9punkt - Die Debattenrundschau

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Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
27.07.2022. Demütigung ist das Schlüsselwort, um Putins Agieren zu verstehen, schreibt Peter Pomerantsev in der New York Times. Die SZ sieht die  real existierende Dystopie à la chinoise auf dem Vormarsch. Die Türkei überwacht ihre Bürger auch schon sehr intensiv, schreibt Bülent Mumay in seiner FAZ-Kolumne. Der Papst hat sich in Kanada für die Rolle der Kirche bei der Zwangsassimilierung indigener Völker entschuldigt, wenn er sie schon nicht entschädigt, berichtet die taz. Quillette beschreibt, wie die Geschichte der Indigenen in Kanada für einen Medienhype ausgebeutet wurde.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 27.07.2022 finden Sie hier

Europa

Demütigung ist das Schlüsselwort, um Putins Agieren zu verstehen, schreibt Peter Pomerantsev in der New York Times. Putin agiert aus einem Gefühl der Demütigung und kompensiert es, indem er andere demütigt. Unter anderem auch kolonisierte ethnische Minderheiten, die in dem Krieg als Kanonenfutter verheizt werden. Da sind zum Beispiel die Tuwinen, buddhistische Nomaden aus der Grenzregion zu China, die sich die Sowjetunion in den Zwanzigern einverleibte. "Die Sowjets zwangen die Nomaden, in Kolchosen zu leben, ihren buddhistischen Glauben und ihre Traditionen aufzugeben und sich anders zu ernähren und zu kleiden. Der Widerstand wurde niedergeschlagen: Acht Prozent der Tuwinen litten unter politischen Repressionen wie Inhaftierung, Hinrichtung und Verbannung. Heutzutage leidet die tuwinische Gemeinschaft unter chronischem Alkoholismus und zerrütteten Familien: Mehr als 68 Prozent der Kinder werden außerehelich geboren."

Viel retweeted wird ein Papier von Wirtschaftswissenschaftlern aus Yale und anderen Universitäten, die bestreiten, dass Russland sich gut aus den Sanktionen herauswindet, wie in letzter Zeit vielfach behauptet wurde. Nur zwei ihrer Argumente, die sie auf einer Seite für wissenschaftliche Texte publizieren: "Trotz Putins Illusionen über Autarkie und Importsubstitution ist die russische Inlandsproduktion völlig zum Erliegen gekommen, da keine Kapazitäten vorhanden sind, um verlorene Unternehmen, Produkte und Talente zu ersetzen; die Aushöhlung der einheimischen Innovations- und Produktionsbasis hat zu steigenden Preisen und Verunsicherung der Verbraucher geführt." Und "infolge des internationalen Rückzugs hat Russland Unternehmen verloren, die etwa 40 Prozent seines BIP ausmachen. Dadurch wurden fast alle ausländischen Investitionen der letzten drei Jahrzehnte zunichte gemacht, und eine nie dagewesene gleichzeitige Kapital- und Bevölkerungsflucht hat zu zu einem Massenexodus ais der russischen Wirtschaftsbasis geführt." Jeffrey Sonnenfeld von der Yale Universität resümiert die Thesen des Papiers in einem weiteren Artikel bei Foreign Policy.

Tausend Zimmer hat Erdogans Palast, und in allen Zimmern ist viel zu tun. Zwar gelingt es Erdogan nicht, die achtzig Prozent Inflation zu drosseln. Dafür wird die gesamte Bevölkerung mit modernster Technik überwacht, erzählt Bülent Mumay in seiner FAZ-Kolumne: "Ohne jede gerichtliche Grundlage hat die Regierung begonnen, die digitalen Fußabdrücke aller zu sammeln, nicht allein von Bürgern, gegen die sie einen Verdacht hegt. Auf Anweisung des dem Palast unterstellten Amtes für Informationstechnologien und Kommunikation BTK senden Internetprovider stündlich Berichte über den Traffic aller User, die online gehen, an die Regierung. Informationen wie unser Standort, die Websites, die wir besuchen, mit wem wir auf Whatsapp schreiben oder reden, werden direkt dem Palast übermittelt."
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Überwachung

"Zwanzig Prozent aller Deutschen würden die Einführung eines Sozialkreditsystems begrüßen. Zwanzig Prozent." Andrian Kreye (SZ) ist schockiert. Im Herbst hatte der Direktor des Zentrums für Risikokompetenz an der Universität Potsdam, Gerd Gigerenzer, bereits davor gewarnt, dass Länder wie Thailand und Venezuela, inzwischen auch Vietnam, Myanmar und Tansania, das chinesische System gekauft hätten. "Er stellte wichtige Fragen: 'Wer sagt, dass Länder in Europa, die autokratische Tendenzen haben, die Software und Hardware nicht auch kaufen? Und was ist, wenn mit dieser Technologie auch Werte gefördert werden, die die unseren sind? Wenn sich eben Umweltschutzmaßnahmen sehr viel schneller und effektiver umsetzen lassen?'" Tatsächlich führen in Europa einige Städte bereits Sozialsystem ein und greifen dafür die Daten ihrer Bürger ab: "In Bologna wird sich das 'Smart Citizen Wallet' nennen und umweltfreundliches Verhalten wie Mülltrennung und Busfahren belohnen." Wien und Bayern haben ähnliche Pläne. So umfassend wie in China ist die Überwachung noch nicht, außerdem ist sie freiwillig: "Doch das Prinzip ist das gleiche. Mithilfe digitaler Technologien manipuliert der Staat das Verhalten seiner Bürger."
Archiv: Überwachung

Politik

Die katholische Kirche hat über Jahrzehnte in Kanada mit dem Staat kooperiert, um Kinder aus indigenen Völkern in Internate zu verfrachten und dort brutal zu assimilieren. Viele Kinder sollen ums Leben gekommen sein, viele Erwachsene sind bis heute traumatisiert. Der Papst hat sich jetzt entschuldigt, aber das reicht nicht, kommentiert Tanja Tricarico in der taz: "Wie Franziskus twittert, ist Vergebung eine Gnade, die erbeten werden muss. Der Papst trifft auf seiner Reise durch Kanada Menschen, die die Kirche zerstört hat. Und er hört ihre Forderungen. Die kanadische Regierung hat bereits für die Betroffenen Entschädigungszahlungen zugesagt. Der Staat wusste von den Misshandlungen in den kirchlichen Einrichtungen, billigte die erzwungene Anpassung von indigenen Kindern an die weiße Mehrheitsgesellschaft. Die Kirche hält sich allerdings mit Zahlungen zurück. Und grausam mutet an, dass Rom keine Akten herausgeben will, die für die Aufklärung weiterer Taten sowie die Strafverfolgung der Täter:innen notwendig wären." Hier der Bericht der taz zur Kanada-Reise des Papstes.

Dass viele indigene Kinder in Kanada von der Katholischen Kirche misshandelt wurden, steht außer Frage, schreibt Jonathan Kay in Quillette. Die Brutalitäten katholischer "Erziehung" waren ja schon in Irland deutlich geworden. Eine ganz andere Sache ist allerdings die Berichterstattung über die ehemalige Residential School in Kamloops (British Columbia). Hier sollen im Dezember 2020 über 200 Gräber gefunden worden sein, schrieben die New York Times und praktisch alle nationalen und internationalen Zeitungen. Tatsächlich wurde noch kein einziges Grab gefunden, geschweige denn menschliche Überreste, so Kay. Radiologische Scans haben bislang nur gezeigt, dass dort Boden bewegt wurde, Grabungen haben auch anderthalb Jahre später noch nicht stattgefunden. Wie konnten daraus in den Medien Massengräber werden? Kaye nimmt vor allem die New York Times aufs Korn, die "am 28. Mai 2021 der Welt die Entdeckung eines 'Massengrabes' in Kanada mitteilte. Diese Behauptung steht auch heute noch in der Schlagzeile über einem Artikel des langjährigen Korrespondenten Ian Austen, der berichtete, dass 'eine indigene Gemeinde in British Columbia Beweise für ein Massengrab gefunden hat'. Die Wahrheit ist, dass keine indigene Gemeinschaft so etwas behauptet hat. Die Anführerin der von Austen erwähnten First-Nations-Gemeinschaft, Rosanne Casimir von Tk'emlúps te Secwépemc, erklärte gegenüber den Medien ausdrücklich, dass es kein Massengrab gebe, und wies die Verwendung des Begriffs zurück." Und der Artikel war laut Kaye auch kein "isolierter Fehler. Zehn Tage später verfasste derselbe Reporter der Times einen Folgebericht, der bis heute eine Unterüberschrift trägt, die sich auf 'die Entdeckung der Überreste von Hunderten von Kindern' bezieht. Wie Austens erster Bericht ist auch dieser schlichtweg falsch. Es sind keine 'Überreste' entdeckt worden." Mit dieser Art von Berichterstattung, die sich einer höheren Wahrheit verpflichtet glaubt, hat nicht nur der Journalismus viel Kredit verspielt, glaubt Kay. "Es könnte sich jedoch herausstellen, dass es die Einheimischen selbst sind, die am meisten unter dieser traurigen Episode zu leiden haben. Wenn man bedenkt, wie schrecklich die Gemeinschaften der First Nations, Inuit und Métis im Laufe der kanadischen Geschichte behandelt wurden, gibt es mit Sicherheit genügend reale Beweise für vergangene Grausamkeiten, die darauf warten, von Forschern gefunden zu werden. Es scheint unvermeidlich, dass eines Tages echte Leichen an die Oberfläche kommen - echte, unbestreitbare Beweise für eine reale historische Gräueltat, die bisher unbekannt war oder im Dunkeln lag. Wenn in diesem authentischen Moment der Entdeckung Journalisten und Politiker plötzlich feststellen, dass es unmöglich geworden ist, das Interesse und die Sympathien einer abgestumpften, misstrauischen kanadischen Öffentlichkeit zu wecken, sollten wir nicht so tun, als ob wir den Grund dafür nicht kennen würden."
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Medien

In Dlf Kultur denkt der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen darüber nach, wie man Fake News begegnen kann. Seine Idee: Impfen. "Aufklärung muss schneller werden, viel schneller. Sie muss einsetzen, bevor sich Weltbilder endgültig verfestigt und sich Fake-Behauptungen global verbreitet haben. Also erneut: Was tun? Gegenwärtig wird im Feld der Desinformationsbekämpfung eine bereits ältere wissenschaftliche Theorie neu entdeckt, dies mit ziemlich vielversprechenden Ergebnissen. Die Rede ist von der sogenannten Inokulationstheorie, die der Sozialpsychologie der 1960er-Jahre entstammt. Inokulation heißt Impfung. Die Grundidee besagt, dass man Menschen gegen Desinformation gleichsam impfen kann - und zwar auf zweifache Weise: zum einen durch die möglichst frühe, möglichst konkrete Warnung vor gerade erst aufkommenden Falschbehauptungen, zum anderen durch die Entlarvung der allgemeinen Manipulationstechniken."

Emmanuel Macron hat durch ein Votum im Parlament die Rundfunkgebühren abschaffen lassen. Die Sender werden jetzt aus dem Mehrwertsteuertopf bezahlt, berichtet Jürg Altwegg in der FAZ. Die Sender bekommen nicht mal die Hälfte des deutschen Budgets - insgesamt 3,7 Milliarden Euro. "Im Streit um die Gebühren spiegelt sich der Konflikt zwischen den Populisten und der Elite. Diese hat die Staatssender fest in ihrer Hand. Das zeigen Herkunft und Karrieren der Verantwortlichen. Die Programme indes haben an Qualität zugelegt und sind - unter dem Druck der populistischen Parteien - pluralistischer geworden. Inzwischen wird weniger arrogant kommentiert und belehrt. Doch die Abhängigkeit der Chefs von der Macht, der sie ihren Job verdanken, ist geblieben."
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Kulturpolitik

In der Welt fragt sich Thomas Schmid, warum der Documenta-Skandal eigentlich so locker an Kulturstaatsministerin Claudia Roth vorbeigegangen ist, obwohl auch sie lange abgewiegelt und heruntergespielt habe. Für Roth ist Kultur eben vor allem "Mittel zum Zweck. Der Völkerverständigung. Des wechselseitigen Respekts. Des Abbaus von Vorurteilen und rassistischen Einstellungen usw.", da passte Ruangrupa einfach zu gut rein. Aber wenn sie etwa in dem Aufruf "Für eine gemeinsame Kultur der Demokratie in Europa" schreibt, dass wir "alle dasselbe Ziel haben. Das einer guten und gemeinsamen Zukunft, des friedlichen Zusammenlebens und der demokratischen Selbstbestimmung", dann ist das für Schmid weniger menschenfreundlich als autoritär: "Die Ministerin dekretiert nämlich, was sie gar nicht wissen kann: dass wir alle dasselbe Ziel haben. Und dass die Kultur, einer Magd der Politik gleich, die Aufgabe habe, uns immer wieder darauf zu stoßen. Keine Spur von Freiheit, Wagnis, Differenz, Avantgarde und Akzeptanz des fremden Anderen."
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Religion

Solche Meldungen gibt es auch noch. Wir finden sie bei hpd.de: "Die Hebamme Sandra Eltzner darf aufgrund ihres Kirchenaustritts nicht länger an einem katholischen Krankenhaus beruflich tätig sein. Doch dagegen wehrt sie sich juristisch, unter Berufung auf den Kündigungsschutz und die gesetzlich garantierte Diskriminierungsfreiheit. Der Trägerverbund des betreffenden Krankenhauses, bestehend aus der katholischen St. Paulus-Gesellschaft und der Caritas, wertet hingegen den religiösen Verkündungsauftrag der Angestellten höher als etwa das Selbstbestimmungsrecht und die Religionsfreiheit seiner Angestellten."
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