9punkt - Die Debattenrundschau

Danach wird das Heulen groß

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
05.07.2018. Das Internet wird trockengelegt. Heute stimmen die EU-Parlamentarier über die Urheberrechtsreform ab - ein Erfolg der Zeitungsindustrie, die hofft, dass sie endlich wieder ein Geschäftsmodell findet, meint Thomas Knüwer in seinem Blog. Jürgen Habermas attackiert in einer furiosen Rede Angela Merkel, die von anderen europäischen Ländern "Loyalität" fordere, wo Solidarität das Gebot wäre.  In Zeit online erklärt Wolfgang Tillmans, weshalb er mit anderen Kulturschaffenden eine Pro-EU-Kampagne starten will.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 05.07.2018 finden Sie hier

Internet

taz-Titel vom heutigen Donnerstag.
Heute stimmt das EU-Parlament über die EU-Urheberrechtsreform ab. Die taz warnt in ihrer heutigen Ausgabe vor drohenden Folgen von Uploadfiltern und Leistungsschutzrecht. Auch Sascha Lobo beschwört in seiner Spiegel-online-Kolumne nochmals die "dunkle Technikhörigkeit der Ahnungslosen". "Die Urheberrechtsreform dürfte noch schlimmer wirken als ohnehin befürchtet. Diese Änderung des heutigen Internets verursacht nur deshalb keine Panikattacken des Publikums, weil sie vor ihrer Wirksamkeit abstrakt daherkommt. Danach wird das Heulen groß, aber dann ist es zu spät." Wie die automatischen Uploadfilter funktionieren werden, erläutert Lobo am Beispiel ähnlicher Filter, die Facebook in den USA gegen politische Werbung installiert hat: "Der Upload-Filter von Facebook hat Anzeigen für Bohnen, Gartenarbeiten und Schamhaarfrisuren verhindert. Weil sie das Wort 'Bush' enthielten."

Anne Fromm und Peter Weißenburger erläutern in der taz, wo Uploadfilter zu Beispiel greifen könnten: "Nehmen wir mal an, Sie waren am Wochenende auf der Hochzeit von Tante Irma. Dort haben Sie den Hochzeitstanz gefilmt: Tante Irma und Onkel Klaus, Arm im Arm zu 'All You Need Is Love'. Sie wollen das Video sofort auf ihren Instagram-Account hochladen..." Kein Wunder also, dass Paul McCartney die Reform unterstützt, wie politico.eu meldet.

Ebenfalls in der taz warnt der Aktivist Detlev Sieber im Gespräch mit  Tanja Tricarico, dass von den Filtern vor allem Google profitieren würde: "Das derzeit meistgenutzte System heißt Content ID. Darüber werden beispielsweise Videos, die auf YouTube hochgeladen werden sollen, geprüft und mit einer Datenbank verglichen. Urheberrechte können somit eindeutig zugeordnet werden. Aber: Content ID gehört zu Google. Der IT-Konzern hat quasi das Monopol, und damit entsteht eine Art Zentralisierungseffekt. Google erfährt über diese Filter genau, wer was wo hochgeladen hat. Eigentlich wollte die EU mit ihrem Vorhaben Google schwächen, aber das Gegenteil ist passiert."

Und beim Leistungsschutzrecht sieht es dann doch so aus, als könnte es für Plattformen wie Perlentaucher und andere künftig teuer werden, Zeitungen zu zitieren, schreiben Lisa Hegemann und Dagny Lüdemann in Zeit online: "Kommt die Reform so, wie der aktuelle Entwurf sie vorsieht, werden die Anbieter den Verlagen dafür Lizenzgebühren zahlen müssen." Online steht inzwischen der FAZ-Artikel pro EU-Urheberrechtsreform der Grünen-Politikerin Helga Trüpel, die erklärt, dass sie für die Reform sei, um einen "falschen Freiheitsbegriff" zu bekämpfen. "Falsch" ist immer die Freiheit der anderen, antwortet darauf Max Tichy in seinem Blog.

Thomas Knüwer schildert das ganze in seinem Blog als Lobbyerfolg der Zeitungsindustrie, der es in fünf Schritten um Trockenlegung des Internets gehe:
1. Freie Medienproduzenten durch Urheber- und Leistungsschutzrecht behindern, am besten abstellen.
2. Nachrichtenaggregatoren durch diese juristischen Mittel verhindern.
3. Nachrichtenweitergabe im Social Web weitestgehend eliminieren.
4. Paywalls hochfahren
5. Und weil Journalismus ja so wahnsinnig wichtig ist, werden die Leser dann wieder zahlen."
Archiv: Internet

Europa

Jürgen Habermas hat gestern in Berlin den deutsch-französischen Medienpreis erhalten und hielt aus diesem Anlass eine furiose europapolitische Rede, in der er der Kanzlerin vorwarf, sie fordere von anderen Ländern "Loyalität", als wäre sie die Chefin, und als gehe es nicht in Wirklichkeit um Solidarität. Sie solle auf Emmanuel Macrons Forderungen einer Euro-Union eingehen, die es endlich ermögliche, die Versprechungen des Euro zu realisieren: "Der heute im Zerfall begriffene Kern Europas wäre in Gestalt einer handlungsfähigen Euro-Union die einzige denkbare Kraft gegen eine weitere Zerstörung unseres viel beschworenen Sozialmodells. In ihrer gegenwärtigen Verfassung kann die Union diese gefährliche Destabilisierung nur noch beschleunigen. Die Ursache des trumpistischen Zerfalls Europas ist das zunehmende und weiß Gott realistische Bewusstsein der europäischen Bevölkerungen, dass der glaubhafte politische Wille fehlt, aus diesem Teufelskreis auszubrechen. Stattdessen versinken die politischen Eliten im Sog eines kleinmütigen, demoskopisch gesteuerten Opportunismus kurzfristiger Machterhaltung." Habermas' Rede ist in der heutigen Zeit abgedruckt.

Europa scheitert immerzu - und schafft es dann wieder, sich zu erneuern. Das wird auch in dieser Krise gelungen, hofft der bulgarische Politologe Ivan Krastev in seiner beim History Forum der Hamburger Körber-Stiftung gehaltenen Rede, die ebenfalls die Zeit abdruckt. Ein Detail zur Situation der Osteuropäer, das im Westen vielleicht nicht so bekannt ist: "Während der Westen mit Diversität ringt, ringt der Osten mit Entvölkerung. Um sich das Ausmaß dieses Problems besser vorzustellen, ein paar Zahlen: Zwischen 1989 und 2017 verlor Lettland 27 Prozent seiner Bevölkerung durch Abwanderung, Litauen verlor 22,5 Prozent und Bulgarien fast 21 Prozent. Die Alterung der Bevölkerung, niedrige Geburtenraten und ein stetiger Emigrationsstrom aus dem eigenen Land - aus alldem speist sich die demografische Panik in Zentral- und Osteuropa..." Die ganze Rede kann man auf Englisch hier hören.

Im Zeit-Online-Interview mit Tobias Haberkorn erklärt Wolfgang Tillmans, weshalb er mit anderen Kulturschaffenden eine Pro-EU-Kampagne starten will: "Wir erleben gerade einen Frontalangriff auf die Werte der westlichen Welt. Es hat sich eine Antimoderne formiert, angeführt von vermeintlich starken Männern wie Putin, Erdoğan, Trump oder Orbán. Sie wollen die Politik des Verhandelns und des Kompromisses durch die Gesetze des Männlichen, des Stärkeren ersetzen…Mittlerweile ist Deutschland zum Schlachtfeld um die Deutungshoheit über die neue Welt geworden. Plötzlich werden Dinge sagbar, die berechtigterweise über Jahrzehnte nicht sagbar waren. Nationalismus wird wieder hoffähig, auch in den Parteien, die man lange als moderat bezeichnen konnte."

Der Glaube an eine liberale Philosophie des Ausgleichs, wie sie nach dem Nationalsozialismus, spätestens aber nach dem Zusammenbruch des kommunistischen Totalitarismus beschworen wurde, war naiv, schreibt auch Thomas Schmid in der Welt und glaubt, es herrsche immer "Vorkriegszeit".

Giuseppe Conte, bisher unbekannter Universitätsprofessor, bekleidet das Amt des italienischen Ministerpräsidenten lediglich als institutioneller Repräsentant, Politik machen indes Matteo Salvini und der zuvor als Ordnungskraft im Stadion San Paulo tätige Luigi di Maio, schreibt der italienische Philosoph Damiano Conte in der NZZ und zieht den Vergleich zu der in den vierziger Jahren gegründeten "Front des Herrn Jedermann": "Beide Formationen wären nicht möglich gewesen ohne die Wut und die Enttäuschung der Wähler im Süden Italiens. Wut und Enttäuschung sind unstete - oder moderner: volatile Größen. Und die Volatilität nimmt mit den sozialen Netzwerken zweifellos zu. Die Idee einer direkten digitalen Demokratie zählt zu den Pfeilern des Movimento."

Außerdem: Washington, Brüssel und Berlin sollten sich auf eine prowestliche Wende in Russland vorbereiten, glaubt der Politologe Andreas Umland in der NZZ mit Blick auf einen alternden Putin und die "Perspektivlosigkeit des gegenwärtigen sozioökonomischen Systems".
Archiv: Europa

Religion

In der taz ruft eine Gruppe junger Muslime die Medien dazu auf, ein differenzierteres Bild vom Islam zu zeichnen. Eine der Forderungen: Man solle über Lösungen, nicht nur Probleme berichten. "Schweinefleisch, Handschlag, Burkini: Wenn eine Gesellschaft vielfältiger wird, lassen sich Missverständnisse und Konflikte nicht immer vermeiden. Oft werden sie aber nur zum Anlass genommen, zu diskutieren, wo genau die Grenze der Toleranz verläuft. Als würden sich die Probleme auflösen, wenn man hart genug ist. Aber will man den Imam zum Handschlag zwingen? Es gibt unzählige Beispiele, wo Menschen für solche Probleme gemeinsam Lösungen gefunden haben."

Über Lösungen berichtet im Tagesspiegel Barbara Schaeffer-Hegel, die mit ihrem Verein LieberLesen e.V. mit muslimischen Mädchen zusammenarbeitet und deren Eltern überzeugte, ihre Töchter im normalen einteiligen Badeanzug zum Schwimmunterricht zu schicken. Sie fordert strenge Richtlinien für Burkini und Kopftuch an Schulen: "Eine windelweiche Laissez-faire-Politik wird keinesfalls zur Integration der Zuwanderer führen, sondern, vor allem in folgenden Generationen, zur Entwicklung einer gigantischen Parallelgesellschaft, die uns nicht nur quantitativ, sondern auch qualitativ Schlimmes bringen wird. Solange die deutsche Politik nicht in der Lage ist, unsere gesellschaftlichen Normen auch bei den Zuwanderern durchzusetzen - nicht einmal bereit ist, das Kopftuchverbot für Kinder, eine Forderung der Frauenrechtsorganisation Terre des Femmes, in ihre politischen Programme aufzunehmen -, so lange werden wir den Rechtspopulismus, die AfD, nicht los."
 
Außerdem eine wichtige Meldung bei golem.de: "Die Evangelische Kirche will einen digitalen Klingelbeutel einführen, damit auch Kreditkarten- und Girocard-Inhaber spenden können."

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