderische Regime in Katar. Sie ist bereit, das Wattenmeer für Gas zu opfern  und über eine Verlängerung von Atomkraftwerkslaufzeiten nachzudenken. Wozu das alles? Sicher nur für eine kurze, traurige Phase? Nein. Diese Politik dient dazu, nicht über einen Waffenstillstand in der Ukraine reden zu müssen." Der Soziologe setzt auf einen Kompromiss unter Schirmherrschaft Chinas und der USA, "das ist Realpolitik". Bei Twitter wimmelt es schon vor Antworten auf Rosa, etwa hier vom CDU-Politiker Nico Lange.

Außerdem: In der FAZ resümiert Jürg Altwegg die Äußerungen französischer Intellektueller zum Krieg gegen die Ukraine.

Viktor Orban hat bei seiner alljährlichen Rede zur Tusványos-Sommerakademie zunächst geredet wie die Emma-Briefschreiber (man solle mit Russland verhandeln), um dann direkt rechtsextreme Töne hören zu lassen, berichtet Ralf Leonhard in der taz: "Als Dessert servierte Orbán in seiner Rede noch seine Theorie über die Vermischung verschiedener Völker in Westeuropa. Mitteleuropa mit Polen und Ungarn sei nun der eigentliche Westen, während das frühere Westeuropa bereits ein Post-Westen sei. Durch die Vermischung mit außereuropäischen Völkern habe es seine Identität aufgegeben. 'Es gibt Orte, wo sich Völker aus Europa und Völker von außerhalb Europas mischen, und Orte, wo sich europäische Völker untereinander mischen, wie in den Karpaten.' 'Wir sind keine gemischte Rasse', sagte Orbán, 'und das wollen wir auch gar nicht sein.'" Bezogen hat sich Orban dabei auf einen der seltsamer Weise fast immer französischen Klassiker des aktuellen Rechtsextremismus, Jean Raspail, dessen Roman "Das Heerlager der Heiligen" er laut Leonhard seinen Anhängern wärmstens empfahl.

Nicht nur haben die Hinterbliebenen des Olympia-Attentats von 1972 keine angemessene Entschädigung bekommen, es werden ihnen auch Akten vorenthalten, schreiben Roman Deininger und Uwe Ritzer in der SZ. Die Hinterbliebenen werden darum wohl nicht zur offiziellen Gedenkfeier kommen: "Es wäre das unwürdige Ende des würdigen Erinnerns an Olympia 1972, um das sich die Stadt München und der Freistaat Bayern 2022 redlich bemühen. Und es wäre die bittere Illustration gewaltiger Versäumnisse, Fehler und Schamlosigkeiten, die deutsche Staatsvertreter den Angehörigen ein halbes Jahrhundert lang zugemutet haben."
Archiv: Europa

Geschichte

Der Osteuropahistoriker Martin Schulze Wessel attackiert auf der Gegenwart-Seite der FAZ seinen Kollegen Ulrich Herbert, der sich in der taz gegen Vergleiche des Kriegs gegen die Ukraine mit dem Zweiten Weltkrieg gewandt hatte (unser Resümee). Wessel findet durchaus Kriterien, die die Begriffe "Faschismus", "Vernichtungskrieg" und "Genozid" auf das Geschehen anwendbar machen und verweist nebenbei auf das Buch "Is Russia Fascist? Unraveling Propaganda East and West" der französischen Historikerin Marlène Laruelle. Schulze Wessel kritisiert auch die deutschen Russlandhistoriker en bloc, die sich auch institutionell zu sehr an Russland gebunden hätten: "Unter den deutschen Russlandforschern ist auch keine Trauer über das katastrophale Ende der besonderen Beziehung zwischen Berlin und Moskau vernehmbar. Einen elegischen Ton wählte jedoch die deutsche Sektion der Deutsch-Russischen Geschichtskommission, als sie kurz nach Kriegsausbruch erklärte, dass die Gewaltausübung des 20. Jahrhunderts kein Mittel der Politik des 21. Jahrhunderts sein dürfe, dabei aber Russland als Angreifer nicht nannte. Die Resolution endet mit der lateinischen Sentenz: 'Inter arma silent musae' (Im Krieg schweigen die Musen)."

Der Historiker Omer Bartov hat ein Buch über die "Grenzländer" geschrieben, aus denen seine jüdische Familie stammt. Sie waren mal polnisch, mal österreichisch, mal sowjetisch und jetzt ukrainisch. Die Juden, die Ruthenen (also Ukrainer), die Polen lebten zusammen. Nicht dass es ein Idyll war. Der Nationalismus brachte die Gewalt. Auf die Frage, ob es auch Kräfte gab, die gegen diesen wachsenden Nationalismus  waren, antwortet Bartov im Gespräch mit Jan Feddersen von der taz: " Ich würde sagen, die Leute, die da vor dem Nationalismus lebten, verfolgten nicht die Idee, dass alle zusammenleben. Jede Gruppe blieb weitgehend separat und hatte ihre eigenen Narrative. Die Geschichten, die sie sich selbst erzählten, unterschieden sich stark. Was am Ende des 19. Jahrhunderts begann, war, dass diese Geschichten nicht mehr nur waren: Warum sind wir hier? Sondern auch: Warum sind die anderen hier? Sie gehören nicht her!"

Nochmal taz. Ziemlich kritisch setzt sich Stephan Lehnstaedt mit dem Konzept des Deutschen Historischen Museums für das  "Dokumentationszentrum Zweiter Weltkrieg und deutsche Besatzungsherrschaft in Europa" auseinander, dem er vorwirft, in Konkurrenz zu bereits bestehenden Gedenkorten in Berlin zu treten, statt neue Fragen zu stellen zum Beispiel "nach Handlungsspielräumen von Millionen von Menschen...: etwa Eisenbahnern und Postlern, den Millionen von Soldaten der Wehrmacht und auch Zivilisten und Zivilistinnen - Sekretärinnen der SS, Krankenschwestern oder Kindergärtnerinnen bei der 'Germanisierung'. Sie alle spielten tragende und unverzichtbare Rollen bei der Okkupation, die als gesamtgesellschaftliches Projekt zu verstehen ist. Eine Auseinandersetzung mit dieser Täterschaft erfolgt bislang viel zu wenig und ist nur zum kleinsten Teil Aufgabe der existierenden Gedenkstätten - aber Pflicht und Kür eines Besatzungsmuseums."

Ebenfalls in der taz kommt der Historiker Felix Heinert nochmal auf die deutschen Belehrungen zu Stepan Bandera zurück, während gleichzeitig die Attentäter des 20. Juli gefeiert worden seien, die ebenfalls Antisemiten waren.
Archiv: Geschichte

Ideen

Natan Sznaider sieht im Gespräch mit Tobias Rapp vom Spiegel ausgerechnet jene Fraktion der Linken, die die Idee universaler Werte als westliche Folklore betrachtet, als Universalisten, die im Namen einer radikalen Demokratie das partikulare Judentum opfern wollten - so zuletzt bei der Documenta. "Schon der Apostel Paulus hat gesagt, es gibt keine Juden und keine Griechen, wir sind alle gleich unter dem Banner des Messias. Nur haben Juden immer darauf beharrt, Juden bleiben zu wollen, und wenn sie es taten, hatten sie ein Problem. So ist es noch immer. Nehmen Sie einen Juden wie mich. Wir reden wie Nichtjuden, wir ziehen uns an wie Nichtjuden, wir sind nicht mehr orthodox, viele von uns halten sich nicht an irgendwelche jüdischen Regeln, aber wir verstehen uns weiterhin irgendwie als Juden. Der politische Universalismus will diesen Unterschied auflösen."
Archiv: Ideen

Kulturpolitik

Der Sozialwissenschaftler Felwine Sarr hat zusammen mit Bénédicte Savoy eine große Rolle bei der Frage der Restitution von Kunst kolonialisierter Völker gespielt, sowohl in Deutschland als auch in Frankreich. Im Gespräch mit Werner Bloch von der FAZ hofft er, dass es in afrikanischen Präsentationen gelingt, "Gegenstände aus dem Diskurs befreien, in den sie der Kolonialismus mit seinem Diskurs eingesperrt hat". Europa solle lernen zu schweigen: "Europa, scheint es, ist mit vielem am Ende, es wirkt ausgelaugt. In Afrika dagegen wendet man sich mit großer Frische der Kultur und den Kulturfragen zu. Afrikaner leben schon immer am Schnittpunkt verschiedener Kulturen. Für sie ist es ganz normal, auch das arabisch-muslimische Erbe zu integrieren. Aufgrund ihrer Multiperspektivität sehen und verstehen Afrikaner manchmal mehr als andere. Es fällt ihnen nicht schwer, zwischen verschiedenen Welten zu navigieren."
Archiv: Kulturpolitik

Politik

Der tunesische Präsident Kaïs Saïed hat bereits jetzt mit demokratischen Gepflogenheiten gebrochen. Anfangs wurde sein Durchgreifen, vor allem gegen die Islamisten begrüßt, nun will er eine Verfassung erlassen, die ihm diktatorische Befugnisse gibt, berichtet Hans-Christian Rößler in der FAZ: "Der 64 Jahre alte Verfassungsrechtler entließ Dutzende Richter und Staatsanwälte; kritische Journalisten wurden festgenommen, einige kamen vor Gericht. Jetzt soll die erst acht Jahre alte demokratische Verfassung einem 'Hyperpräsidialsystem' weichen, wie der Fachmann Zaid al Ali und andere Kritiker die Machtfülle des Präsidenten nennen."
Archiv: Politik
Stichwörter: Tunesien