9punkt - Die Debattenrundschau

Komplett unvermittelt nebeneinander

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
13.12.2018. In Libération erklärt Thomas Piketty, wie er mit Steuern für Reiche Gerechtigkeit in Europa schaffen will. Die "Gilets jaunes" sind ein lupenreines Facebook-Phänomen, schreibt Sascha Lobo in Spiegel online. Thomas Schmid deutet sie in der Welt eher als Ausdruck des uralten Konflikts zwischen Provinz und Paris. Die Zeit veröffentlicht einen Appell von Historikern für einen neuen Umgang Europas mit Kolonialgeschichte.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 13.12.2018 finden Sie hier

Europa

Die "gelben Westen" sind mit ihrer Gruppenstruktur, ihren Wutvideos und ihren teils widersprüchlichen linken und rechten Filterblasen ein lupenreines Facebook-Phänomen, schreibt Sascha Lobo in seiner Spiegel-online-Kolumne: "Gelbe Westen sind die neuen Guy-Fawkes-Masken. Das beweist, dass in den letzten zehn Jahren die Organisationsformen und Instrumente der Netz-Avantgarde in die Bevölkerung gesickert sind. Das gilt auch für die ungünstigen Seiten: Wenn eine gelbe Weste und die Gründung einer Facebook-Gruppe reichen, um als Teil der Bewegung wahrgenommen zu werden und klassische Medien auch aus mangelnder Sachkenntnis bereit sind, an einzelnen Gruppen die gesamte Bewegung zu messen - dann entsteht enormes Missbrauchspotenzial."

Oder liegt es an Frankreich? Tania Martini schreibt in einem kleinen taz-Essay zu den Gilets jaunes: "In Paris muss man nur einmal von Saint-Germain-des-Prés nach Montmartre und dann über die Porte de la Chapelle raus nach Saint-Denis fahren, um zu verstehen: Diese französische Gesellschaft ist kaputt. Und diese Route ist bei Weitem nicht die einzige, die vor Augen führt, wie in dieser Stadt, in diesem Land, Lebensrealitäten komplett unvermittelt nebeneinander existieren."

Nach wie vor ist in Frankreich der alte Zentralismus gegenwärtig - in gegenseitigem Einvernehmen zwischen Paris und den Provinzen, schreibt Thomas Schmid in der Welt und in seinem Blog: "Indem sich der Provinzler nicht in die großen Dinge, die in Paris verhandelt werden, einmischt, gibt er den dort konzentrierten Eliten Rückendeckung und lässt sie machen. Und indem die politischen Eliten in Paris und die ihr faktisch vorgesetzte Verwaltung der Provinz ihren Lebensrhythmus lassen, bestärken sie den Konservatismus der französischen Lebensart. Die Provinz bleibt friedlich, solange sie ihren Lebenstakt nicht gefährdet sieht, solange sie nicht in die ungemütliche Moderne gezwungen oder komplimentiert werden soll. Sie widersetzt sich nicht, solange die Zentrale dafür einsteht, dass die traditionelle Lebensweise auch dann noch gesichert bleibt, wenn sie wirtschaftlich und haushälterisch eigentlich nicht mehr tragbar ist. Steht der Staat - zurzeit in Gestalt von Macron - nicht mehr rundum dafür ein, dann kann es - wie jetzt geschehen - schnell zur Rebellion kommen."

Sonya Faure interviewt für Libération den Wirtschaftswissenschaftler Thomas Piketty und die Juristin Stéphanie Hennette-Vauchez, die vor kurzem mit einer Petition ein neues europäisches Parlament forderten, das vor allem aus Abgeordneten der europäischen Länder bestehen und neue Steuern beschließen soll (unser Resümee): So sollen die ersehnte soziale Gerechtigkeit erreicht, Migration reguliert und der Klimawandel bekämpft werden, sagt Piketty: "Ziel ist es, einer Mehrheit der Bevölkerung zu ermöglichen, faire Steuern in Europa durchzusetzen, das heißt Steuern, an denen große Unternehmen mehr beteiligt sind als kleine und mittlere Unternehmen, Haushalte mit hohem Einkommen und hohem Vermögen mehr als kleine und mittlere Kategorien. Und vor allem diejenigen, die jedes Wochenende durch Fliegen Kohlenstoff emittieren mehr als diejenigen, die keine andere Wahl haben, als jeden Morgen ihr Auto zu nehmen!"

Jürg Altwegg hat für die FAZ mit dem Schriftsteller Yasmina Khadra über den jüngsten Terroranschlag gesprochen - der immer noch gesuchte Chérif Chekatt hat mit Schüssen in der Nähe des Straßburger Weihnachtsmarkts drei Menschen getötet. Khadra zeichnet ein Profil de Dschihadismus: "Der Dschihadist kann nicht mehr selbständig denken. Er ist ein Verrückter, der in einem mörderischen Wahn lebt. Er ist von sich selbst angeekelt, denn er will ja sterben. Seine Träume sind tot. Jetzt will er die Träume der anderen auslöschen und ihr Fest stören."

Von 1930 bis heute ist die afrikanische Bevölkerung von 150 Millionen auf 1,3 Milliarden Menschen angewachsen, von denen 42 Prozent jünger als 15 Jahre alt sind, sagt im Welt-Interview der ehemalige Libération-Journalist Stephen Smith, der eine Massenmigration nach Europa prognostiziert. (Unser Resümee) Ihm schweben "Formen von 'zirkulärer Migration'" vor, "die einem vereinbarten Kontingent von Afrikanern erlauben, mehrere Jahre in Europa legal zu leben und zu lernen, bevor sie in ihr Land zurückgehen, um Mitbürgern die ebenfalls zeitlich begrenzte Ausreise zu ermöglichen, öffnen Europa und unterstellen seine Grenzsicherung gemeinsamer Verantwortung. Genauso wie neue Formen von 'Patenschaften', bei denen Europäer Mitverantwortung für eingewanderte Afrikaner übernehmen, wertvolle Erfahrungs- und Lernprozesse auf der anderen Seite ermöglichen. Migration ist nicht nur ökonomischer Zwang, sondern auch eine Freiheit, die sich Afrikaner nehmen, um 'dabei' zu sein."

Vor knapp zwei Wochen haben Bernie Sanders und Yanis Varoufakis im amerikanischen Vermont die "Progressive Internationale", eine linke Sammelbewegung für globale Gerechtigkeit und gegen autoritären Nationalismus ausgerufen - und kaum jemand hat es bemerkt, schreibt Max Tholl im Tagesspiegel: "Das Radikale und Subversive kommt nicht aus den Parteizentralen, sondern aus der Mitte der Gesellschaft. Egal ob links oder rechts, Bewegungen wie die Gelbwesten, Pegida oder auch #MeToo kennen ihre Macht, wissen sie richtig einzusetzen. Sie schaffen, woran die meisten Parteien scheitern: eine konkrete und authentische Interessenvertretung - auch wenn sie damit polarisieren. Wer in ihrem Namen sprechen will, darf keine Angst vor Radikalität und Kompromisslosigkeit haben. Das haben die Rechten den Linken voraus. Sie wandeln die Wut auf den Straßen in eine Politik der Angst um, scheuen keine Konflikte, respektieren keine Tabus oder Strukturen. Es ist eine trügerische Praxis, aber sie geht auf, denn sie simuliert dem Einzelnen wieder Relevanz. Das hat linke Politik verlernt."
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Ideen

In seiner Kolumne im Quotidien d'Oran wendet sich Kamel Daoud, der in Algerien geblieben ist, an all jene in den Westen emigrierten intellektuellen Araber, die ihn wegen seiner Artikel über Algerien und den Islam kritisieren: "Du willst sowohl die Freiheit im Land deiner Ankunft genießen als auch mir verbieten, über meine Realität in meinem Land zu sprechen? All die Demokratie im Westen, der dich empfangen hat, dient dir nur dazu, für Zensur in Algerien zu plädieren? Ich soll über die Dramen, die Niederlagen meines Landes schweigen, nur um dein narzisstisches Selbstbild im Westen nicht anzukratzen?"
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Stichwörter: Daoud, Kamel, Algerien

Kulturpolitik

Mehr als achtzig Wissenschaftler aus der ganzen Welt, darunter die Historikerin Rebekka Habermas, fordern in einem Appell in der Zeit einen neuen Umgang Europas mit Kolonialgeschichte. Neben "nachhaltiger Unterstützung" der Initiativen zur Aufarbeitung von Kolonialgeschichte und der Beschäftigung politischer Institutionen und schulischer Initiativen mit dem Thema verlangen sie  eine zentrale Institution zur Provenienzforschung, die Politik und Museumsarbeit in Europa vernetzt.

In einem weiteren Zeit-Artikel führen Rebekka Habermas und die ebenfalls unterzeichnende Historikerin Ulrike Lindner ihre Forderungen aus: Restitution reiche nicht, vielmehr müsse die  weitgehend verdrängte und "verflochtene" Kolonialgeschichte umfassend aufgearbeitet werden, schreiben sie. Interessant liest sich allerdings dieses Zitat: "Menschen mit kolonisierter Geschichte leben nicht nur an fernen, wenngleich verflochtenen Orten, sondern auch hier in Deutschland als Deutsche. Koloniale Objekte in Museen können beides repräsentieren - kolonisierende, kolonisierte und postkoloniale Erfahrungen - und dadurch zu einer neuen, produktiven Streitgeschichte anregen. Dazu müssen aber auch die Türen geöffnet werden, für Deutsche mit einem anderen historischen Erfahrungshorizont als dem, den die deutsche Geschichtskultur bisher abbildet."

Im Zeit-Gespräch mit Ijoma Mangold verteidigen Hartmut Dorgerloh und Lars-Christian Koch das Humboldt-Forum und reagieren ungehalten auf Restitutionsfragen. "Es kann nicht sein, dass wir komplette Museen auflösen", sagt Koch - und Dorgerloh fügt hinzu: "Das irritiert mich am allermeisten an der aktuellen Diskussion: dass wir in Europa schon wieder zu wissen glauben, wie es geht und was passieren muss. Erst mal würde ich gerne erfahren: Was sagen denn die Kollegen in Tansania oder in Namibia oder in Ozeanien zu dem Bericht? Kürzlich besuchte uns in Berlin der Präsident eines afrikanischen Landes, dessen Gebiet einst ebenfalls deutsche Kolonie war. Er fand es bedauerlich, dass aus seinem Land so wenig im Humboldt Forum zu sehen sein wird, und fragte: 'Was können wir tun, damit wir im Humboldt Forum präsenter sein werden?'"

Fast entsetzt berichtet Andreas Kilb in der FAZ über eine Antwort von Bundeskulturministerin Monika Grütters auf Anfragen der AfD zu Restitution von Kolonialkunst. Diese Fragen seien zwar teilweise suggestiv, aber die Antwort, die schlicht auf die Museen verweist und eine Zuständigkeit des Bundes abwehrt, stellt ihn nicht zufrieden: "Jedes der sechsundvierzig ethnologischen Museen in Deutschland bleibt auf sich gestellt, jedes muss sich selbst durch das Dickicht von historischen, moralischen und kuratorischen Fragen wühlen, das die Kolonialgeschichte hinterlassen hat."
Archiv: Kulturpolitik