9punkt - Die Debattenrundschau

Jeden Späti liebt man anders

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
14.05.2016. BuzzFeed meldet, dass Alan Rusbridger erfolgreich aus dem Vorstand des Guardian-Eigners Scott Trust gedrängt wurde. Rusbridger selbst sieht den Journalismus gerade einem digitalen Orkan der Stärke 12 ausgesetzt. Slate.fr bemerkt erschrocken, dass nur noch Uber neue Jobs in der Banlieue schafft. In der taz betont Martin Caparrós, dass wir nicht den Hunger aus der Welt geschafft haben, sondern die schockierenden Bilder. Die NZZ ergründet den Schweizer Mythos Gotthard. FAZ und Welt fragen, ob Nero vielleicht doch nicht nur die Leier zupfte, während Rom brannte.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 14.05.2016 finden Sie hier

Medien

Matthew Champion meldet bei BuzzFeed, dass Alan Rusbridger nicht den Vorsitz des Scott Trust übernehmen wird, dem der Guardian gehört. "In den vergangenen Wochen gab es eine öffentliche Kampagne gegen ihn, da anonyme Guardian-Mitarbeiter gegenüber rivalisierenden Zeitungen ihm die Schuld an der Finanzkrise der Zeitungsgruppe gaben. Die Guardian-Gruppe in diesem Jahr bis März einen Verlust von 50 Millionen Pfund gemacht haben."

Champion bringt auch die E-Mail, in der Rusbridger den Guardian-Mitarbeitern seinen Rückzug begründet: "Wir alle betreiben Journalismus gerade in den Klauen eines digitalen Orkans der Stärke 12. Es ist sicherlich für jeden verständlich, dass veränderte Umstände dramatisch veränderte Lösungen erfordern."

Weiteres: Adrian Lobe befindet in der FAZ, dass Google seine Macht ausnutzt, wenn es Anzeigen für unmoralische, aber legale Wucher-Kredite verbietet.
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Gesellschaft

Auf Slate.fr beschreibt Jean-Laurent Cassely, welche Bedeutung Uber für die Pariser Banlieue gewonnen hat: "In vielen abgehängten Gebieten der Ile de France, allen voran Seine-Saint-Denis, werden in keinem anderen Bereicht so viele Unternehmen gegründet wie im Bereich der Personenbeförderung." Cassely erklärt sich die "Uberisierung" der armen Viertel mit der hohen Arbeitslosigkeit und der Diskrkimierung bei Einstellungen.

Weiteres: Klaus Ungerer seufzt in der FAZ beim Streifzug durch seinen Berliner Kiez: "Jeden Späti liebt man anders." In der Welt erzählt Eva Quistorp vom Glück, ein afghanisches Flüchtlingsmädchen zu betreuen.
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Kulturpolitik

Beim Sanierungsdebakel um die Berliner Staatsoper werden wie bei anderen Pleiten auch der sandige Baugrund oder mittelalterliche Funde als Gründe bemüht. Nach jahrelanger Arbeit im Untersuchungsausschuss will der Linken-Politiker Wolfgang Brauer das nicht mehr gelten lassen, wie Frederik Hanssen im Tagesspiegel notiert: "Vor allem, sagt der Linken-Politiker im Gespräch, habe ihm die Arbeit in dem Gremium klar gemacht, 'dass dem Parlament seine Kontrollfähigkeit weitgehend abhanden gekommen' sei."
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Politik

Der argentinische Journalist und Schriftsteller Martín Caparrós hat für seine Großreportage "Der Hunger" jahrelang in Niger, Indien und Bangladesch recherchiert. Im taz-Interview mit Christina Felschen betont er, dass Hunger noch immer alltäglich ist, nur keine schockierenden Bilder mehr produziert: "Die Hungertoten heute sterben nur selten daran, dass sie zwei oder drei Wochen überhaupt kein Essen bekommen haben. Sie sterben, weil sie über Jahre und Generationen hinweg zu wenig gegessen haben und ihnen die Abwehrkräfte für die kleinste Krankheit fehlen. In den Sechzigern fiel es uns auch deshalb leichter uns aufzuregen, weil wir dachten, wir hätten eine Lösung für die Ungerechtigkeit der Welt parat. Der Sozialismus sollte es lösen. Das glaubt heute kaum noch jemand. Wer keine klare Vision hat, hat das Gefühl, seine Energie zu verschwenden."

Total ungerecht findet der Wiener Schriftsteller Antonio Fian in der NZZ die Aufregung über Österreich: "Die Ungarn können schrittweise ihre Demokratie demontieren, die Briten können sich aufführen, als habe die EU keine andere Daseinsberechtigung, als ihnen zu dienen, in Deutschland können immer wieder Flüchtlingsunterkünfte niederbrennen, niemand sieht darin eine ernsthafte Bedrohung. Wenn aber in Österreich beim ersten Wahlgang einer Bundespräsidentenwahl der Rechts-außen-Kandidat etwas mehr als ein Drittel der gültigen Stimmen erhält, wird sofort gefragt, was um Himmels Christi willen mit Österreich los sei, und getan, als stünde der Weltuntergang bevor."

Weiteres: "Der europäische Geist verliert Kraft", fürchtet Heribert Prantl in der SZ. Und der Eurovision Song Contest zeige in seiner angestrenten Paradiesvogelhaftigkeit nur, wie in Europa Globalisierung und Rückfall in Nationalismen miteinander einhergehen: "Das große Wir zerlegt sich in immer kleinere Wirs." In der Welt meint Richard Herzinger dagegen: "Im heiteren Fest des ESC verteidigt Europa seinen weltumarmenden Freiheitsgeist."
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Geschichte

War Nero vielleicht doch nicht nur der mörderische Tyrann, der die Leier zupft, während Rom brennt? In einer Ausstellung im Rheinischen Landesmuseum in Trier erfährt Sven Felix Kellerhoff für die Welt, dass die Christenverfolgung unter Nero eigentlich eher milder ausfiel als spätere Progrome: "Möglicherweise starben Paulus und Petrus wirklich in Rom, aber eine Verbindung ihres Todes mit der Christenverfolgung ist erst Jahrzehnte später angedeutet, sogar erst Jahrhunderte später vom Kirchenvater Hieronymus ausgeschmückt worden." Und Tilman Spreckeslen schreibt in der FAZ Neros historische Totalverdammung seinen Gegnern im Senat zu: "Nero war im Senat, dem Hüter über die Tradition der Stadt, unmöglich geworden, weil er die übliche Symbolik römischer Imperatoren mit einer neuen, ganz eigenen überschrieb: Statt besiegte Feinde und reiche Kriegsbeute nach Rom zu bringen, führte er exakt 1808 goldene Lorbeerkränze mit sich, die er auf seiner Griechenland-Fahrt im Künstlerwettkampf gewonnen hatte."

Urs Hafner zeichnet in der NZZ nach, wie der Gotthard zum Schweizer Großmythos wurde: "Dieser ist vielerlei, ein Massiv, ein Pass, ein Wasserschloss, eine Kulturgrenze - vor allem aber, obschon nicht eigentlich sichtbar, da ohne prägnante Konturen, der Schweizer Berg schlechthin. Als ob er dies schon immer gewesen wäre, thront er im nationalen Kollektivbewusstsein. Daher die Enttäuschung des Passgängers, daher die in diesen Tagen wachsende Aufregung um die bevorstehende Eröffnung des Gotthard-Basistunnels." In der Welt schürt Martin Ebel aus diesem Anlass prompt ein bisschen Tunnelangst.
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