Efeu - Die Kulturrundschau

Das alte Schreckensbild des Herrn Jedermann

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09.11.2022. In der NZZ verteidigt Milo Rau das Zürcher Schauspielhaus gegen seine Kritiker: Schiller und Goethe waren ober-woke! Die FAZ blickt bestürzt auf die Abgründe, die sich unter Felix Nussbaums "Trostloser Straße" auftun. Im Standard versichert Robert Harris, dass Charles III. ein Englisch des 21. Jahrhunderts spricht. Die taz lernt von Regisseur Hong Sang-soo, zwischen den Zeilen zu fühlen. Und im ND preist Berthold Seliger die Sinnlichkeit des dialektischen Souls, mit der ihn Asher Gamedze auf dem Berliner Jazzfest betörte.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 09.11.2022 finden Sie hier

Kunst

Felix Nussbaum: Trostlose Straße, 1938/1939. Unten rechts erkennt man die Spuren des übermalten Gemälde. Bild: Zentrum für verfolgte Künste


Das Zentrum für verfolgte Künste hat Felix Nussbaums berühmtes Bild "Rue triste" untersucht und bei Röntgenanalysen herausgefunden, dass ihm ein Bild zur Pogromnacht von November 1938 zugrunde liegt, wie Stefan Trinks betroffen in der FAZ berichtet: "'Rue triste' ist nur die erkaltete und ausgeglühte Lava eines apokalyptischen Vulkanausbruchs der Gewalt in dem weiter auseinandergezogenen Straßenzug der ursprünglichen Fassung. Das heute noch zu erkennende Augenpaar gehört zu zwei unten links aus dem Bild fliehenden Männern, deren einer die Hand mit einer Geste so abgrundtiefen Entsetzens vor das Gesicht nimmt, als werde er den durch die Straße tobenden Sturm der Vernichtung niemals begreifen können: Auf und vor den Trümmerhaufen teilzerstörter Häuser und zerborstener Glasscheiben vor den nun offenen Fensterhöhlen liegen Leichen, ein Toter in hellerer Kleidung und einer pietà-artigen Mutter-Kind-Gruppe hinter sich wirkt in der Mitte der platzartigen Weitung der Ruinenstraße wie aufgebahrt, während rings umher Menschen in nackter Angst um ihr Leben rennen und sich aus dem Fenster stürzen."

Weiteres: Im Standard geht Herwig G. Höller der Absage der Moskau-Biennale nach, die einen Tag vor der geplanten Eröffnung verkündet wurde: "Die gesamte Ausstellung war aus unerfindlichen Gründen unter strenger Geheimhaltung vorbereitet worden: Eine Liste mit 27 russischen Teilnehmern wurde erst nach der Verkündung der Absage bekannt, die Kuratoren blieben anonym." Olga Kronsteiner meldet im Standard, dass in Wien ein Bild versteigert wurde, das unter dem Verdacht steht, Raubkunst zu sein. Besprochen wird Sabine Moritz' "Lobeda"-Zyklus in der Lyonel-Feininger-Galerie in Quedlinburg (FAZ).
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Bühne

Seit die NZZ dem Zürcher Schauspielhaus vorwarf, mit seiner Wokeness das Publikum zu vergraulen (mehr hier), steht das "Schuldtheater" in der Diskussion. Im NZZ-Interview mit Benedict Neff und Ueli Bernays verteidigt Regisseur Milo Rau das Haus: "Wenn ich zum Beispiel das Wort 'woke' nur geflüstert höre, schlafe ich ein. Man kann einen Kampf für die Vergangenheit nicht gewinnen. Seit es das Theater gibt, fährt es künstlerisch und intellektuell vor seiner Zeit. Es zertrümmert, es versucht, es versöhnt, es blüht. Ein Stadttheater darf nicht die Tradition pflegen, es muss Avantgarde sein... Die Wahrheit ist doch: Schiller, Goethe, Schnitzler, Dürrenmatt und all die anderen Klassiker, die man unbedingt ungekürzt sehen will, haben tolle, aber in Wahrheit erzieherische Stücke geschrieben. Die Stücke, die man ungekürzt sehen will, sind Erziehungsstücke. Man will die Schiller-Peitsche aus dem 18. Jahrhundert, aber die gibt's eben im 21. Jahrhundert nur noch an der Uni. Stemann hat gerade den ganzen 'Faust' aufgeführt, zum Glück modernisiert. Schiller und Goethe waren nämlich ober-'woke', das würden Sie im Original gar nicht aushalten. Deshalb machen wir etwas anderes."

Weiteres: Alexander Menden freut sich in der SZ mit dem Schauspiel-Intendanten Stefan Bachmann, dass sich Köln-Mühlheim als wunderbaren Standort für städtisches Theater entpuppt hat.
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Literatur

Im Standard-Gespräch kann der britische Bestseller-Autor Robert Harris nur noch mit dem Kopf schütteln, was die vergeigte Politik seines Landes seit dem Brexit betrifft - und singt ein Loblied auf den britischen Staat als solchen: König Karl der Alte stehe wie ein Fels in der Brandung. "Stellen Sie sich einmal vor, wie das in Frankreich oder den USA aussähe, wo der Präsident eine monarchen-ähnliche Stellung hat. Da ist mir unser System doch wesentlich lieber. Es geht ja auf die Glorious Revolution des späten 17. Jahrhunderts zurück; die Sprache, die in der ersten Amtswoche von Charles III. zu hören war, stammte aus diesem Jahrhundert. Ich glaube, der Übergang von der Queen zu König Charles hat die britische Monarchie bestätigt. Aus uns wird so schnell keine Republik." Dazu passend hat Harris mit "Königsmörder" eben einen Roman über die Könige Charles I. und Charles II. geschrieben.

Außerdem: Die Schriftstellerin Bettina Gärtner umkreist in einem Essay für den Standard, ausgehend von einer Begegnung mit einem groben Hundehalter, das System der Frauenfeindlichkeit nicht nur in Österreich: "Das alte Schreckensbild des Herrn Jedermann erweist sich immer wieder als nur vermeintlich vormodern." Sergei Gerasimow setzt in der NZZ sein Kriegstagebuch aus Charkiw fort. Und es ist vollbracht, wir haben sämtliche Literaturbeilagen des Herbsts ausgewertet - hier unsere Notizen.

Besprochen werden unter anderem Barbara Yelins, Miriam Libickis und Gilad Seliktars Comic "Aber ich lebe" (FR, Zeit), Achdés und Juls neues "Lucky Luke"-Abenteuer "Rantanplans Arche" (taz), neue Hörbücher (SZ) und Warlam Schalamows "'Ich kann keine Briefe schreiben' Korrespondenz 1952-1978" (FAZ).
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Film

Magie des Moments: "Die Schriftstellerin, ihr Film und ein glücklicher Zufall" (Grandfilm)

Auch "Die Schriftstellerin, ihr Film und ein glücklicher Zufall", der neue Film von Hong Sang-soo, zeichnet sich einmal mehr durch ein "kleines Nichts eines Plots", schreibt Ekkehard Knörer in der taz. Erneut wird an Tischen gesessen, etwas getrunken, erneut geht es um Bücher und Filme, die man drehen will oder nicht, erneut wird oft auch mehr geschwiegen als geredet. Gerade in diesem banalen Minimalismus liegt der Reiz der improvisierten Filme des Koreaners: "Es geht dabei weniger um das Gesagte und das Gezeigte als das Sagen und Sprechen und manchmal mehr noch das Schweigen, das Zeigen und Sehen, die Zwischentöne und das Lesen und mehr noch das Fühlen zwischen den Zeilen. Die Figuren sind nie völlig greifbar, auch nicht für sich selbst, entstehen, verändern sich mit den Situationen, beim Gehen, Reden und Zögern. ... Es geht dabei nicht um Autorenfilm-Größenwahn, sondern um Konzentration. Die Magie von Hongs Filmen ist eine Magie des Moments", oder mehr noch: "die Magie des Haiku".

Weitere Artikel: Im Dlf Kultur spricht Claudius Seidl über seine Helmut-Dietl-Biografie. Besprochen werden Saralisa Volms Thriller "Schweigend steht der Wald" (Tsp), Caroline Links vom ZDF online gestellte Serie "Safe" (Welt), die neue Staffel von "The Crown" (Presse) und der neue "Black Panther"-Blockbuster aus dem Hause Marvel (Presse).
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Musik

Berthold Seliger resümiert in einem epischen Longread für das ND das Jazzfest Berlin, wo ihn erst Peter Brötzmann Schönheit lehrte und der südafrikanische Schlagzeuger und Komponist Asher Gamedze schließlich den "Dialectic Soul", nachdem jener schon 2020 "eines der wichtigsten und besten Alben der letzten zehn Jahre, nicht nur in der Jazzmusik" vorlegte. Das Ganze ist zwar mit Marx und Hegel unterfüttert, aber dennoch "von enormer Sinnlichkeit. Ein ebenso lässiges wie gekonntes, frei swingendes Schlagzeugspiel, das die autonome Bewegung Afrikas symbolisiert, die Bläser reflektieren die unsagbare Gewalt der Kolonialisierung und der Apartheid. Und dann erleben wir, wie die Band innehält - das kennen wir sonst nur vom Freiheitskämpfer Beethoven, wahre Dialektiker sind ja nicht pausenlos am 'Senden'. ... Der Bassist entwickelt solo aus einer simplen, fünftönigen Figur eine tiefe, zunächst sehr bedächtige, dann immer weiter ausgreifende Reflexion, bis die anderen Musiker einstimmen und das Quartett zu einer die ganze Welt umspannenden Improvisation über die südafrikanischen Widerstands- und Freiheitshymne 'Hallelujah, Amen' abhebt." Auch tazler Maurice Summen ist fix und alle von den Ekstase-Angeboten, die sich beim Festival binnen kürzester Zeit auf geballtem Raum boten: "Einem Inferno kam das Konzert des Chicagoer Saxofonisten Isaiah Collier mit seinem Quartett The Chosen Few gleich. So eine Dringlichkeit, ja so einen Wall of Sound über eine Stunde, hatte man lange nicht gehört. Als würde Collier mit seiner Band in einer Konzertstunde den kompletten Urknall nacherzählen." Eindrücke vom Festival vermitteln die ARD-Jazznacht, sowie Mitschnitte hier beim Dlf Kultur und dort und da bei der ARD.

Jean-Martin Büttner vom Tages-Anzeiger kann sich nur schwer vorstellen, dass es Patti Smith selbst war, die veranlasst haben soll, dass ihr Song "Rock'n'Roll Nigger" aus dem Jahr 1978 vor kurzem aus den Angeboten der Streamingdienste verschwunden ist. "Smith war es darum gegangen, das Schimpfwort auf alle Randständigen oder Verstoßenen oder Irregewordenen auszuweiten" und sich damit gegen die Herrschenden zu richten. Zudem "hat sie ihren Song mehrmals verteidigt und dabei das Recht auf freie Meinungsäußerung eingefordert. ... Dass eine radikale Intellektuelle ein radikales Missverständnis einging, indem sie ein radikal rassistisches Wort gegen seine Absicht verwendete: So etwas ist heute undenkbar geworden. Weil wir verlernt haben, das Unangenehme einer Kontroverse auszuhalten: ihre Ambivalenz."

Kristoffer Cornils erklärt auf ZeitOnline, wie TikTok auf die Musikbranche wirkt und damit auch die Popmusik verändert: Wer in einem TikTok-Snippet mit seiner Musik viral geht, verdient damit zwar noch nicht direkt Geld, aber in der Regel folgt dem auf dem Fuße ein satter Spotify-Streaming-Goldregen: "Mittlerweile bröckelt die Integrität des Songs. Die Art und Weise, wie heutzutage Lieder geschrieben werden, passt sich dem ewigen Flow von Videos an, die in der Regel zwischen 15 und 30 Sekunden lang sind." Der Musiker Fred Again komponiert deshalb präzise für die Bedürfnisse der Plattform: "'Delilah (pull me out of this)' bietet dank vager und doch bedeutungsschwerer Textinhalte großes Memepotenzial. Auch auf musikalischer Ebene scheint es mit dem Zweck arrangiert zu sein, vor allem in Form wiederverwertbarer Häppchen rezipiert zu werden. Keiner der einzelnen Teile des Stücks ist länger als eine halbe Minute, manche von ihnen sind durch deutliche Pausen voneinander getrennt. Jeder einzelne bietet einen unterschiedlichen musikalischen Fokus und eine andere Stimmung an. Damit gleicht ein Musikstück eher einer knapp vierminütigen Playlist." Das klingt dann so:



Weitere Artikel: In der NZZ vergleicht Christian Wildhagen Teodor Currentzis und François-Xavier Roth, der ersteren beim SWR-Sinfonieorchester nachfolgen wird und auf Wildhagen wie "eine Art künstlerischer Zwilling" wirkt. Im Tagesspiegel stimmt Erik Wenk auf den Cellowettbewerb Emanuel Feuermann ein, der ab 15. November in Berlin stattfindet.

Besprochen werden Bob Dylans Buch "Die Philosophie des modernen Songs" (NZZ), Konzerte zu Ehren von Heinrich Schütz in Dresden, Berlin und Kassel (FAZ), ein Auftritt der Libertines (Standard, Presse), ein Auftritt des Quartetts Harmony mit dem Gitarristen Bill Frisell in Ludwigshafen (FAZ), das neue Album des Eva Klesse Quartetts (FR), ein Konzert des Mahler Chamber Orchestras unter Christoph Koncz (Tsp) sowie Dawn Richards und Spencer Zahns Album "Pigments" (Pitchfork). Wir hören rein:

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