9punkt - Die Debattenrundschau

Wo Männer ohnehin Mangelware sind

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
10.10.2022. Die Krise auf dem ukrainischen Schlachtfeld stärkt üble Gestalten wie den Gründer der Kampfgruppe Wagner Jewgeni Prigoschin und den Tschetschenenführer Ramsan Kadyrow. Timothy Snyder leitet daraus in seinem Blog die Hoffnung ab, dass sich die Machtkämpfe nach Moskau verlagern. SPD-Altvordere haben aber auch noch in anderen Autokratien Potenzial, wie die FAS am Beispiel Rudolf Scharpings zeigt. In der NZZ beschreibt Sonja Margolina das demografische Problem Russlands. Die Zeitungen würdigen Bruno Latour, der im Alter von 75 Jahren gestorben ist.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 10.10.2022 finden Sie hier

Europa

Neue russische Angriffe auf Kiew. Und sicher ein historischer Moment für die BBC.


Mit der Mobilisierung hat Putin nicht nur den stillschweigenden Gesellschaftsvertrag in Russland gebrochen, der besagte, dass die Russen ihre Ruhe haben, solange sie Putin gewähren lassen, schreibt Reinhard Veser in der FAZ. Die Mobilisierung verläuft auch schleppend, und das sei "Symptom eines größeren Problems: Putins starker Staat ist eine Fassade. Viele Institutionen funktionieren schlecht, weil sie nur wenig mehr sind als Hüllen für korrupte Netzwerke. Das ist kein Systemfehler, sondern ein Strukturelement von Putins Herrschaft. Er gewährt den Staatsdienern im Gegenzug für treue Gefolgschaft das Recht zur Selbstbereicherung. Welche Folgen das für die Leistungsfähigkeit des Staates hat, ist auf den ukrainischen Schlachtfeldern zu sehen."

Veser bemerkt auch, dass die Krise auf dem ukrainischen Schlachtfeld in Russland die übelsten Figuren wie den Gründer der Kampfgruppe Wagner Jewgeni Prigoschin und den Tschetschenenführer Ramsan Kadyrow stärkt. Timothy Snyder leitet daraus in einem leider sehr wortreichen Essay auf seinem Blog Hoffnungen ab, denn er nimmt an, dass die Machtkämpfe innerhalb der russischen Elite zu einem Rückzug aus der Ukraine führen: "Wenn der Erdrutsch erst einmal begonnen hat, macht es für niemanden mehr Sinn, überhaupt noch russische Streitkräfte in der Ukraine zu haben. Daraus folgt nicht zwangsläufig, dass es in Russland zu bewaffneten Auseinandersetzungen kommen wird: Es ist nur so, dass die russische Führung, die von der durch den Krieg in der Ukraine verursachten Instabilität profitieren oder sich vor ihr schützen will, ihre Machtzentren in der Nähe von Moskau haben möchte, wenn die Instabilität nach Hause kommt. Und das wäre natürlich eine sehr gute Sache, für die Ukraine und für die Welt."

Eine weitere Radikalisierung des russischen Kriegs zeigt die Ernennung Sergei Surowikins zum Oberkommandierenden der russischen "Spezialoperation" in der Ukraine, über die Dominic Johnson in der taz berichtet. Surowikin hat schon im Tschetschenienkrieg und später in Syrien eine zentrale Rolle als "General Armageddon" gespielt: "Dort verantwortete er Luftangriffe auf die Zivilbevölkerung in Rebellengebieten, etwa in Aleppo. Der US-Analyst Charles Lister nennt ihn als Verantwortlichen für das vertraute Muster des syrischen Assad-Regimes, erst mit einzelnen Rebellengruppen 'Deeskalationsabkommen' zu schließen und dann umso gnadenloser die Bevölkerung bombardieren zu lassen. Aus der Syrienzeit stammt auch Surowikins Freundschaft mit Jewgeni Prigoschin, Chef der berüchtigten russischen Söldnertruppe Wagner."

Ein großes Problem in Russland ist auch die Demografie. Seit dem Zweiten Weltkrieg sank die Bevölkerung (überproportional die männliche) auf heute 144 Millionen Menschen, erklärt in der NZZ Sonja Margolina. "Um Russlands Geltungsansprüche als Großmacht legitimieren zu können, will Putin die russische Bevölkerungszahl mit allen Mitteln anheben. Vor diesem Hintergrund hätte die Ukraine, mit 41 Millionen Einwohnern der bevölkerungsreichste postsowjetische Staat, im Krieg zur riesigen demografischen Beute werden sollen." Das hat nicht nur nicht geklappt. Gleichzeitig könnte Russland durch den Krieg und die Mobilmachung, die eine Massenflucht auslöste, am Ende etwa zehn Prozent aller Männer zwischen 20 und 35 Jahren verloren haben. "Russland mit seiner niedrigen Geburtenrate, wo Männer ohnehin Mangelware sind und das unselige demografische Echo des Zweiten Weltkriegs bereits in der vierten Generation widerhallt, könnte mit dem Krieg in der Ukraine sein Potenzial an Human- und Wirtschaftskraft unwiederbringlich verspielen", so Margolina.

Die Wahl in Niedersachsen zeigt, dass die deutschen Wähler nicht auf die Idee kämen, die SPD für ihre jahrzehntelange sträflich verfehlte Russlandpolitik zu sanktionieren. Im Verhältnis zu China ist es sicher nicht anders. Hendrik Ankenbrand und Konrad Schuller loten in der FAS die von der deutschen Politik beförderte Abhängigkeit Deutschlands von China aus. Altvordere der SPD spielen dabei die übliche Rolle: "Es ist der Sommer 2021. Rudolf Scharping, SPD-Vorsitzender zwischen 1993 und 1995, steht vor den Kameras des chinesischen Staatsfernsehens und gratuliert der Kommunistischen Partei zum hundertsten Geburtstag. Chinas Unterdrückungspolitik in Hongkong oder Xinjiang erwähnt er nicht. Besonders pikant: Der frühere SPD-Chef spricht nicht nur für seine Firma 'Rudolf Scharping Strategie Beratung Kommunikation', sondern auch, wie er sagt, als 'Repräsentant der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands'."
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Ideen

Vor hundert Jahren hielt Thomas Mann seine berühmte Rede "Von deutscher Republik", wo er sich aus dem nationalistischen Mief der "Betrachtungen eines Unpolitischen" löste und sich zum ersten Mal eindeutig zur Demokratie bekannte. Der Ideenhistoriker Alexander Gallus nimmt das Jubiläum in der FAZ zum Anlass, Mann gegen die Kritik Jürgen Habermas' zu verteidigen, der Mann sein Schwanken vorgeworfen hatte: "Wer mit hochgradig präformierten Demokratiemodellen an die Ideengeschichte von Weimar herangeht, dürfte ihre eigentümliche Dynamik, ihren Hang zu Schwebelagen, zu gedanklichen Umbau- und Anpassungsleistungen nur unzureichend erkunden können. Die Weimarer Republik glich einem Laboratorium, in dem politische Ordnungsvorstellungen erst entstanden und erprobt werden mussten."

Der Wissenschaftssoziologe und Philosoph Bruno Latour ist im Alter von 75 Jahren gestorben (allein der Perlentaucher führt ein halbes Dutzend Bücher von ihm in seiner Datenbank). Michael Hesse würdigt in der FR Latours Beitrag zur Kontextualisierung naturwissenschaftlicher Forschung: "Dass Soziologen wie eben dieser Latour nun die Mechanismen ihrer Wahrheitsfindung erkundeten, empfanden Naturwissenschaftlerinnen und Naturwissenschaftler als einen frontalen Angriff. Denn schließlich waren sie es ja, so argumentierten sie, die den Anspruch objektiver Erkenntnis über die Jahrhunderte hinweg eingelöst hätten. Und insofern waren sie das Vorbild für alle anderen Wissenschaften. Latour hingegen wollte lediglich die Fähigkeit wissenschaftlicher Netzwerke erkunden, Objektivität hervorzubringen. An einen Angriff hatte er nicht gedacht." In der FAZ schreibt Jürgen Kaube zum Tod Latours.
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Gesellschaft

Der Biologe Florian Schwarz wendet sich bei hpd.de gegen das geplante Selbstbestimmungsgesetz, das es jedem ab 14 selbst überlässt zu definieren, ob er Mann oder Frau sei. Damit werde einer kleinen Minderheit Definitionsgewalt gegeben, so Schwarz. Aber die Probleme der Transpersonen löst es nicht: "Es wäre schön, wenn es die einfache Lösung gäbe, die das Gesetz vortäuscht, um die Diskriminierung von Transsexuellen zu beenden. Aber die gibt es nicht. Die Gesellschaft kann es nicht ändern, dass Transsexuelle 'im falschen Körper' stecken - auch nicht, indem sie behauptet, es gebe keinen Zusammenhang zwischen biologischem Körper und sexueller Identität. Es gibt - aufgrund der menschlichen Evolution - diesen Zusammenhang. Es gibt nur eben - wie immer in der Evolution - auch Ausnahmen von der Regel."
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Politik

Die Demonstranten im Iran brauchen Sichtbarkeit, betont Samira El Ouassil auf Spon. Da helfen auch symbolische Gesten wie Offene Briefe (hier und hier) oder das Video, auf dem sich die bekanntesten französischen Schauspielerinnen - darunter Juliette Binoche, Isabelle Adjani, Marion Cotillard, Jane Birkin und Isabelle Huppert - ihre Haare abschneiden. "Als diese Solidaritätsbekundung verbreitet wurde, war sogleich auch Kritik zu vernehmen: alles nur wieder performativ, reine Symbolpolitik, eitel, wirkungslos. Auch an dem Brief aus Deutschland gab es Gemosere: Zahnlos, trivial, in den sicheren Stuben aus der Entfernung geschrieben und unterzeichnet - wobei verkannt wird, dass Exiliranner:innen sich und ihre Angehörigen mit einer Unterzeichnung in existenzielle Gefahr bringen. ... Als Geste ist das selbstredend symbolisch, aber eben gerade in dieser Symbolik steckt die Essenz dessen, worum es geht: die Zerschlagung eines Systems, dessen ideologische Grundlage die Beherrschung der Frauen ist."
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