9punkt - Die Debattenrundschau

Die globale Solidarität neu erfinden

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
09.09.2022. Elisabeth die II. ist tot. Für die Briten ein grundlegender Einschnitt: 87 Prozent haben in ihrem Leben nie ein anderes Staatsoberhaupt gehabt, erinnert die Berliner ZeitungKolonialismus sollte nicht mehr nationalstaatlich, sondern global, zudem temporal gedacht werden, fordert der belgische Historiker David van Reybrouck bei der Eröffnung des 22. Internationale Literaturfestivals in Berlin. Die FAZ fragt: Warum verschlankt sich der Bundestag nicht erst selbst, bevor er die auswärtige Kulturpolitik verschlankt? Die SZ fordert weniger Harmonie in den Strukturen der Öffentlich-Rechtlichen.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 09.09.2022 finden Sie hier

Europa

Elizabeth II. ist tot. Die Zeitungen quellen über mit Rückblicken und Würdigungen. Kritik am Königshaus ist in diesen Tagen tabu. In der Berliner Zeitung erklärt die in Berlin lebende Britin Elizabeth Rushton, was der Tod ihrer Königin für die Briten bedeutet - auch wenn sie keine Anhänger der Monarchie sind: "Ungefähr 13 Prozent der britischen Bevölkerung ist über 70 Jahre alt. Das bedeutet, der restliche 87 Prozent erinnert sich gar nicht an eine Zeit mit einem anderen Staatsoberhaupt, mit überhaupt irgendjemanden anderem an der Spitze des Landes. Sie kennen nichts anderes als das zweite elisabethanische Zeitalter. Nicht nur deswegen hat die Queen für ein Gefühl der Sicherheit, der Kontinuität gesorgt. Im Laufe ihrer Regentschaft hatte Großbritannien 15 Premierminister - der erste, Winston Churchill, wurde 101 Jahren vor der neuen Premierministerin Liz Truss geboren. Die Queen symbolisierte eine Verbindung zur britischen Geschichte, zum goldenen Zeitalter des Empires, das trotz aller historischen Schwierigkeiten immer noch von vielen Briten als 'happy and glorious' bezeichnet wird, wie die britische Nationalhymne beschreibt."

Bei den Parlamentswahlen in Schweden am Sonntag könnten die rechtspopulistischen Schwedendemokraten als zweitstärkste Partei zum Zünglein an der Waage einer Regierungsbildung der Konservativen (die auf Platz drei liegen) werden, berichtet in der taz Reinhard Wolff: "Mit ähnlichem Nachdruck, mit dem der Konservativen-Vorsitzende Ulf Kristersson vor vier Jahren eine Zusammenarbeit mit den Schwedendemokraten als 'absolut unvorstellbar' ausgeschlossen hatte, befürwortet er sie nun als völlig unproblematisch. Er lobt sie mittlerweile sogar dafür, dass sie als einzige Partei darauf beharrt hätten, 'dass wir nicht mehr Einwanderung haben dürfen'."

Ein Grund, warum die Schwedendemokraten so gut dastehen, hat mit der Kriminalität vieler Gangs zu tun, die Schweden ein Rekordmordrate eingebracht hat (mehr dazu in einer taz-Reportage von gestern). Aber die Kriminalität hat einen sozialen Hintergrund, erklärt im beistehenden Interview der Journalist und Autor Diamant Salihu, der 1991 mit seinen Eltern selbst als Flüchtling aus dem Kosovo nach Schweden kam: "Mein Vorteil war, dass ich in einer damals noch gemischten Gegend zur Schule gegangen bin. Da waren viele schwedische Kinder und einige, die ausländischen Hintergrund hatten. Meine Schwester und ich haben schnell Schwedisch gelernt, so konnten wir uns leicht etablieren. Für Eltern kann das schwer sein, aber meine hatten Glück: Sie hatten eine Art Lotsen, einen schwedischen Bekannten. Nils lud uns zu sich nach Hause ein, und wir luden ihn zu uns ein. Das schaffte eine Verbindung, die für meine Eltern entscheidend war." Inzwischen seien jedoch viele Wohngebiete ethnisch homogenisiert, die Jugendlichen dort fühlen sich von der schwedischen Gesellschaft ausgeschlossen.
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Ideen

Am Mittwoch startete das 22. Internationale Literaturfestival in Berlin, den Eröffnungsvortrag hielt der belgische Historiker David van Reybrouck. Kolonialismus dürfe nicht mehr nationalstaatlich verstanden werden, sondern müsse global, zudem temporal gedacht werden, lautet sein Anliegen, das unter anderem Lothar Müller in der SZ zusammenfasst: "'Wir verhalten uns wie die Kolonisatoren der zukünftigen Generationen, wir plündern ihr Trinkwasser und ihre fruchtbaren Böden.' Diese Kolonisierung der Zukunft verlaufe entlang von territorialen Linien, die häufig kolonial geprägt seien. In van Reybroucks 'Wir' steckt nicht die Menschheit als Gattung, sondern die erneute Kolonisierung des 'globalen Südens' durch die reichen Länder des 'Nordens', dem er Nordamerika, Europa, Japan Russland und Australien zurechnet." Der Postkolonialismus greife für Reybrouck zu kurz, erkennt Gerrit Bartels im Tagesspiegel - und zitiert: "'Wir werden mehr tun müssen, als Kampagnen gegen lokale Symbole der Vergangenheit zu veranstalten und die globalen Strukturen der Gegenwart zu bekämpfen. Wenn wir wirklich Fortschritte erzielen wollen, müssen wir die globale Solidarität neu erfinden.'" Das Publikum jubelte ergriffen, weiß Petra Ahne in der FAZ, die erklärt, weshalb die Rede auf einem Literaturfestival gehalten werden musste: "Sie war eine Feier der Sprache, der Geschichten." Mehr zum Internationalen Literaturfestival in Efeu.

Vor einigen Tagen hat Arno Widmann in der FR daran erinnert, dass Deutsche möglicherweise nicht ganz unschuldig an dem Olympia-Attentat 1972 waren: "Es ist ganz unwahrscheinlich, dass an der Vorbereitung und Durchführung der Aktion nur die bekannten palästinensischen Fachkräfte beteiligt gewesen sein sollen. Es gab damals in jeder deutschen Universitätsstadt ein Palästina-Komitee und ein Palästinensertuch galt als schickes APO-Accessoire. München war ein Zentrum linken Antisemitismus'", schrieb er. Heiner Roetz, damals Mitglied im Frankfurter Komitee, widerspricht heute: Man war in den Komitees weder für den Terrorismus noch Antisemit, behauptet er. Man hielt aber die "Aussöhnung" mit Israel für heuchlerisch. Der deutschen Regierung sei es damals nicht um Überwindung des Antisemitismus gegangen, sondern um einen Deal: Ein "Persilschein" für den deutschen Staat im Austausch für Geld und die "bedingungslose politische Unterstützung Israels". Dass Heuchelei auch ihm nicht fremd ist, zeigt sich in folgendem Absatz: "Und die Palästinenser erfüllten noch eine weitere Funktion, die von Schuld reinigte. Dass sie Opfer Israels wurden, schien 'die Juden' selber zu Tätern zu machen, die doch 'dasselbe wie wir' taten, zumindest in Form der Eroberung fremden Territoriums - ich habe es oft genug gehört. Besonders der Sechs-Tage-Krieg berührte die deutsche Seele: Die Juden waren nun selbst zu Soldaten geworden. Und in die Tätergemeinschaft aufgenommen, konnte man sie sogar zu lieben beginnen." Als hätten ausgerechnet linke Israelkritiker jüdische Israelis nie als die neuen Nazis dargestellt.
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Kulturpolitik

Die Gelder für die Goethe-Institute sollen gut zehn Prozent gekürzt werden. Auch dem DAAD, der Alexander-von-Humboldt-Stiftung und dem Institut für Auslandsbeziehungen drohen kräftige Streichungen. In der FAZ versucht Paul Ingendaay mit Matthias Lilienthal zu erklären, welche Bedeutung auswärtige Kultur- und Bildungspolitik hat: "Der Dramaturg Matthias Lilienthal, der seit dreißig Jahren mit dem Goethe-Institut kooperiert, sagte der FAZ, an manchen Orten bestehe die Leistung der Institute vor allem darin, die intellektuelle Zivilgesellschaft aufrechtzuerhalten. In Myanmar zum Beispiel. Oder in Jekaterinburg. Überall sieht die Aufgabe anders aus. Eben deshalb muss man persönlich an Ort und Stelle sein. 'Das Goethe-Institut', sagt Lilienthal, 'ist das Zentrum des freien Denkens, in vielen Fällen der 'safe space' einer ganzen Stadt. Das sind genau die Freiheitsräume, die wir in den gegenwärtigen Auseinandersetzungen brauchen.'" Und dann hat Ingendaay noch einen Gegenvorschlag: "Wie wäre es, wenn der Bundestag, der über die Kürzungen demnächst zu beschließen hat, mit dem Schlankwerden bei sich selbst anfinge?"

In Spanien haben die Rückgabe zweier Gemälde an die Familie eines Opfers der Franco-Diktatur und ein Buch des Madrider Universitätsprofessor Arturo Colorado, "Arte, botín de guerra" ("Kunst, Kriegsbeute"), eine Restitutionsdebatte ausgelöst, berichtet in der NZZ Ute Müller. "Colorado hat in seinem Werk den Werdegang von rund 15 000 Kunstwerken untersucht, die nicht nur aus Museen, sondern auch aus privaten Gemäldesammlungen stammten. Er kam zu dem Schluss, dass seit dem Bürgerkrieg fast 5500 Gemälde nicht an ihre rechtmäßigen Besitzer zurückgegeben worden waren. Viele hängen bis heute in Kirchen, Ministerien oder anderen staatlichen Einrichtungen... Raubkunst ist auch in 37 Museen ausgestellt. Laut Colorado hat sogar das Prado-Museum rund zwei Dutzend Kunstwerke, die während der Franco-Zeit geraubt wurden. Im Museum wollte man sich dazu nicht äußern."
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Wissenschaft

In der taz erinnert sich Barbara Kerneck an ihre Zeit als Austauschwissenschaftlerin an der an der Leningrader Staatlichen Universität 1976. Die Zensur fand sie unerträglich, aber das "Wohnheim war trotz allem ein wunderbarer Ort zum Diskutieren und Feiern mit russischen Kolleginnen aus allen Disziplinen". Seit dem Ukrainekrieg liegt der Austausch mit russischen Unis auf Eis. Aber trifft das die Richtigen? Es gab diesen grässlichen offenen Brief, den 700 Rektoren russischer Hochschulen unterzeichneten, "in dem sie ihre Regierung unterstützen und mit dem Westen sympathisierende Bürger:innen als 'Abschaum' bezeichnen, der aus Russland entfernt werden müsste." Aber es haben auch "tausende Akademiker*innen in offenen Briefen gegen den Krieg protestiert. Dazu gehört ein Löwenmut, da bis zu 15 Jahren Gefängnis drohen. Die unter anderem von der Uni Bremen herausgegebenen Russland-Analysen berichten, dass seit der Annexion der Krim 2014 die Förderung der Wissenschaft in Russland stark zurückgegangen ist. Seit 2019 habe es in Russland bloß noch 800 ausländische Forscher*innen gegeben, in den USA zum Vergleich 13.000. Dem Putin-Regime scheint nicht an einem intensiven internationalen Forschungsaustausch gelegen."
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Medien

Die Öffentlich-Rechtlichen würden die jüngsten Skandale am liebsten mit dem Abtritt einiger untragbarer Personen beerdigen. Aber so geht das nicht, schreiben Peter Laudenbach, Kai Matthiesen und Judith Muster in der SZ. Hier sind echte Strukturreformen erforderlich, besonders bei den Kontrollgremien, die derzeit noch in fragwürdiger Harmonie mit den Intendanten leben: "In Dax-Konzernen will die Personalchefin eine übertarifliche Bezahlung der Facharbeiter, der Leiter der Entwicklungsabteilung ein größeres Forschungsbudget und der Finanzvorstand ein Sparprogramm. Das sind keine persönlichen Marotten der Beteiligten, sondern die in die Organisation hineingetragenen Zweckwidersprüche der Anforderungen, die ihre Umwelt an sie stellt, etwa in Form von Märkten. Von der Spannung zwischen diesen Zweckwidersprüchen lernt die Organisation, welchen Bedürfnissen sie gerecht werden, welche Zwecke sie erfüllen muss. Harmonie zwischen den unvermeidlichen Zweckwidersprüchen lässt sich nur um den Preis herstellen, dass ein Teil von ihnen ausgeblendet wird." Zum Beispiel die Kostendisziplin.

In Russland wurde der Nowaja Gaseta die Lizenz entzogen und Iwan Safronow, ein ehemaliger Mitarbeiter der russischen Zeitung Kommersant, wegen Staatsverrats zu 22 Jahren Lagerhaft unter verschärften Bedingungen verurteilt, berichtet in der taz Barbara Oertel. "Von Beweisen könne keine Rede sein, schreibt das unabhängige russische Medienportal Projekt, da alle Informationen, die Safronow angeblich weitergegeben habe, frei zugänglich gewesen seien."
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