9punkt - Die Debattenrundschau

Mystische Lösungen für reale Probleme

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
08.07.2022. Verhandlungen können auch auch als Gelegenheit zu weiterer Eskalation genutzt werden, schreiben die Osteuropaforscherinnen Susann Worschech und Franziska Davies an die Adresse der Emma-Friedenstruppe. Boris Johnson geht und hinterlässt bei den Kommentatoren nicht gerade gute Stimmung. Ferda Ataman ist mit recht kümmerlicher Mehrheit zur Antidiskriminierungsbeauftragten gewählt worden, konstatiert Spiegel online.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 08.07.2022 finden Sie hier

Europa

Die Osteuropaforscherinnen Susann Worschech und Franziska Davies antworten in dem Blog ukraineverstehen.de auf den zweiten Brief der Emma-Friedenstruppe, die zu Verhandlungen zwischen den Kriegsparteien aufruft. Aber Verhandlungen können einen Krieg auch verlängern und verschlimmern, konstatieren die beiden Autorinnen: "Der seit 2014 stattfindende Krieg Russlands in der besetzten Ostukraine zeigt, dass Verhandlungen eben auch als Gelegenheit zu weiterer Eskalation genutzt werden können. Alle Verhandlungen im Minsk-Format brachten die Ukraine weder ihrer territorialen Souveränität näher, noch auch nur einen Tag lang Frieden an der damaligen Frontlinie. Vielmehr konnten die besetzten Gebiete einschließlich der Krim zum Aufmarsch- und Nachschubsicherungsgebiet für Russlands großen Krieg gegen die Ukraine aufgebaut werden."

Boris Johnson ist sozusagen abgetreten: vorerst nur als Parteichef. Ministerpräsident möchte er so lange bleiben, bis die Tories einen neuen gefunden haben. Überall bringt die britische Presse harsche, fast verzweifelte Resümees seines Wirkens, hier Jonathan Freedland im Guardian ("sein toxischer Zauber ist gebrochen"). Der bekannte Journalist Ian Dunt schreibt bei Inews: "Auch das Land muss für einen Moment in sich gehen. Wir müssen uns fragen, wie es so weit kommen konnte, wie jemand, der so offensichtlich ungeeignet ist, an die Spitze der britischen Regierung gelangen konnte. Und dabei geht es vor allem um den Akt der Verführung. Es geht um die Geschichte, die während der Brexit-Kampagne begann: um Scharlatane, die mystische Lösungen für reale Probleme anbieten und ihre Persönlichkeit nutzen, um grundlegende verfassungsrechtliche und empirische Fundamente, auf denen die Politik beruht, außer Kraft zu setzen."

Johnson hinterlässt einen Trümmerhaufen, schreibt Ralf Sotschek in der taz: "Seine Regierung hat die Menschenrechte durch ein neues Gesetz verwässert, das es erlaubt, Flüchtlinge nach Ruanda auszulagern. Sie will die Unabhängigkeit der Wahlrechtskommission abschaffen und neue Hürden für Wähler:innen aufbauen, die bis zu zwei Millionen vom Wahlrecht ausschließen würden, - was vor allem junge und ärmere Leute beträfe. Diese schäbigen Projekte werden Johnson überdauern." Daniel Zylbersztajn-Lewandowski erzählt in der taz die "Chronologie eines Abgangs". Mehr auch hier und hier.

Nicht sehr freundlich auch der Kommentar von Anne Applebaum in Atlantic: "Wenn die britische Politik ein Faulkner-Roman wäre, dann wäre der Brexit die lange zurückliegende Tragödie, die alle Hauptfiguren verfolgt, selbst wenn sie noch nicht geboren waren, als es passierte. Warum hat ein fröhliches Trinkgelage, das sein Kabinett während des Covid-Lockdowns abhielt, Johnson so viel Schaden zugefügt? Wohl auch, weil er bereits im Verdacht stand, in Bezug auf den Brexit unehrlich zu sein, und 'Partygate' das Bild von ihm als Lügner erneut bestätigte."

Die Ampelkoalition hat 416 Sitze im Bundestag. Ferda Ataman ist gestern mit 376 Stimmen zur "Unabhängigen Bundesbeauftragten für Antidiskriminierung" gewählt worden, berichtet Spiegel Online: "Die notwendige Mehrheit von 369 Stimmen hat sie damit nur gerade so erreicht. Ataman kann aufatmen, genau wie Grüne und SPD, die sich für sie starkgemacht hatten - und am Ende wohl auch Kanzler Olaf Scholz. Denn wäre die Sache schiefgegangen und Ataman hätte die Mehrheit verfehlt, hätte die Ampelkoalition wegen der dann wohl fehlenden Stimmen aus den eigenen Reihen ihre erste richtige Krise erlebt." Viele Abgeordnete der Koalition haben also nicht für sie gestimmt, ohne Abgeordnete der Linkspartei hätte sie die Mehrheit vielleicht nicht bekommen.
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Kulturmarkt

Sarah Obertreis porträtiert für die Wirtschaftsseiten der FAZ den neuen Geschäftsführer des Börsenvereins, Peter Kraus vom Cleff, ehemals kaufmännischer Geschäftsführer von Rowohlt. Sein Job sei nicht leicht. Die Buchbranche leidet unter Corona-Nachwirkungen, Papier-Preisen und Kaufzurückhaltung. "Dabei sieht es auf dem Buchmarkt schon seit vielen Jahren nicht rosig aus. Der Umsatz bleibt bis jetzt zwar stabil - 2021 ist er zum vierten Mal in Folge leicht gestiegen auf 9,63 Milliarden Euro, aber die Zahl der Buchkäufer geht weiter zurück. Schon seit einem Jahrzehnt verliert die Branche Kunden. Der Börsenverein macht dafür auch den Aufstieg der sozialen Netzwerke und die großen Streamingportale verantwortlich."
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Gesellschaft

Walter Homolka ließ nach dem Missbrauchsskandal am Abraham-Geiger-Kolleg alle Ämter ruhen (Unsere Resümees), faktisch kontrolliert er die Schule aber immer noch, schreibt Alan Posener in der Welt. Interimsdirektorin Gabriele Thönes gilt als "Bevollmächtigte" Homolkas, sie leitet auch die Leo-Baeck-Stiftung, der Homolka 90 Prozent seiner Anteile an der "gemeinnützigen GmbH" AGK übertragen hat - kurz: "Homolka hat seine Anteile an sich selbst übertragen", so Posener. Eine Vollversammlung der Studierenden gab es bis heute auch nicht -  und als der Zentralrat "die Studierenden am konservativen Zacharias-Frankel-College - ebenfalls eine Homolka-gGmbH - und am liberalen AGK zu einer Aussprache einlud, wurden die Studierenden des Geiger-Kollegs einzeln zur Leitung bestellt und ihnen die Teilnahme verboten. Es kamen trotzdem 17 Studierende beider Einrichtungen, die sich, so ein Teilnehmer, 'das Leid von der Seele redeten'. Dazu gehört auch der Ausbildungsvertrag des AGK, den alle Studierenden unterschreiben müssen. Einerseits können sie wegen Verletzung der 'Disziplin' und - was angesichts der Berichte über pornografische Videos und Einladungen in Hotelsaunas lustig sein könnte, aber empörend ist - 'ethischer Standards' sofort exmatrikuliert werden. Andererseits müssen sie 'die Geheimhaltung wahren', wenn ihnen etwas über das 'Privatleben von Fakultätsmitgliedern' oder 'die finanziellen Angelegenheiten' des Kollegs bekannt wird. (…) So gestaltet man 'die Zukunft des europäischen Judentums': indem man Duckmäusertum fördert und Angst verbreitet."
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Geschichte

Stepan Bandera war ein Faschist und ein rasender Antisemit. Dennoch wird er als Freiheitskämpfer von vielen in der Ukraine nach wie vor verehrt, eine für Deutschland undenkbare Kombination, schreibt die Historikerin Franziska Davies im Spiegel. Dennoch plädiert sie dringend, die ganze Geschichte zu sehen: Der Holocaust war eine deutsche Tat, auch wenn es ukrainische Unterstützer gab. Die ukrainischen Schergen der OUN und der UPA (Ukrainische Aufstandsarmee) standen nicht gleichrangig neben den Nazis. Im übrigens fragt sich Davies, ob diese Debatte zu dieser Zeit nicht einen unguten Entlastungscharakter hat, der eine Abwendung von der Ukraine begleitet. "Unsere polnischen Nachbarn verfolgen da einen anderen Ansatz: Sie wissen (anders als viele Deutsche) seit Langem um die Verbrechen der UPA. Trotzdem kommt kaum jemand darauf, die Verklärung der Nationalisten, wie Melnyk sie jüngst prominent zum Ausdruck brachte, mit der nun benötigten Solidarität in Verbindung zu bringen."

Die von Putins Armee belagerte Stadt Saporischschja, direkt am Dnipro gelegen, hat für die Ukrainer höchste symbolische Bedeutung, erzählen Thomas Gerlach und Bernhard Clasen in der taz. Hier liegt die Flussinsel Chortyzja, einst das Hauptquartier der Kosaken, die einen historischer Bzugspunkt für die ukranische Nation ist: "Zwar existieren auf der Insel nur der hölzerne Nachbau der Saporoger Sitsch, ein Freilichttheater und ein scheußlicher Museumsbau, dennoch gibt es kaum einen anderen Ort, der als Nationalheiligtum an die Chortyzja heranreicht. Kosak - das Wort stammt aus dem Tatarischen und bedeutet freie Krieger. Kosaken - das waren entlaufene Leibeigene und tatarische Krieger. Sie lebten im Dikoje Polje, dem 'Wilden Feld', dem dünn besiedelten Unterlauf des Dnipro, vom Fischfang, von der Jagd, aber auch von Raubzügen. Da sie hinter den gefährlichen Stromschnellen (russisch: Sa Porogi) am Dnipro lebten, nannte man sie 'Saporoger'. Später schlossen sie sich zu größeren Verbänden zusammen und nannten ihr Lager 'Saporoger Sitsch', ihr gewähltes Oberhaupt hieß Hetman"
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