Spätaffäre - Archiv

Für Sinn und Verstand

95 Presseschau-Absätze - Seite 1 von 10

Spätaffäre vom 06.06.2014 - Für Sinn und Verstand

Mariam Lau besuchte fürs Zeit Magazin zwei Anwälte in New York, die, obwohl sie unterschiedlicher nicht sein könnten, gemeinsam Edward Snowden eine Rückkehr nach Hause ermöglichen sollen: Plato Cacheris und Ben Wizner, letzterer ein Anwalt der ACLU, der Bürgerrechtsorganisation American Civil Liberties Union: "Der 42-Jährige verteidigte Menschen, die in den internationalen Geheimgefängnissen der CIA im Zuge des Kriegs gegen den Terror gefoltert worden waren, wie zum Beispiel den Deutschen Khaled El-Masri. Immer wieder in den vergangenen zehn Jahren hat Wizner dabei die Erfahrung gemacht, dass seine Klagen nicht vor Gericht zugelassen wurden mit der Begründung, bei einer Verhandlung würden zu viele geheime Informationen öffentlich. Das heißt, Menschen, die im Auftrag der US-Regierung gefoltert wurden, konnten nirgendwo ihre Rechte geltend machen. Deshalb war die erste Frage, die Edward Snowden ihm noch aus seinem Fluchtort Hongkong stellte: "Hast du jetzt genug Material, um vor Gericht zu gehen?""

Im New York Magazine bricht Jody Rosen eine Lanze für den "Schlock" in der Musikgeschichte, auf Deutsch: Ramsch, Schrott, Schund, Abba, Billy Joel, Lionel Richie, Bruce Springsteen. Oder auch: "Schlock, jiddisch für billig, gebraucht, wertlos, ist, wenn schlechter Geschmack große Kunst wird, wenn Musik sämtliche aneren Werte kruder emotionaler Wirkung unterordnet. Schlock will überwältigen, die Sinne betäuben. Was sonst von der Kritik für achtenswert gehalten wird - Feinheit, Witz, Ironie, Originalität - all das hat keine Bedeutung beim Schlock. Schlock ist extravagant, grandios, sentimental und verfügt über einen unerschütterlichen Glauben an das Melodramatische, große Worte und Gesten, wie ausgeleiert sie auch sein mögen. Schlock ist "You"ll Never Walk Alone", nicht "My Funny Valentine" … Schlock ist alles ander als cool. Schlock ist der schwitzende Meat Loaf, der singt: "I Would Do Anything for Love (But I Won"t Do That)". Schlock ist Chicagos "If You Leave Me Now", ein fast vulgär schöner Song mit einer Melodie, die wogt und schimmert wie ein Seidenlaken, das auf ein Louis-XIV-Himmelbett herabsinkt … Die Geschichte aber lehrt uns, Schlock ernst zu nehmen, denn es ist Geschichte, ursprünglich. Schlock steht am Beginn der Musik, als der erste altsteinzeitliche Flötist ins Horn blies, um um eine Frau zu werben. In der Geschichte der Popmusik findet es sich im Herzschmerz des Delta blues, in den vom Tod kündenden Country-Balladen, im Gospel, in den schottischen und irischen Balladen, die den Folk befruchteten, im viktorianischen Salonliedern mit ihren frommen Müttern und Kindern, den Märtyrer-Soldaten und alten Eichenfässern in alten Häusern." Dank GEMA sind die zahlreichen verlinkten Hörbeispiele bei uns leider nicht zu haben. Dafür gibt es eine Liste mit den 150 größten Schlock-Songs aller Zeiten.

Spätaffäre vom 05.06.2014 - Für Sinn und Verstand

Heute kam die Meldung, dass Jaron Lanier mit dem Friedenspreis des deutschen Buchhandels ausgezeichnet wird. Deutsche Leser kennen den amerikanischen Interpionier - er gilt als Erfinder der virtuellen Realität - nur als Konvertiten, als Mahner vor "digitalem Maoismus" und kybernetischem Totalitarismus. Doch 2011 zeichnete Jennifer Kahn im New Yorker ein sehr viel komplexeres Porträt Laniers: Sie beschreibt seine ungewöhnliche - und dramatische - Kindheit, tief geprägt von der Hippiekultur, was ihn allerdings nicht davon abhielt, für Atari oder (seit 2006) im Forschungslabor von Microsoft zu arbeiten: "Laniers Sehnsucht, sich dem Gespräch zu entziehen, während er gleichzeitig Akzeptanz sucht, hat tiefe Wurzeln. "Als ich aufwuchs fand mein Dad manchmal, dass ich nicht exzentrisch genug bin - in dem Sinne, dass ich später als Erwachsener in einem Haus mit Wänden, die parallel stehen, leben wollte, so Sachen", erzählte Lanier. Dann sprach er über seine Mutter. "Hätte sie länger gelebt, ich glaube ich wäre auf konventionelle Art erfolgreicher geworden", meint er. "Ich wäre Medizinprofessor in Harvard geworden oder etwas ähnliches. Mein Dad sagte "Sei der Buckminster Fuller oder der Frank Lloyd Wrigt" - sei der seltsame Außenseiter, der erfolgreich wird. Was ich dann ja auch irgendwie wurde."

Porno, erfahren wir auf Rue89, ist eine ernsthafte Angelegenheit, die inzwischen unter dem Label porn studies auch wissenschaftlich erforscht wird. In einem Gespräch mit dem Geisteswissenschaftler François-Ronan Dubois, der jüngst eine einschlägige Einführung in das - natürlich aus Nordamerika importierte - Fach vorlegte, versucht Renée Greusard mehr darüber herauszufinden. Dubois erklärt es zum einen als eine universitäre Disziplin, zum anderen als eine "militante Bewegung", die einen kritischen und einen positiven Aspekt habe. Ersterer beschäftige sich mit den Stereotypen, Mainstream-Fragen und den konkreten Aufnahme- und Darstellungsformen der Studios, Letzterer "berücksichtigt auch bereits bestehende Initiativen, die jedoch noch Minderheiten darstellen oder Existenzprobleme haben, wie eine ethische, feministische oder schwule Pornografie". Auf die Frage nach der Akzeptanz des Sujets im akademischen Milieu meint er: "Ein junger Forscher, muss es sich schon überlegen, wenn er einen Artikel oder eine Arbeit zu diesem Thema schreibt. Er ist gezwungen, sich zu fragen, ob das eine gute Karrierestrategie ist. Es gibt einen spontanen Vorbehalt dagegen. Wenn man über Balzac arbeitet, muss man sich solche Fragen jedenfalls nicht stellen."

Spätaffäre vom 04.06.2014 - Für Sinn und Verstand

Ahmed Raschid empfiehlt in der New York Review of Books nachdrücklich Carlotta Galls Buch über den Afghanistankrieg "The Wrong Enemy: America in Afghanistan, 2001-2014". Die New-York-Times-Reporterin macht seiner Ansicht nach ganz richtig die pakistanische Armee als den eigentlich Feind Amerikas aus, nicht die Afghanen. Aber die Pakistanis sind nicht allein Schuld am Aufstieg der muslimischen Extremisten, auch Bush und Obama haben versagt, eine Strategie für den Konflikt zu finden. Und es gibt noch mehr Schuldige, so Raschid: "Gall ignoriert den afghanischen Bürgerkrieg nach 1989, als alle Warlords internationale Hintermänner hatten. Sie erwähnt nicht, dass Pakistan und Saudiarabien die Taliban unterstützten, während Russland, Iran, Indien, die Türkei und Zentralasiatische Republiken die Nordallianz unterstützten. Erst kürzlich gab Iran den Taliban und Al Kaida Unterschlupf, Indien finanziert den Aufstand der Separatisten in Belutschistan und Afghanistan gewährt den Führern der pakistanischen Taliban Zuflucht. Die Amerikaner haben dabei versagt, die Bevölkerung der Region zu schützen. Die meisten Afghanen erklären einem heute, sie fürchteten sich am meisten davor, dass nach dem Abzug der Amerikaner die Einfälle aus den Nachbarländern wieder anfangen. Doch Gall gibt von allen Nachbarn nur Pakistan die Schuld."


In Eurozine (ursprünglich New Humanist) möchte Kenan Malik in der Debatte um den Ersten Weltkrieg und seine Ursachen nicht den Imperialismus aus dem Blick geraten lassen: "Es gab vor allem in diesem Jahr viele Diskussionen über die Rolle von Deutschlands Militarismus. Viele, die den Ersten Weltkrieg als einen gerechten, zumindest notwendigen Kampf darstellen wollen, betonen, wie wichtig es war, dass Großbritannien die deutsche Aggression stoppte. Deutschlands expansionistische Tendenzen und sein virulenter Rassismus ergeben nur Sinn vor dem Hintergrund des Imperialismus im 19. Jahrhundert, vor der Aufteilung des Globus unter den großen Mächten, als sich die "lebenden" Nationen das "Territorium der sterbenden" einverleibten. Imperialistische Expansion und die Rivalität der Großen Mächte waren eng miteinander verknüpft, wie Lord Salisbury richtig vorausgesehen hatte. Rivalitäten beförderten die imperialistische Expansion, während die imperialistische Expansion die Rivalitäten nährte."

Spätaffäre vom 03.06.2014 - Für Sinn und Verstand

In der Los Angeles Review of Books macht Muhammad Idrees Ahmad, Autor von "The Road to Iraq - The Making of a Neoconservative War", dem gefeierten Journalisten Seymour Hersh, der einst das Massaker von My Lai aufdeckte, sehr schwere Vorwürfe und hat dafür leider einige recht triftige Argumente. Hersh hatte in der London Review of Books, gestützt auf eine anonyme Quelle, behauptet, einige Giftgasattacken in Syrien seien nicht vom Assad-Regime, sondern von Islamisten verübt worden, um Barack Obama zur Intervention in Syrien zu verleiten (unser Resümee). Ahmad weist Hersh handwerkliche Fehler nach - unter anderem diesen: "Um Hershs Methode zu verstehen, lese man nur diesen beispielhaften Satz Hershs über das Untersuchungsteam der UN (dessen Ergebnisse eindeutig auf Assad als Urheber der Giftgasattacken hinweisen, d.Red.): "Ihr Zugang zum Ort des Geschehens, der erst fünf Tage nach den Gasattacken möglich wurde, fand unter Kontrolle der Aufständischen statt." Damit suggeriert Hersh, dass die UN durch die Gegenwart der Rebellen behindert worden seien und bezweckt, dass die Leser ein Hauptdetail übersehen: Der Besuch fand deshalb "fünf Tage nach dem Gasangriff statt" , weil das Regime den Zugang zu den Stätten verhinderte und sie stattdessen mit andauerndem Artilleriebeschuss belegte." Der London Review of Books wirft Ahmad vor, "profaschistischer Propaganda" aufzusitzen und keine Gegenstimmen zuzulassen.

Im Merkur erinnert sich die Schriftstellerin Edith Lynn Beer an das oft besungene Österreich-Ungarn ihrer Familie, das es schon vor ihrer Geburt nicht mehr gab. "Ich war noch zu jung, um in der Schule von der Geschichte Österreich-Ungarns erfahren zu haben, da versammelte sich in Woodmere, Long Island, an den Sonntagen in den 1940ern ein Chor von Cousins und Cousinen, Onkeln und Tanten an unserem Wohnzimmertisch und sprach über "die Bukowina", wie sie sie nannten, den äußersten, östlichen Teil Österreich-Ungarns, als existiere sie noch. Den Ersten Weltkrieg und den aktuellen Krieg gegen die Nazis vergaß meine Familie an diesen Nachmittagen einfach, als könnten ihre Erinnerungen die Heimat vor der Invasion für immer bewahren."

In der Sprachkolumne des Merkurs nimmt Daniel Scholten die Ambitionen zur Etablierung einer geschlechtsneutralen Sprache in der neuen Straßenverkehrsordnung aufs Korn, wo aus Autofahrern "Auto Fahrende" wurden und - "von hier an wird es richtig falsch" - aus Fußgängern "zu Fuß Gehenden".

Spätaffäre vom 02.06.2014 - Für Sinn und Verstand

Im Schweizer Monat unterhalten sich Marc Beise, Frank Schirrmacher und Peter Sloterdijk (online gestellt von Eurozine) über die "amerikanischen Digitalgiganten", und Peter Sloterdijk macht einen etwas überraschenden Punkt, als er Frank Schirrmacher zur Idee für ein europäisches Google beglückwünscht, als hätte Schirrmacher mit seinen apokalyptischen Visionen nicht kräftig dazu beigetragen, jeden Gedanken an digitale Innovationen zu ersticken. Diese Haltung kommt nicht von ungefähr: "In Europa", so Sloterdijk, "haben wir uns als Opfer empfunden, als Spielmasse der russisch-amerikanischen Konfrontation, und haben Lichterketten gebildet. Damit schafft man aber noch keine Kompetenz; es gibt hier ein europäisches Versäumnis, für das wir einen hohen Preis bezahlen. Es ist ja nicht so, dass der Computer ausschließlich auf amerikanischem Boden entstanden ist. Konrad Zuse hat für seinen genialen Computer, den er Ende der vierziger Jahre entwickelt hat, nach 20-jährigem Prozess vor dem Deutschen Patentamt eine endgültige Ablehnung seines Patentantrages erhalten, mit dem Argument, hier liege ein Produkt von mangelnder Erfindungshöhe vor. Das ist ein Ausdruck, den man sich auf der Zunge zergehen lassen muss!"

Außerdem interviewt Geert Lovink in Eurozine die Filmemacherin und Aktivistin Astra Taylor, die in ihrem Buch "The People's Platform" über Internet und Kapital schreibt und eine große Lücke ausmacht: "Kritisches Denken ist nicht auf dem Stand der heutigen Realität mit ihrem vernetzten Kapiatlismus - Deleuze' kurzes Postskriptum über die Kontrollgesellschaften ist so ziemlich das beste, was man zu diesem Thema bekommen, und er erwähnt nicht einmal explizit das Internet."

In der neuen Ausgabe des New York Times Magazines porträtiert Jesse Lichtenstein die junge amerikanische Indie-Lyrikerin Patricia Lockwood. "Motherland Fatherland Homelandsexuals" heißt ihr neuer Gedichtband, darin stehen solche Sachen: "Emily Dickinson was the father of American poetry and Walt Whitman was the mother. Walt Whitman nude, in the forest, staring deep into a still pool - the only means of taking tit-pics available at that time." Auf Twitter, wo Lockwood 38.000 Follower hat, schreibt sie ihre berüchtigten "Sexts": "I am a water glass at the Inquisition. You are a dry pope mouth. You pucker; I wet you." Die Fans lieben sie dafür und inzwischen auch die Verleger. Lockwood selbst umreißt ihre Poetik in aller Kürze: "Ein guter Nebeneffekt davon, nie ins College gegangen zu sein, ist der Umstand, dass es mir niemals peinlich ist, etwas nicht zu wissen. Ich weiß einfach zu viel nicht. Würde man mein Gehirn anschauen, es würde so sein, wie das jener Taxifahrer, die nur einen großen Hirnlappen haben mit nichts als Richtungen drin. Bei mir wären es halt Metaphern. Eine echte Ausnahmeerscheinung."

Spätaffäre vom 30.05.2014 - Für Sinn und Verstand

John Gray bespricht im New Statesman den Sammelband "Mao's Little Red Book", der zwar ganz interessant beleuchte, welchen Einfluss einst die Mao-Bibel im Westen hatte, aber kein Wort über Maos Verbrechen verliere. Gray findet das symptomatisch für die Sinologie an den Universitäten: "Wahrscheinlich werden einige einwerfen, dass wir um Maos Versäumnisse wissen - warum also auf ihnen herumreiten? Aber wenn wir heute das Ausmaß von Maos Verbrechen kennen, dann ist das nicht das Ergebnis von jahrzehntelanger akademischer Arbeit. Die erste gründliche Untersuchung zur großen Hungernot, 'Hungry Ghosts' (1996), wurde von dem in Hongkong lebenden Journalisten Jasper Becker verfasst. Erst 2010 erschien 'Maos Großer Hunger' des Historikers Frank Dikötter, eine wegweisende Studie, die auf jahrelanger Forschung in den jüngst geöffneten chinesischen Archiven basiert. Abgesehen von den Erinnerungen der Überlebenden, wurden die menschlichen Kosten der Kulturrevolution am besten in den Büchern 'Chinese Shadows' und 'The Burning Forest' von Simon Leys erfasst (ein Pseudonym des belgischen Sinologen und Schriftstellers Pierre Ryckmans). Eine Offenbarung und Maßstab für alle ist die Arbeit 'Mao' von Jung Chang und ihrem Mann Jon Halliday. Abgesehen von Dikötters wurde keines dieser Bücher über die menschlichen Erfahrungen unter Mao von einem Wissenschaftler geschrieben."

In der aktuellen Ausgabe des Magazins befasst sich Ian Parker mit dem englischen Schriftsteller Edward St. Aubyn und seinen kommerziell höchst erfolgreichen Versuchen, den von der Mutter geduldeten sexuellen Missbrauch durch den eigenen Vater und seine Drogensucht mittels des Alter Ego Patrick Melrose literarisch zu verarbeiten. Parker stellt die Verbindung her zwischen Fiktion und einer finsteren Wirklichkeit, die in der "Patrick Melrose"-Trilogie offenbar nur ansatzweise Niederschlag findet: "Edward St. Aubyn zufolge begannen die Übergriffe durch den Vater, als er drei Jahre alt war und endeten, als er acht war. Nick Ayer kennt eine Frau, die als Kind ebenfalls von Roger (St. Aubyn) missbraucht wurde. Wenn Patrick in 'Zu guter Letzt' Momente der Missbrauchsgeschichte in seiner Familie rekapituliert, eine Geschichte, die laut St. Aubyn Reportagecharakter hat, gibt es Bezüge zu anderen Opfern neben Patrick … Dies erinnernd, beschreibt St. Aubyn die Ankunft einer neuen Nanny. 'Sie sagte, ich bin deine neue Nanny, und nun ist es Zeit für ein Bad, mach dich fertig. Ich ging und zog einen Anzug an, Krawatte, Schuhe, Socken. Sie fragte, was das soll, und ich antwortete: Sie sind eine Fremde, ich werde mich nicht vor ihnen ausziehen. Ich stieg also bekleidet wie ich war in die Wanne. Es ist klar, warum ich das tat."

Spätaffäre vom 28.05.2014 - Für Sinn und Verstand

Genau die richtige Lektüre für eine verregnete Himmelfahrt: In einem so inspirierten wie informativen 17-seitigen Artikel erklärt der amerikanische Juraprofessor Eben Moglen im Guardian, wie sehr global spionierende Geheimdienste inzwischen unsere Demokratie bedrohen und was wir dagegen tun können. Moglen stellt dabei mehrere interessante Vergleiche an, darunter den der Überwachung mit der Sklaverei. Gegen beide war und ist Widerstand erlaubt, selbst wenn Gesetze diesen Widerstand verbieten: "Ein Teil unserer Tradition besagt, dass die Freiheit von unterdrückerischer Kontrolle allen Menschen überall zusteht, als Recht. Er besagt, dass Sklaverei einfach falsch ist, dass sie nicht toleriert oder gerechtfertigt werden kann, weil der Sklavenhalter Angst oder ein Sicherheitsbedürfnis hat. ... Wir sollten gegen die Methoden des Totalitarismus kämpfen, weil Sklaverei falsch ist. Weil die Überwachung der gesamten Menschheit durch Sklavenhalter falsch ist. Weil das Bereitstellen von Energie, Geld, Technologie und eines Systems, das die Privatsphäre aller Menschen auf der Welt kontrolliert, falsch ist." Dies aber, der Kampf gegen die Überwachung, sei - wie der Umweltschutz - nicht nur die Aufgabe einer Nation, sondern könnte nur gemeinsam in Angriff genommen werden. Und das bedeute auch: "Die deutsche Kanzlerin muss aufhören, über ihr Mobiltelefon zu reden und statt dessen darüber reden, ob es okay ist, die Telefonanrufe und Textnachrichten aller Deutschen an die USA zu liefern."

Greift der Open-Source-Gedanke am Ende noch in der Medizin um sich? Thierry Crouzet erzählt in Rue89 die erbauliche Geschichte des Schweizer Arztes Didier Pittet, der ein innovatives Mittel zur Desinfizierung der Hände entwickelte, das seitdem in Abertausenden Krankenhäusern rund um die Welt benutzt wird. Rechnungsweise acht Millionen Leben hat er durch die verbesserte Hygiene gerettet. Als er in Kenia sah, das die Afrikaner für das Mittel doppelt so viel Geld ausgeben müssen wie die Europäer, "entscheidet sich Doktor Pittet, die Formel zu veröffentlichen und daraus ein Gemeingut zu machen. Und damit all den Firmen, die sich auf dem Rücken der Kranken bereichern, das Geschäft zu vermiesen. Wie die meisten Wissenschaftler hätte Pittet ein Patent anmelden und eine wohlhabende Firma gründen können. Er hat sich entschlossen, seine Erfindung zu teilen."

Spätaffäre vom 27.05.2014 - Für Sinn und Verstand

Muss die Musikgeschichte umgeschrieben werden? Das vielleicht nicht, aber einige Songs von Led Zeppelin brauchen neue Credits, schreibt Vernon Silver in Bloomberg Businessweek. Das Intro von "Stairway to Heaven" etwa hat unüberhörbar Ähnlichkeit mit dem Anfang des drei Jahre früher komponierten Stücks "Taurus" der LA-Band Spirit. "Zeppelin-Biografien legen solche Übereinstimmungen zugunsten von Jimmy Page aus. Sie nennen ihn einen Verwandler. Mick Wall, Autor des Buchs 'When Giants Walked the Earth: A Biography of Led Zeppelin', meinte, wenn Page von 'Taurus' beeinflusst war, 'dann tat er damit dasselbe wie jemand, der ein Stück Holz im Garten aufsammelt und daraus eine Kathedrale baut'. Aber Songwriter, von denen Led Zeppelin sich haben inspirieren lassen, waren in den letzten Jahrzehnten öfter erfolgreich mit ihren Klagen. Seit ihrem Debütalbum 1969 hat die Band Credits und Tantiemen für einige ihrer größten Songs teilen müssen, darunter 'Whole Lotta Love' und 'Babe I'm Gonna Leave You'. Eine Klage wegen Urheberrechtsverletzung wegen 'Dazed and Confused', ein grundlegender Song, der das Herzstück ihrer Live Shows war, wurde 2012 beigelegt. Das Internet hat den Vergleich durch Amateur-Plagiatsjäger einfacher werden lassen." Hier kann man die Intros von "Stairway to Heaven" und "Taurus" im Vergleich hören.

Die New York Times bringt ein Heft mit Gesundheitsthemen. Ein spannender Beitrag von Michael Behar behandelt das Feld Bioelektronik und die Hypothese, dass zwischen Nerven- und Immunsystem eine Verbindung besteht. Kann die elektrische Stimulation des Vagusnervs Entzündungskrankheiten wie Arthritis abwenden? Und wenn ja, wie geht die Sprache dieser Krankheit? "Eine Herausforderung besteht darin, Krankheitssignale aus der Fülle 'gesunder', neuronaler Signale herauszufiltern und zu verstehen, wie die Krankheit mit dem Nervensystem kommuniziert. So wie Computer sprechen auch Neuronen eine binäre Sprache, ihr Vokabular funktioniert nach dem Prinzip an/aus. Abfolge, Intervall und Intensität des An/Aus bestimmen die Informationsübertragung. Da jede Krankheit jedoch ihre eigene Sprache spricht, braucht es einen Übersetzer. Der Harvard-Physiker Adam E. Cohen und seine Kollegen setzen auf Optogenetik. Anstatt mittels Licht Neuronen zu aktivieren, verwenden sie Licht, um Neuronen-Aktivität aufzuzeichnen." Bleibt die Frage der Sicherheit. Auch wenn Bioeletronik weniger Nebenwirkungen verspricht als konventionelle Medizin, arbeitet sie doch mit Mitteln, die heikel sind. "Bioelektrische Implantate arbeiten mit kabelloser Justierung und Updates, so wie die Software auf einem iPhone. Kabellos aber bedeutet 'hackable', manipulierbar. Eine beunruhigende Tatsache."

Spätaffäre vom 26.05.2014 - Für Sinn und Verstand

Den Verlautbarungen nach hat Googles selbststeuerndes Auto bisher keinen Unfall gebaut, einen solchen Erfolg könnte sich David Runciman bei einem Regierungsprogramm nicht mal im Traum vorstellen. Dennoch, meint er im Guardian, könne Technologie noch lange nicht Probleme lösen, wie die Politik das kann. Schlechte Politik kann nur durch bessere Politik ersetzt werden: "Das Internet wurde als militärisches Projekt ins Leben gerufen, auch die SMS. Natürlich wusste die Regierung überhaupt nicht, was sie mit dem, was sie da geschaffen hatte, anfangen sollte. Es mussten erst die hellen Burschen der Tech-Industrie auf den Plan treten, um wissenschaftliche Innovation zu einem marktfähigen Produkt umzugestalten: von Milnet und Arpanet zu Google und Twitter. Private Unternehmen können solche Sachen viel besser als Regierungen. Aber private Unternehmen können dies nur, weil Regierungen für den Auftrieb gesorgt haben und das Geld der Bürger ausgegeben haben, als gäbe es kein Morgen."

Bemerkenswert findet der Jurist Philippe Sands bei der Lektüre von Glenn Greenwalds "No Place to Hide" zudem, wie skrupulös Greenwald, Edward Snowden und Laura Poitras über die Legitimation ihrer Enthüllungen nachgedacht haben - im Gegensatz zu den britischen Medien: "Großbitannien braucht eine echte Debatte über die Macht des Staates, Information in dem Maße zu sammeln, wie Snowden berichtet, inklusive der Ziele und Grenzen."

Spätaffäre vom 23.05.2014 - Für Sinn und Verstand

Die Konzentration auf dem Buchmarkt schreitet brachial voran, der neue Medienriese Penguin Random House hat gleich auch noch die Buchverlage der spanischen Prisa-Gruppe geschluckt, zu der ansonsten etwa El País gehört. Unter dem Titel "Zentralmarkt" zeigt Daniela Szpilbarg in der argentinischen Revista Anfibia, was die Übernahme bedeutet: "Der deutsche Konzern Bertelsmann - Mehrheitseigner von Penguin Random House - hat damit in Spanien wie auch in ganz Lateinamerika, Brasilien eingeschlossen, nur noch einen einzigen Konkurrenten, die Verlagsgruppe Planeta. Und die Werke von Isabel Allende, Jorge Luis Borges, Julio Cortázar, Gabriel García Márquez, José Saramago, Mario Vargas Llosa, Carlos Ruiz Zafón und hunderter weiterer spanisch- und portugiesischsprachiger Autoren erscheinen künftig bereits im Original allesamt unter ein und demselben - mehrheitlich deutschen - Dach."

Auch in Indien rast die Zeit, aber niemand weiß wohin. Pankaj Mishra wütet im Guardian gegen Narendra Modi, der mit seiner BJP die Wahlen so eindeutig gewonnen hat. Und er schreibt: "Die anhaltenden Versuche von Indiens herrschender Klasse, dem Land ein modernes Gewand zu geben, haben im sechsten Jahrzehnt Folgen gezeigt, die weder Nehru noch sonst jemand hätte voraussehen können: eine starke Politisierung und einen heftigen Kampf um die Macht gehen einher mit Gewalt, Fragmentierung und Chaos, begleitet von einer Sehnsucht nach autoritärer Kontrolle. Modis Image als ein Exponent von Disziplin und Ordnung baut auf die Erfolge wie auf die Versäumnisse des alten Regimes. Er bietet, von oben nach unten, Modernisierung ohne Moderne: Hochgeschwindigkeitszüge ohne jede Kultur von Kritik, die Effizienz des Managements ohne die Garantie gleicher Rechte. Und dieses stromlinienförmige Design für ein neues Indien ist verlockend für die wohlhabenden, von den bettelarmen Massen abgestoßenen Inder, denen die Demokratie schon lange ein Ärgernis ist, und für die technokratischen, leicht despotischen 'Macher', wie Lee Kuan Yew, den ersten Premierminister von Singapur."

Mehr als nur eine Steampunk-Mode sieht außerdem im Guardian der Komponist Christopher Fox in dem Revival alter Aufnahmentechniken, gerade weil heute alle Musik der Welt jederzeit verfügbar und endlos ist.