9punkt - Die Debattenrundschau

Frau in Anführungszeichen

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
16.08.2022. In Russland gilt immer noch der Domostroi, ein alter Gesetzeskodex, fürchtet Viktor Jerofejew in der FAZ: Zar und Fürst muss man fürchten und ihnen dienen als den Vertretern Gottes auf Erden. Quillette und Politico kritisieren den Amnesty-Bericht über die ukrainische Kriegsführung. Im Newlines Magazine analysiert der Iran-Spezialist Arash Azizi, was die Fatwa gegen Rushdie für das iranische Regime politisch bedeutet. Die Demütigung hat kein Ende: Die Frau wurde infantilisiert, dämonisiert und idealisiert, jetzt wird sie eben dekonstruiert - die Publizistin Sara Rukaj erklärt in der Welt, warum sie  den Differenzwahn des Genderismus antifeministisch findet.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 16.08.2022 finden Sie hier

Europa

Russland ist kein einheitliches Land, schreibt Viktor Jerofejew in der FAZ in einem seiner Versuche, der Essenz seines Landes auf die Spur zu kommen. Gerade darum erinnert er an den "Domostroi", den "russisch-orthodoxen Gesetzeskodex für den Alltag" aus dem 16. Jahrhundert. "Der Domostroi verlangt: Zar und Fürst muss man fürchten und ihnen dienen als den Vertretern Gottes auf Erden. Dieser Regel bleibt Russland bis heute im Grunde treu. Dank ihr hat Putin erreicht, dass seine Person andere Werte Russlands in den Schatten stellt und selbst zum höchsten russischen Wert avanciert ist. Er hat es vermocht, den Kremlhofstaat so zu organisieren, dass sich dieser ihm vollständig unterordnet. Jedenfalls solange unser Zar aussieht wie ein Sieger."

Gerald M. Steinberg von der israelischen NGO Monitor fragt sich in Quillette, ob NGOs wie Amnesty International sich mit Berichten zu Kriegsereignissen, wie dem Krieg in der Ukraine (oder, so Steinberg, dem Nahostkonflikt) nicht überheben. Amnesty hatte eine heftige Debatte ausgelöst, weil es in einem Report der Ukraine Verstöße gegen das Völkerrecht vorgeworfen hatte, etwa, Zivilisten "durch die Einrichtung von Stützpunkten und den Betrieb von Waffensystemen in bewohnten Wohngebieten, einschließlich Schulen und Krankenhäusern, zu gefährden". Steinberg findet es anmaßend, dass Amnesty so tat, als wisse es, was man statt dessen hätte tun sollen. "Im Gegensatz dazu kamen echte Experten (z. B. Jack Watling vom Royal United Services Institute, Großbritannien) zu dem Schluss, dass 'der @amnesty-Bericht ein schwaches Verständnis der Gesetze bewaffneter Konflikte und kein Verständnis militärischer Operationen erkennen lässt und sich in Unterstellungen ergeht, ohne Belege zu liefern.' Watling fügte hinzu: 'Es ist kein Verstoß gegen das humanitäre Völkerrecht, wenn sich ukrainische Militärangehörige in dem Gebiet aufhalten, das sie verteidigen sollen, und nicht in einem zufälligen Stück angrenzenden Waldgebiets, wo sie umgangen werden können."

Ähnlich sieht das Uriel Epshtein von der Renew Democracy Initiative in Politico. Auch gehe Amnesty in seinem Bericht "nicht einmal darauf ein, wie das alternative Schicksal der ukrainischen Zivilbevölkerung ausgesehen hätte, wenn das ukrainische Militär nicht in städtischen Gebieten operiert hätte. Vielleicht können uns Bucha und Irpin eine Vorstellung davon geben. ... Durch die leichtfertige Behauptung, die Ukraine verstoße mit der Stationierung ihres Militärs in Wohngebieten gegen internationales Recht, hat Amnesty Russland im Grunde die Rechtfertigung geliefert, die es wollte - aber sicher nicht brauchte -, um wahllos nichtmilitärische Ziele anzugreifen", so Epshtein, der eine Überarbeitung des Berichts und den Rücktritt von Amnestys Generalsekretärin Agnes Callamard fordert.

Anne Applebaum ist für den Atlantic nach Moldawien gereist, wo sie auch die Präsidentin Maia Sandu. getroffen hat. Gerade hier wird Applebaum auch klar, was Putin mit dem Krieg gegen die Ukraine bezweckt: "Neben der Eroberung der Ostukraine ist die Zerstörung der Hoffnung eines der wichtigsten Kriegsziele Russlands. Wladimir Putin kämpft ja nicht nur für die Wiedererschaffung der Sowjetunion, sondern auch für die Untergrabung der Idee eines demokratischen Übergangs, dass man der Autokratie entkommen und etwas Besseres annehmen kann. Er will nicht nur, dass die Ukrainer ihren Traum von Normalität, Stabilität und der Integration in Europa aufgeben. Er will, dass alle anderen - Moldawier, Georgier, Kasachen, Balten und viele andere - ihn auch aufgeben."
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Gesellschaft

Ulrike Herrmann macht in der taz auf einen Nebenaspekt des Patrica-Schlesinger-Skandals aufmerksam, der noch viel zu wenig thematisiert wird: die 70 Prozent Rabatt, die die großen Autokonzernen angeblich Ministern der Regierung gewähren, damit sie sich in ihren Luxuskarrossen chauffieren lassen: "Pikant ist aber, wie dieser Rabatt bei Audi heißt: nämlich 'Regierungspreis'. Systematisch sponsert die deutsche Autoindustrie die Luxusgefährte der MinisterInnen in Berlin und in den Ländern. Ganz harmlos heißt dies 'Marketing'. Die Wahrheit ist viel härter: Es handelt sich um Lobbyismus. Die MinisterInnen sollen auf ihren eigenen Pobacken erleben, wie weich und sanft eine deutsche Luxuskarosse dahingleiten kann. Wer dieses sinnliche Erlebnis genossen hat, so hofft die Autoindustrie, wird niemals am staatlichen Dienstwagenprivileg rütteln."
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Stichwörter: Lobbyismus

Politik

In einem besonders abstrusen Text hatte die taz-Korrespondentin Julia Neumann letzte Woche die Exiliranerin Masih Alinejad als westliche Agentin angegriffen, weil sie Frauen im Iran bei dem Wunsch unterstützt, sich vom Kopftuch zu befreien (unser Resümee). Auf diesen Text antwortet heute die im Iran geborene Ärztin Gilda Sahebi: "Frauen im Iran besitzen weder de facto noch de jure irgendeine Art der Gleichberechtigung. Vor dem Gesetz sind sie nur die Hälfte eines Mannes wert, ob vor Gericht, beim Erbrecht oder im Alltag. Die Pflicht zum Hidschab ist ein zentrales Symbol dieser Unterdrückung - legt eine Frau das Kopftuch in der Öffentlichkeit ab, wehrt sie sich nicht gegen das Tuch per se, sondern gegen die systematische Unterdrückung. Bei ihrer Argumentation benutzt die Autorin also (gut gemeinte?) postkoloniale Thesen und tut dann aber selbst das, was sie 'dem Westen' vorwirft: Sie spricht Women of Color die Fähigkeit zur Selbstbestimmung ab."

Im Newlines Magazine veröffentlicht der in New York lehrende Iran-Spezialist Arash Azizi eine sehr kundige politische Analyse über den Iran und die anhaltende Bedeutung der Fatwa für das Regime. Die Fatwa, insistiert er, wurde zwar von dem Reformer Mohammad Khatami im Jahr 1998 gewissermaßen in Standby versetzt - allerdings ist seine Fraktion längst entmachtet, und das Regime hat seitdem die Fortexistenz des Mordaufrufs immer wieder bekräftigt. Sie ist laut Azizi ebenso essenziell für das Regime wie der Kopftuchzwang für Frauen und die Holocaustleugnung. Denn das Ziel ist es, das Regime in jener Isolation zu halten, von der die Mullahs gerade profitieren: "Dass Khomeini 1989 die Fatwa erließ, hatte wenig mit dem Inhalt von Rushdies Buch zu tun (das ein Jahr zuvor erschienen war und das Khomeini nie gelesen hatte), sondern vor allem mit seinem Wunsch, seine radikal-islamistische Gesinnung unter Beweis zu stellen und eine Normalisierung der Beziehungen zum Westen zu verhindern, die die islamische Revolution ihres Inhalts berauben könnte."

Ahmad Mansour ist in der NZZ pessimistisch, dass der Anschlag auf Rushdie die westliche Öffentlichkeit wachrütteln könnte: "Selbst jetzt, da im Jahr 2022 das Wissen und die Erfahrungen mit islamistischem Fanatismus mittlerweile - und aufgrund furchtbarer Geschehnisse - stark angewachsen sind, wirkt der Anschlag auf Rushdie eher wie eine Störung. Denn Europa scheint müde geworden zu sein, seine eigenen Grundwerte zu verteidigen. Außer ein paar Sonntagsreden nach jedem Anschlag ist wenig zu vernehmen."

Im Perlentaucher stellt Richard Herzinger die israelisch-russischen Beziehungen auf den Prüfstand. Lange Zeit gab es hier eine Kooperation, für die Israel Manches schlucken musste. Aber auch hier spielt der Iran eine Hauptrolle: "Alleine durch die wachsende Bindung Russlands an den Iran wird eine Verschlechterung der russisch-israelischen Beziehungen ohnehin unausweichlich sein."
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Ideen

Der Genderismus will alle Differenzen benennen, nur die eine nicht, die Frau, sagt Sara Rukaj, Autorin des Buchs "Die Antiquiertheit der Frau" im Gespräch mit Ute Cohen von der Welt: "In bemüht progressiven Kreisen wird die 'Frau' in Anführungszeichen gesetzt, wenn sie nicht gleich hinter den uncharmanten Bezeichnungen 'FLINTA*', 'Co-Elternteil' oder 'Person mit Uterus' bis zur Unkenntlichkeit nivelliert wird. Auch Judith Butlers Dekonstruktion des biologischen und kulturellen Geschlechts zielt immer auf die Frau, so als gäbe es sie tatsächlich nicht oder nur als schaurige Fantasie eines omnipotenten Patriarchats. Die Frau wurde infantilisiert, dämonisiert und idealisiert, jetzt wird sie eben dekonstruiert. An die Stelle der Kränkung, als Frau geboren zu sein, tritt die nächste, als solche überflüssig zu werden." Das geplante Selbstbestimmungsgesetz bezeichnet Rukaj in dem Gespräch als "die vermutlich folgenreichste Rücknahme feministischer Errungenschaften seit 1945".

Philipp Ruch vom "Zentrum für Politische Schönheit" erklärt im Interview mit der FR, warum er den Zorn für eine produktive Kraft, und Rache manchmal für nötig hält, um die Würde eines Opfers wieder herzustellen: "Hätte man zum Beispiel Karadžic und Mladic hingerichtet, statt sie aus lauter Gutmenschentum ins Gefängnis zu stecken, hätte das vielleicht einen Spielraum eröffnet für die Wiederherstellung der Würde der Opfer. Diese Form der Würdigung hätte auch auf Leute wie Putin möglicherweise eine Wirkung. Unsere Großmut im Umgang mit Mladic gönnen wir uns auf Kosten seiner Opfer."
Archiv: Ideen