9punkt - Die Debattenrundschau

Und irgendwann wachten wir auf

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
02.03.2016. Der autoritäre Charakter ist auferstanden. Und er hat Donald Trump gewählt - meint jedenfalls das amerikanische Blog Vox.com mit Blick auf politologische Studien. In der NZZ spricht die syrische Autorin Rosa Yassin Hassan über die verlorene Hoffnung in den arabischen Frühling. In der Berliner Zeitung wendet sich Herbert Schnädelbach gegen den Begriff der Werte und beharrt vielmehr auf Normen. Der Guardian ist entsetzt über die geplante "Snooper's Charter", die der britischen Polizei ungeahnte Überwachungsmacht gibt. Und der "Privacy Shield" schützt auch nicht, meint Zeit online.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 02.03.2016 finden Sie hier

Politik

Nach dem Super Tuesday stehen einander nur noch Hillary Clinton und Donald Trump als Präsidentschaftskandidaten gegenüber, behauptet jedenfalls Marc Pitzke in Spiegel online. Amanda Taub bringt in Vox.com noch am Wahltag selbst ein analytisches Stück, das sich die Frage der Fragen stellt: "Warum unterstützt die republikanische Wählerschaft einen weit rechtsstehenden, orange getönten Populisten ohne wirkliche politische Erfahrung, der oft extreme und bizarre Ansichten vertritt?" Und das jenseits der üblichen Präferenzen. Sie zieht ein paar empirische Studien - etwa des jungen Politologen Matthew MacWilliams - heran und kommt zu dem Ergebnis, dass Trump vor allem Menschen mit autoritärem Charakter anzieht: "MacWilliams studiert Autoritarismus - nicht Diktaturen, sondern ein psychologisches Profil individueller Wähler, das durch einen Wunsch nach Ordnung und Angst von Outsidern gekennzeichnet ist. Solche Menschen suchen in Momenten, wo sie sich bedroht fühlen, nach starken Führern... Dieser Trend wurde durch demografische und ökonomische Tendenzen wie die Immigration bestärkt, die autoritäre Tendenzen 'aktivierten'."

(Via turi2) Für Politico sammelt Hadas Gold erste Stimmen von Journalisten, die sich großteils eingestehen, dass sie Trumps Erfolg nicht kommen sahen und offenbar nicht kommen sehen wollten (wie etwa David Remnick vom New Yorker). Zum Populismus gehört die Liebe zu Putin. Und Trump kann sich jetzt auch der Unterstützung von Putins Lieblings-Intellektuellem Alexander Dugin erfreuen, berichtet Max Fisher bei Vox.com. Der Theoretiker des Eurasismus hatte sich schon vor Wochen für Trump eingesetzt, aber sein Video zirkuliert erst, seit der Weekly Standard darüber berichtete.
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Gesellschaft

In der arabischen Welt gibt es eine "sehr aktive, kreative Literaturszene", erklärt die syrische Autorin Rosa Yassin Hassan, deren Romane in ihrer Heimat verboten sind, im Interview mit der NZZ. Dass überhaupt noch geschrieben wird, ist erstaunlich nach dem Ende des arabischen Frühlings, an den sich so viele Hoffnungen knüpften, die mit dem Syrienkrieg den letzten Stoß erhielten: "Ich . . . ich möchte nicht darüber nachdenken. Es ist nicht leicht, mit der Tatsache konfrontiert zu sein, dass man seine Träume verloren hat, die Hoffnung und auch die Heimat. Als die Revolution begann, da waren wir so glücklich und voller Erwartung - und irgendwann wachten wir auf und sahen, dass wir alles verloren hatten. Alles. ... Im Moment gibt mir nur der Blick auf die Geschichte Hoffnung. Auch Deutschland, wo ich seit meiner Flucht aus Syrien lebe, ist durch lange Kriege gegangen, aber heute ist es ein demokratisches, prosperierendes Land. Vielleicht ist Syrien irgendwann auch so weit."
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Ideen

Der Philosoph Herbert Schnädelbach wehrt sich im Gespräch mit Michael Hesse in der Berliner Zeitung gegen den Begriff der Werte, dem er den Begriff der Normen und Rechtsordnungen bei weitem vorzieht: "Bewertungen sind immer die Sache von Einzelnen oder von Gruppen. Letztlich können wir uns in einer freien Gesellschaft nicht auf gemeinsame Werteordnungen einigen, weil Wertungen Privatsache sind... Die Überzeugung der Gleichwertigkeit von Mann und Frau ist ein Wertebestand des Westens, der hier allerdings auch rechtlich durch das Prinzip der Gleichberechtigung seinen Ausdruck findet." Die Frage ist nur, ob diese Norm nicht erkämpft wurde, weil sie in der Gesellschaft zuvor als Wert formuliert wurde. Im Perlentaucher hatte es im November einen Streit um den Begriff der "Werte" gegeben, mehr hier.

Weiteres: In der FAZ spricht sich Peter Kielmansegg gegen den von Armin Nassehi neulich geforderten "Konservatismus" (unser Resümee) im Umgang mit den Flüchtlingen aus.
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Überwachung

Sehr scharf kritisiert Carly Nyst im Guardian die geplante "Snooper's Charter", ein Gesetz, das die digitale Überwachung in Großbritannnien noch weiter ausdehnen wird und das die Regierung auch gegen den Widerstand von Parlamentsausschüssen durchpeitschen will: "Das Gesetz enthält einige der am tiefsten eingreifendenn Überwachungsbefugnisse, die man sich überhaupt vorstellen kann, darunter manche, die in keinem anderen Land der Welt existieren. Cyber-Sicherheit wird auf dem Altar der 'nationalen Sicherheit' geopfert: Hacking-Aktionen der Regierung werden legal, große Datenmassen werden gesammelt und durchsucht und verschlüsselte Dienste unterstehen staatlicher Aufsicht." Unter anderem darf die Polizei, wenn das Gesetz durchkommt, bei Ermittlungen Browserverläufe durchsuchen und Computer von Privatleuten hacken, erläutert Alan Travis in einem zweiten Artikel.

Privacy Shield schützt EU-Bürger genauso wenig vor der Überwachung durch amerikanische Geheimdienste wie das vom EuGH für ungültig erklärte Safe-Harbor-Abkommen mit den USA, meint auf Zeit online Friedhelm Greis. Zwar habe die EU-Kommission gelobt: "'Zum ersten Mal hat die US-Regierung der EU über das Büro des Direktors der nationalen Nachrichtendienste schriftlich zugesichert, dass der Datenzugriff von Behörden aus Gründen der nationalen Sicherheit klaren Beschränkungen, Garantien und Aufsichtsmechanismen unterworfen wird, die einen allgemeinen Zugriff auf personenbezogene Daten ausschließen.' Dass ein Land versichert, seine eigenen Überwachungsgesetze einzuhalten, sollte eine Selbstverständlichkeit sein. Datenschützer hatten allerdings gefordert, dass die USA ihre Gesetze ändern müssten, um den Vorgaben des EuGH-Urteils zu genügen. Da der Gerichtshof sein Urteil auf Basis der bestehenden US-Gesetze gefällt hat, ist kaum nachvollziehbar, warum europäische Daten nun besser geschützt sein sollen."
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