9punkt - Die Debattenrundschau

Ein jeder kann dich verkaufen

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
24.08.2016. Burka und Burkini versperren nach wie vor die Sicht aufs Sommerloch. Die Historikerin und Politikerin Esther Benbasssa lehnt das Burkini-Verbot in Libération mit laizistischen Argumenten ab. Die Berliner Zeitung macht die Beobachtung, dass in Freibädern inzwischen selbst für kleine Kinder ein informeller Kleidungszwang herrscht. Auch die deutsche Debatte um die Burka geht weiter: Die SZ findet, dass sowohl die islamische als auch die westliche Mode von Dolce und Gabbana nichts mit Freiheit zu tun haben. Im Standard kritisiert der spanische Journalist Ángel Sastre das Desinteresse der Medien für Syrien.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 24.08.2016 finden Sie hier

Europa

In Ungarn wird Anfang Oktober ein Referendum über die europäische Flüchtlingspolitik abgehalten. Laut Goran Buldioski in politico.eu dient es vor allem dazu, Viktor Orbáns Position als führenden Populisten Europas zu stärken, und er rät davon ab, es zu ernst zu nehmen: "Schon weil das Refendum kein politisches Problem löst. Die abzustimmende Frage ist vage und zugleich suggestiv: 'Stimmen Sie zu, dass die europäische Union in der Lage sein sollte, per Mandat und ohne Zustimmung des Parlaments nicht-ungarische Bürger in Ungarn anzusiedeln?' Und sie hat nicht die geringste Auswirkung auf die EU-Politik zu den Flüchtlingsquoten."

"Die europäische Kultur wird mittlerweile auch aus Regionen angegriffen, die eigentlich zu ihrem Einzugsgebiet gehören", konstatiert in der FAZ Kerstin Holm mit Blick auf Russland, wo Ismail Berdiew, Mitglied im Religionsrat Putins, die Beschneidung von Mädchen verteidigte und die Senatorin Jelena Misulina die Bestrafung häuslicher Gewalt als "Einmischung in innerfamiliäre Angelegenheiten" definiert und abschaffen will. "Der russische Staat und auch die Kirche versuchen, der Gesellschaft eine mediale Brille aufzusetzen, durch die vor allem ein Europa der Terroranschläge, Heimatfeinde und Dekadenz zu sehen ist. Als dekadent betrachten freilich gerade auch europäisch gesinnte Russen hiesige Appelle, die sich auf dem Kontinent ausbreitende Vollverschleierung bei Frauen aus Gründen der Liberalität zu tolerieren."

Ebenfalls in der FAZ findet auch Julia Bähr die Burka frauenfeindlich, verbieten möchte sie sie trotzdem nicht: "Ein Verbot wäre genauso paternalistisch wie der Zwang zur Vollverschleierung. Man kann jedoch niemanden zur Freiheit zwingen, so traurig das ist. Was man tun kann: eine Haltung haben, die über die schiere Feststellung hinausgeht, dass juristisch nichts zu machen ist."

In der SZ stellt Susan Vahabzadeh fest, dass die italienischen Modedesigner Dolce und Gabbana teure Abayas für Musliminnen (Slideshow) entwerfen und gleichzeitig Korsetts, superenge Kleider und mörderische High Heels anbieten. Ein Widerspruch? Alles die selbe Chose, meint sie: "Eigentlich sind die Designs ein sehr gutes Beispiel dafür, dass diese Kostümierungen mit allem Möglichen zu tun haben - nur nicht mit Freiheit."

In britischen Medien herrscht ein seltener Schulterschluss zwischen Guardian und Daily Mail, was die Empörung über das Burkini-Verbot an manchen französischen Stränden angeht. Sowohl Guardian (hier) als auch Daily Mail (hier) zeigen Bilder, wie französische Polizisten in Nizza eine Burkini-Trägerin auffordern, ihre Kleidung auf einen normalen Badeanzug zu reduzieren.

Die Historikerin und Grünen-Politikerin Esther Benbasssa lehnt in Libération das Burkini-Verbot auch aus laizistischer Sicht ab: "Nichts in unserem Recht untersagt das Tragen des Burkini, nichts erlegt Bürgern eine irgendwie geartete religiöse Neutralität auf. Dem Staat und nur ihm ist sie durch das Gesetz von 1905 über Trennung von Staat und Kirche auferlegt. Im übrigen sendet das Tagen des Burkini selbst eine zweideutige Botschaft aus, denn er ist ein Kompromiss zwischen Kleidungscodes einer religiösen Tradition und der Moderne, die auch Frauen das Baden in der Öffentlichkeit erlaubt."
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Gesellschaft

Im Freibad, am Strand gibt es kaum noch nackte Kinder, notiert Ida Luise Krenzlin in der Berliner Zeitung. Selbst Zweijährige müssen Bikinis tragen. Als Grund macht sie nicht religiöse Bedenken aus, sondern Handy-Besitzer. Könnten ja Pädophile sein. Krenzlin versteht die Aufregung nicht: "Ehrlich gesagt: Selbst wenn da mal einer mit Absicht ein Nackfoto schießt und ich das als Elternteil nicht mitkriege (und mein Kind auch nicht), mein Gott. Wenn in Diskussionen dann schnell das Totschlagargument 'Aber die ganzen Pädophilen!' fällt, entgegne ich immer, dass die meisten Missbräuche nicht im Freibad, sondern im engeren Freundes-, Bekannten- und Familienkreis stattfinden. Das will dann keiner hören."

Als Spießer muss sich heute tendenziell jeder bezeichnen lassen, vom Grünen bis zum AfDler, schreibt Anne-Catherine Simon in der Presse. Das Schlimmste aber ist: "Immer mehr Jüngere kokettieren fast oder ganz behaglich mit ihrem Spießertum, bekennen sich zum Schuhausziehzwang zu Hause, zur Freude am 'normalen', geordneten, kleinkarierten Leben - und kommen nicht einmal auf die Idee, das Wort einmal ins Femininum zu setzen."
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Stichwörter: Spießer, Freibad

Religion

In der FR macht sich der evangelische Theologe Frank Thomas Brinkmann für konfessionsgebundenen Religions- statt konfessionsübergreifenden Ethikunterricht stark.
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Stichwörter: Ethikunterricht

Überwachung

Wikileaks verfährt verantwortungslos mit geleakten Dokumenten, schreibt Patrick Beuth in Zeit online, der sich auf einen Bericht der AP bezieht. Die Presseagentur hat Dokumente aus arabischen Ländern ausgewertet: "Mindestens 500 der arabischen Dokumente enthalten dem AP-Bericht zufolge Informationen aus Reisepässen, Arbeitsverträgen und Universitätsunterlagen. Hinzu kämen Dutzende von Nachrichten, die private Angelegenheiten enthalten - wie Hochzeitsbescheinigungen, in denen steht, ob die Braut noch Jungfrau ist, oder auch Schuldscheine sowie die Namen von Menschen, deren Partner an HIV erkrankt sind. Solche Informationen könnten etwa Stalkern und Erpressern nutzen."
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Stichwörter: Arabische Länder, Wikileaks

Medien

Jan Marot führt für den Standard ein sehr erhellendes Hintergrundgespräch mit dem spanischen Journalisten Ángel Sastre, der zehn Monate als Geisel Al-Nusra-Front in Syrien festgehalten wurde und die desinteressierte Syrien-Berichterstattung der westlichen Medien kritisiert. Allerdings lässt sich Journalismus in Syrien kaum mehr aufrechterhalten: "Ich würde allen Kollegen abraten, nach Syrien zu fahren. Es ist meiner Meinung nach unmöglich. Auch wenn es die eine oder andere Möglichkeit gibt. Etwa mit der kurdischen PKK oder auf Einladung des Regimes. Es ist auch das sehr riskant. Die Lage ist katastrophal. Entführungen sind dort, wie auch im Jemen, ein allgegenwärtiges Risiko. Ein jeder kann dich verkaufen. Dein Fahrer, deine Dolmetscher, jeder Kontakt, jeder Informant. Das ist ein neuer Kontext für uns Kriegsberichterstatter."

Viel retweetet werden Trevor Timms "Fragen an jene, die Gawkers Ende preisen" im Blog der Freedom of the Press Foundation: "Wenn Sie denken, dass 'Gawker Peter Thiel 2007 outete und andere geschmacklose Storys brachte', finden Sie auch, dass es für diese Posts bestraft werden sollte, selbst wenn sie durch die Meinungsfreiheit geschützt sind?" Ausführlicher schreibt Timm im Guardian über die wachsende Gefahr, dass reiche Leute (auch Trump!) ihre Millionen einsetzen, um Medien juristisch mundtot zu machen.
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