9punkt - Die Debattenrundschau

Stochastischer Papagei

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
03.04.2023. Zeit online hat eine Erklärung für die irre Kostensteigerung und den ins Unendliche reichenden Zeitplan der Sanierung des Pergamon-Museums: Es sollte unbedingt ein Plan des Architekten Oswald Mathias Unger verwirklicht werden, der sehr tiefe Eingriffe am Gebäude vorsieht. Der Westen hat eine Mitschuld an der Entwicklung Russlands zur Diktatur, sagt Michail Schischkin im Guardian: Er wollte sich unbedingt bereichern. Ist der Hype um ChatGPT ein Hype, fragt NetzpolitikJohannes Paul II. wusste um sexuellen Missbrauch in der Kirche und tat nichts, berichtet die taz.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 03.04.2023 finden Sie hier

Kulturpolitik

Auf Zeit online erhellt Nikolaus Bernau den Hintergrund des unfassbaren Skandals um die Sanierung des Pergamonmuseums in Berlin. Seit 2013 wird saniert, eventuell fertig will man 2037 sein. Mindestens dreieinhalb Jahre soll das komplette Museum geschlossen werden. Im Jahr 2000 war das Gesamtprojekt noch auf 240 Millionen Euro veranschlagt worden, für eine ungefähre Bauzeit von zehn Jahren. Bis 2037 werden die Kosten nun, bei einer Bauzeit von mindestens 24 Jahren, mindestens 1,5 Milliarden Euro betragen. Und für den Betrag ist nicht eine einzige Wärmepumpe geplant. Das Museum wird am Ende auch noch ein klimatechnisches Fossil sein, so Bernau. Der Hauptgrund für die irre Kosten- und Zeitexplosion ist der Umbauplan des inzwischen verstorbenen Architekten Oswald Mathias Unger, für den sich die SPK und der Bund entschieden hatten, weil man unbedingt einen "Haupt"- oder "Schnellrundgang" durch die Hauptgeschosssäle des Pergamonmuseums haben wollte und dafür auch tiefe Eingriffe in die Statik in Kauf nahm. "Ursache für alles ist letztlich, dass ein Konzept regelrecht gegen das bestehende Gebäude durchgesetzt wurde. Gezwungenermaßen mussten Riesenumbauten und damit Kosten folgen. Die SPK setzte eine von Beginn an teure und zeitintensive Planung durch, die nicht nur bei der künftigen Energie- und Klimabilanz des Pergamonmuseums desaströs sein musste. Die Stiftung Preußischer Kulturbesitz stellte offenbar auch in der Hoffnung auf den ganz großen Auftritt die Interessen des Publikums systematisch zurück." Und das "ist die eigentliche Katastrophe", findet Bernau: "Der Öffentlichkeit werden über einen schier unglaublichen Zeitraum unvergleichliche Kulturschätze vorenthalten. Und was einen vielleicht am meisten wundern kann bei allem: Von den Verantwortlichen hat man bislang kein Wort der Entschuldigung vernommen, kein Schuldeingeständnis." Geschweige denn, die Verantwortung für das Desaster übernommen.

Außerdem: In der FR denkt Robert Kaltenbrunner über die Bedeutung von Bibliotheken in der heutigen Zeit nach.
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Europa

Es gibt eine Mitschuld des Westens daran, dass der Krieg gegen die Ukraine möglich wurde, schreibt der Kunsthistoriker Vasyl Cherepanyn in einem Essay für Foreign Policy, den die FR übernimmt. Einer der Faktoren: die friedliche Gesinnung. "'Nie wieder' ist auf pervertierte Weise zu einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung  geworden. Die  EU hat die Idee des Friedens so sehr fetischisiert, dass sie die Realität des Krieges verdrängt hat - um dann völlig unvorbereitet zu sein, wenn das Verdrängte zurückkommt."

Auch Michail Schischkin sieht eine Mitschuld des Westens. Im Gespräch mit Andrew Anthony vom Guardian sagt er: "Ich fürchte, der Westen hat geholfen, dem russischen Volk dieses kriminelle Regime zu bringen. In den neunziger Jahren waren die Menschen bereit für die Demokratie, aber sie hatten keine Ahnung, wie sie funktioniert. Was haben die westlichen Demokratien der neuen  neuen russischen Demokratie gezeigt? Ich habe als Dolmetscher in der Schweiz gearbeitet, habe gesehen, wie diese riesige Waschmaschine funktioniert. Die Leute mit dem gestohlenen Geld, dem schmutzigen Geld, kamen aus Russland und eröffneten Konten in Zürich. Und Anwälte, Leute von den Banken, alle waren so glücklich, dieses schmutzige Geld zu bekommen. Sie waren sich absolut bewusst, dass es schmutziges Geld war. Dasselbe  passierte in London, sogar noch schlimmer, glaube ich. Es ist natürlich die Hauptverantwortung der Russen, aber ohne die Unterstützung der westlichen Demokratien wäre es unmöglich gewesen, diese neue Diktatur in Russland zu errichten."

Aus dem Projekt "Ehefrauen von Helden".



Die russische Propaganda erreicht unterdessen neue Rekorde der Geschmacklosigkeit. Der in Bielefeld lehrende Historiker Alexey Tikhomirov berichtet in der FAZ über das Projekt "Ehefrauen von Helden" der Putin-Propagandistin Ekaterina Kolotowkina. "Ehefrauen und Witwen lassen sich in Uniform mit den militärischen Auszeichnungen ihrer (teils aktiven, teils gefallenen) Ehemänner ablichten. Eines dieser Fotoalben wurde Putin persönlich vom Gouverneur der Region Samara im vergangenen Oktober im Kreml überreicht. Im ganzen Land werden solche Bilder auf den zentralen Plätzen der Städte ausgestellt. So wird das Gesicht der Kriegswitwe als neue soziale und politische Kraft im öffentlichen Raum sichtbar. Solche Fotos werden, ergänzt um persönliche Briefe und Kinderzeichnungen, an die Front geschickt, um die Moral der Soldaten zu stärken. Man betrachtet sie als 'Familienerbstücke' für zukünftige Generationen."

Kaum Aufsehen erregt hat eine "Friedensinitiative" aus SPD-Kreisen, die maßgeblich von Peter Brandt ergriffen wurde. Willy Brandts ältester Sohn, der zuvor das Manifest von Sarah Wagenknecht unterzeichnet hatte, entwickelt dort eine spezifisch sozialdemokratische Geschichtsversion und behauptet: "Die Friedens- und Entspannungspolitik, der wir die deutsche Einheit und die Überwindung der europäischen Spaltung verdanken, ist nicht überholt." Zu den Unterzeichnern gehören viele ehemalige Gewerkschaftsgranden wie Franz Steinkühler oder die Professoren Reinhard und Wolfgang Merkel.
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Religion

Auch der in Polen in höchsten Ehren gehaltene Papst Johannes Paul II. wusste von sexuellem Missbrauch in der Kirche, schreibt Gabriele Lesser in der taz: "Im Buch 'Maxima Culpa - Johannes Paul II. wusste davon' deckte der niederländische Polen-Korrespondent Ekke Overbeek vor rund drei Wochen auf, dass der spätere Papst in seiner Zeit als Krakauer Erzbischof vom sexuellem Kindesmissbrauch durch Priester in mindestens drei Fällen wusste. Statt aber die Sexualstraftäter in der Soutane der Staatsanwaltschaft zu übergeben oder zumindest aus der Seelsorge abzuziehen, habe Wojtyła die Priester lediglich in eine andere Gemeinde versetzt, in einem Fall sogar nach Österreich. Parallel zum Buch von Overbeek strahlte der Privatsender TVN24 die Dokumentation 'Franciszkanska 3' von Marcin Gutowski zum gleichen Thema aus." Auch in Polen hat das Ansehen der Katholischen Kirche im Kontext der Missbrauchsaffären, aber auch wegen de Nähe zur Pis-Partei gelitten, erzählt Lesser in einem zweiten Artikel.

Ronya Othmann kann es in ihrer FAS-Kolumne nicht fassen, dass Ratsversammlungen von Städten immer noch so naiv sind wie die von Wuppertal, wo eine Ditib-Moschee gebaut werden soll. Sie wiederholt es nochmal für Anfänger: "Die Religionsattachés in den türkischen Konsulaten beaufsichtigen die Moscheegemeinden. Und die setzten schon mal ganze Vorstände von Stadtteilmoscheen ab, wenn sie nicht auf Linie sind. Der Bundesvorstand von Ditib wird von der Religionsbehörde Diyanet bestimmt, das ist in der Satzung des Vereins festgeschrieben. Wollte man sich wirklich von Ankara lösen, müsste man zuerst die Satzung ändern."
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Internet

"Seit Freitag ist Italien das erste demokratische Land, das die Entwicklung und Verbreitung eines KI-Programms ausbremst", berichtet Andrian Kreye in der SZ. "Die Datenschutzbehörde Garante per la protezione dei dati personali (GPDP) ließ den Chat-GPT-Chatbot des kalifornischen Start-up-Unternehmen Open AI sperren. Das ist eine KI, mit der man sich über ein Texteingabefeld so flüssig unterhalten kann wie mit einem Menschen. Die Beamten forderten die Firma auf, mit sofortiger Wirkung keine Daten italienischer Bürger mehr zu verarbeiten, sonst drohe eine Strafe in Höhe von 20 Millionen Euro, oder vier Prozent des weltweiten Gesamtumsatzes." Grund sind fehlende Jugendschutzfilter und ein Fehler, der alle Chatverläufe für ein paar Stunden sichtbar machte.

Dieser Hype um die Gefahren der KI, der sich jetzt auch in einem Offenen Brief äußert, den unter anderem Twitter-Chef Elon Musk und Apple-Mitgründer Steve Wozniak unterschrieben haben, ist doch Blödsinn, kritisiert bei netzpolitik der Politikwissenschaftler Daniel Leisegang. Überhaupt, wozu der schrille Weltuntergangston? Ist der nicht eher "Ergebnis eines sich selbst verstärkenden Hypes", fragt Leisegang. "Die Linguistin Emily Bender kritisiert den Brief als weiteren Treibstoff für den KI-Hype. Sie weist darauf hin, dass derzeit niemand eine digitale Intelligenz ('digital mind') baue oder etwas Derartiges plane. Bender gehört zu den Mit-Autorinnen eines Forschungspapiers, das ChatGPT und vergleichbare große Sprachmodelle als 'stochastischen Papagei' bezeichnet. Sie würden vor allem auf die Vorhersage von Zeichenketten trainiert, demzufolge wissen die Systeme nicht, worüber sie sprechen. Stattdessen produzieren sie im Sinne des Philosophen Harry Frankfurt 'Bullshit' (zu Deutsch: Blödsinn) - sie lügen zwar nicht bewusst, scheren sich aber auch nicht darum, ob ihre Aussagen wahr sind."
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Medien

Evan Gershkovich ist der erste amerikanische Reporter seit Kalte-Kriegszeiten, der in Russland als Spion festgenommen wurde. Bis Ende Mai soll er jetzt zunächst mindestens festgehalten werden, berichtet sein Kollege und Freund Pjotr Sauer im Guardian: "Er hatte nicht damit gerechnet, festgenommen zu werden. Aber er machte sich auch keine Illusionen über die Risiken, die er einging. 'Über Russland zu berichten, heißt heute auch zuzusehen, wie Leute für Jahre eingesperrt werden', hatte er letzten Sommer in einem Tweet geschreiben. Es fühlt sich surreal an, jetzt über seine Festnahme zu schreiben."

turi2 berichtet über eine vom Bundeswirtschaftsministerium in Auftrag gegebene Studie, die eine Zustellförderung für Tageszeitungen für rechtskonform hält und bis zu 500 Millionen Euro im Jahr für denkbar hält. "Zur dpa sagt das Ministerium nun allerdings, für eine mögliche Bundesförderung der Presse habe das Haus 'keine Zuständigkeit'. Die Studie sei am Ende der vergangenen Legislaturperiode in Auftrag gegeben worden, weshalb man sich die Schlussfolgerungen nicht zu Eigen mache. Aus dem Haus von Kulturstaatsministerin Claudia Roth heißt es, die Zuständigkeit in der Regierung werde derzeit geklärt. BDZV-Hauptgeschäftsführerin Sigrun Albert sieht in der Studie hingegen eine deutliche 'Handlungsempfehlung'."
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