Efeu - Die Kulturrundschau

Modale Harmonik mit Sekunddissonanzen

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15.11.2022. Weder modern noch revolutionär findet der Guardian die deutschen Malerinnen, die die Royal Academy in ihrer Ausstellung "Making Modernism" zeigt, aber mitunter genial. Die NZZ folgt Banksys Spuren durch Kiews Vororte. Die Nachtkritik beobachtet bewegt, wie die Gruppe Futur 3 am Schauspiel Köln den Holodomor an den ukrainischen Bauern aufarbeitet. In der taz erklärt der chilenische Regisseur Sebastián Lelio, warum er in seinem Film "Das Wunder" vom Glauben nur mit Brecht erzählen kann. Und alle gratulieren dem Pianisten, Dirigenten und "Overachiever" Daniel Barenboim zum Achtzigsten.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 15.11.2022 finden Sie hier

Kunst

Modern oder zeitlos? Käthe Kollwitz: Selbstportät, 1934 © Käthe Kollwitz Museum Köln


Unter dem Titel "Making Modernisms" versammelt die Royal Academy in London deutsche Malerinnen vom Beginn des 20. Jahrhunderts, von Käthe Kollwitz über Paula Modersohn-Becker bis zu Gabriele Münter. Im Guardian geht dieses Label Jonathan Jones total gegen den Strich. Die einen findet er zweitklassig, die anderen eigentlich nicht modern, sondern zeitlos: "Ich wäre weniger enttäuscht von dieser Schau, wenn sie einen passenderen Titel hätte. 'Making Modernism' verweist auf ein ehrgeizigeres Projekt, als diese Werke tatsächlich leisten. Da die Schau nur Künstlerinnen versammelt suggeriert er sogar eine revolutionär-feministische Neuschreibung der Kunstgeschichte. Tatsächlich versammelt sie einige mehr oder weniger interessante Figuren aus Deutschland von vor dem Ersten Weltkrieg, plus ein Genie, Kollwitz, die herausragt wie eine offene Wunde."




In der NZZ weiß Philipp Meier die poetischen Graffiti zu schätzen, mit denen Banksy seine Solidarität mit der Ukraine bekundet. Zu dem Mädchen im Handstand hat sich der Street-Art-Star bekannt, aber auch andere Bilder tragen seine Handschrift: "Eine Kiewerin, die sich als Fan von Banksy bezeichnet, bringt auf seinem Instagram-Kanal ihre Begeisterung über das Werk in Borodjanka zum Ausdruck: 'Kunst ist Power. Hier in der Ukraine haben wir Schwierigkeiten mit Strom nach den russischen Bomben. Aber nicht mit Power.'"

Weiteres: Im Tagesspiegel stellt Rolf Brockschmidt das Online-Portal "Islamic Art" des Museums für Islamische Kunst in Berlin vor.

Besprochen werden die Ausstellung "Teuflische Jahre" zur Satirezeitschrift Pardon im Caricatura Museum in Frankfurt (taz) und eine Ausstellung über den Bildchronisten Carl Theodor Reiffenstein im Historischen Museum Frankfurt (FAZ).
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Bühne

Futur3: "Die Revolution lässt ihre Kinder verhungern". Foto: Ana Lukenda / Schauspiel Köln

Bewegt und beeindruckt ist Gerhard Preußer in der Nachtkritik vom Stück "Die Revolution lässt Ihre Kinder verhungern", mit dem die Gruppe Futur3 am Schauspiel Köln den Holodomor aufarbeitet, Stalins Hungermord an den Ukrainern: "Mariana Sadovska und Yahia Sayenko kontrastieren immer wieder das Geschehen mit Liedern, die sie meist selbst geschrieben oder bearbeitet haben. Am eindringlichsten am Höhepunkt des genau abgezirkelten Spannungsbogens des Abends: Der junge Kopelew streitet mit seinem Vater und setzt dann gewaltsam die Abgabe des Getreides einer hungernden Bauernfamilie durch. Am Boden liegen die Darsteller:innen und summen in der typisch ukrainischen modalen Harmonik mit Sekunddissonanzen und melancholisch abfallenden Schlusstönen, während am Mikrofon Stalin seinen Sieg über die Kulaken verkündet."

Als tolles Rachsteück feiert Peter Laudenbach in der SZ Jette Steckels Inszenierung von Lucy Kirkwoods Stück "Das Himmelszelt" am Deutschen Theater, das er uns als "wuchtigen Hybrid aus überkonstruiertem Gerichtsdrama, Historienstück, feministischem Manifest und raunender Hexenbeschwörung" nahebringt. Es spielt im Jahr 1759 und erzählt von der Anarchistin Sally, die ihren Groll gegen jeden richtet, dem im Leben mehr vergönnt war: "Hier spielt Kathleen Morgeneyer die klassenbewusste Amokläuferin wie eine entsicherte Handgranate. Wenn sie nicht tobt, sackt sie teilnahmslos in sich zusammen, als würde sie die elende Welt schon lange nicht mehr interessieren. Morgeneyer lässt die Frage, ob ihre Sally komplett wahnsinnig oder die einzige Person mit Klarblick oder vielleicht beides ist, gekonnt offen. Sie zeigt eine Radikale, die kein Mitleid und sicher kein Verständnis braucht." In der FAZ imponiert es Irene Bazinger zwar, wie "quietschfidel" Kirkwood ihre Geschichte erzählt, trotzdem behagt ihr nicht, wie hier singend und tanzend die Gerechtigkeit ausgetrieben wird: "Steckels Regie ist bieder, naturtrüb eindimensional, und obwohl das Ensemble unter anderem mit Ursula Werner, Leila Abdullah, Franziska Machens und Anja Schneider hochkarätig besetzt ist, verläuft sich das Stück in obskurem Matriarchatsgeschwafel."

Besprochen werden das dada-feministische Musical "Hyäne Fischer" an der Berliner Volksbühne (taz) und die Komödie "Sister Act" im English Theatre Frankfurt (FR).
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Film

Kollidierende Glaubenssysteme: "Das Wunder" (Netflix)

Thomas Abeltshauser spricht in der taz mit dem chilenischen Regisseur Sebastián Lelio, der sich in seinem neuen, auf Netflix gezeigten Film "Das Wunder" (nach dem gleichnamigen Roman von Emma Donoghue) mit einer streng gläubigen Gemeinde auseinandersetzt. Gleich zu Beginn bricht der Regisseur mit einem Brecht'schen Verfremdungseffekt das Realitätsgefüge seines Films: "Es geht in 'Das Wunder' darum, wie Glaubenssysteme kollidieren, Wissenschaft versus Aberglauben, und Fakten infrage gestellt oder schlicht negiert werden. Und ich wollte den Film selbst als Teil des Problems markieren. Das Publikum soll sich nicht in der Geschichte und den Figuren verlieren, sondern den Film als Konstrukt wahrnehmen. Ich will, dass man sich als Zuschauer*in bewusst ist, dass es eine Illusion ist. Was glauben wir, nicht nur im Film, sondern im Leben allgemein?"

Besprochen werden David Cronenbergs "Crimes of the Future" (Jungle World, unsere Kritik hier) und Quentin Tarantinos Filmbuch-meets-Memoir "Cinema Speculation" (Filmdienst).
Archiv: Film
Stichwörter: Lelio, Sebastian, Glaube, Netflix

Literatur

Markus Steinmayr liest für den Freitag neue Thriller von Tom Hillenbrand, Andreas Brandhorst und Heiko von Tschischwitz darüber, wenn die kritische Infrastruktur kollabiert. Es geht in diesen Büchern um den Wirecard-Scam, Krypto-Finanzstrukturen und den Aufbau klimafreundlicher Technologie. Die Romane "spielen mit unserem Vertrauen in eine funktionierende Infrastruktur oder machen deutlich, vor welchen Herausforderungen der Aufbau zukünftiger Infrastruktur steht. Sie zeigen uns auch gleichzeitig, wie vulnerabel und damit risikobehaftet die gegenwärtigen und zukünftigen sind. ... Sie warnen uns, indem sie Risiken aufzeigen, sie rütteln uns auf, weil wir jetzt handeln müssen. Insbesondere erschüttern sie das neoliberale Credo, dass die Privatisierung von Infrastrukturen, wie etwa die des Stromnetzes, diese Infrastruktur effizient und effektiv mache. Ganz im Gegenteil, sie macht sie angreifbarer."

Weitere Artikel: Sergei Gerasimow setzt in der NZZ sein Kriegstagebuch aus Charkiw fort. Der Standard plaudert mit Elke Heidenreich über ihren eben verstorbenen Hund.

Besprochen werden unter anderem die Wiederveröffentlichung von Christine Wolters "Die Alleinseglerin" aus dem Jahr 1982 (taz), der Briefwechsel zwischen Ingeborg Bachmann und Max Frisch (NZZ), Norris von Schirachs "Beutezeit" (SZ) Nicolas Mathieus "Connemara" (NZZ), Torquemadas zum selber Zusammensetzen gedachter Krimi "Kains Knochen" (TA), Christof Gassers Krimi "Solothurn blickt in den Abgrund" (Freitag) und Wolf Christian Schröders "Fünf Minuten vor Erschaffung der Welt" (FAZ).
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Musik

Daniel Barenboim, 2005. (Bild: Fernando Delgado Béjar, CC BY-SA 3.0)

Die Feuilletons gratulieren Daniel Barenboim, der heute seinen 80. Geburtstag feiert. Vor ihm und seinen "vollbrachten Wundern" gingen alle, ob Kritiker oder Kollegen, auf die Knie, schreibt Jürgen Kesting in der FAZ: "Das Lob gilt einem Universalisten, der als Dirigent, Pianist, Kammermusiker, Liedbegleiter dreihundert Jahre Musikgeschichte durchmisst und der, nicht zuletzt, ein machtbewusster Kulturpolitiker ist. ... Den Ruf, ein 'pathological overachiever' zu sein (Financial Times), verdankt er unermüdlicher Arbeit im Plattenstudio." Doch "Aufnahmen waren für ihn immer nur Moment-Aufnahmen. Die übliche Flickarbeit - das Nachbessern mit Takes und Inserts für die Plattenperfektion - lehnt er ab; sie sei 'nicht vereinbar mit der Struktur und der Kontinuität' von Musik. Fehler, meist nur winzige Ungenauigkeiten, konnte er leichtnehmen. Er ist ja ''musikalischer als alle anderen', scherzte der Kritiker Joachim Kaiser, 'nur sein Ringfinger weiß das nicht'."

Für Welt-Kritiker Manuel Brug ist Barenboim seit Jahrzehnten "zu einer Art zweiten Furtwängler herangereift. Zu einer Eminenz in Sachen Musik, zu einer Autorität im Fach Deutsches Repertoire, zu einem Weltmeister der Töne", aber "immer auch ein überwacher, engagierter, sich einmischender Weltpolizist der Musik" und nicht zuletzt ein "absolutistischer Sonnenkönig der Hochkultur": "Intendanten kamen und gingen auf seinen Geheiß und blieben immer Fußnoten."



Schon als Jugendlicher spielte er den kompletten Sonaten-Zyklus von Beethoven ein, zuletzt spielte er diesen nochmal 2020 - bereits zum fünften Mal - ein, schreibt Julia Spinola in der NZZ. "Barenboim hat sich für sie nochmals von Grund auf neu in den Notentext vertieft und mit der ihm eigenen Hartnäckigkeit versucht, alles 'jungfräulich neu, von null zu lesen', wie er erklärte. Tatsächlich ist es dieser sehr persönliche Ton einer ungeschützten Offenheit, eine muttersprachliche Direktheit des Ausdrucks, die Beethovens Musik bei ihm auf eine intime, facettenreiche Weise lebendig werden lässt, wodurch viele Klischees, die sich auf ihre Rezeption gelegt haben, wie weggefegt erscheinen." Überhaupt biete ihm Beethoven "wie kein anderer Komponist ein Modell für die unauflösliche Verquickung von Kunst und Leben, die ihn selbst als Künstler antreibt."

Im Tagesspiegel gratuliert Jürgen Film, von 2010 bis 2018 Intendant der Berliner Staatsoper, an der Barenboim wirkt. Weitere Würdigungen verfassen Judith von Sternburg (FR) und Egbert Tholl (SZ). In der ARD- und ZDF-Mediathek finden sich diverse Konzerte, Dokus und Porträts. SWR2 gratuliert mit einem Radiofeature von Maria Ossowski. Außerdem hat Allegro Films eine dreizehnteilige Serie mit Barenboim über Beethoven online gestellt, die sich allerdings leider nicht einbetten, sondern nur verlinken lässt.

Weitere Artikel: Julia Lorenz resümiert für ZeitOnline die Verleihung der MTV Europe Music Awards, bei denen Taylor Swift sagenhaft abgeräumt hat. Maik Bierwirth schreibt in der Jungle World einen Nachruf auf den Popmusiker und -kritiker Kristof Schreuf.

Besprochen werden Barbra Streisands Album "Live at the Bon Soir" mit erstmals offiziell veröffentlichten und digital restaurierten Aufnahmen aus dem Jahr 1960 (taz), Bruce Springsteens Soul-Album "Only the Strong Survive" (NZZ), ein Berliner Schostakowitsch-Abend mit Alexander Melnikov (SZ) und Dream Unendings experimentelles Deathmetal-Album "Song of Salvation" ("die Monumente an die Melancholie dieses Traum-Doom-Duos fühlte sich nie so niederschmetternd und schön an", findet Sam Sodomsky von Pitchfork).

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