9punkt - Die Debattenrundschau

Unruhiges Gefühl in der Magengrube

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
20.12.2018. Alle deutschen Medien berichten über den Fall Claas Relotius: Über Jahre hat der junge Spiegel-Redakteur seine Geschichten gefälscht. Eine der interessantesten Reaktionen kommt aus Fergus Falls, einem Städtchen, das Relotius als Redneck-Hochburg porträtiert hatte und das die Bewohner aus seinem Porträt kaum mehr wiedererkannten. Nicht der Kapitalismus, sondern die "kapitalistische Vetternwirtschaft" von Staat und Wirtschaft ist schuld an den Problemen der Demokratie, meint Mario Vargas Llosa in der NZZ.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 20.12.2018 finden Sie hier

Medien

Die Spiegel-Chefredakteure Steffen Klusmann und Dirk Kurbjuweit ordnen sich in der "Lage", ihrem morgendlichen Rundumblick, in die Rubrik "Verlierer des Tages" ein. Der Reporter Claas Relotius hat die Redaktion - und offenbar mehr noch die berühmte Dokumentationsabteilung des Blattes, die angeblich jedes Detail vor Veröffentlichung eines Artikels überprüft - jahrelang mit Fälschungen von Personen und Zitaten betrogen. "Wir können die ganze Dimension des Falls noch nicht wirklich abschätzen, haben uns aber trotzdem entschlossen, ihn publik zu machen. Das wollten wir nicht anderen überlassen. Wir haben begonnen, aufzuklären, und wir werden ein Komitee bilden, das jeden Stein umdrehen soll. Denn wir wollen wissen, was genau warum passiert ist, damit es nie wieder passieren kann. Wir haben sehr viele Fragen an uns selbst, und die Antworten werden wahrscheinlich einiges in unserem Haus verändern." Relotius hat die Redaktion bereits verlassen. Ullrich Fichtner schreibt auf, was man bisher weiß.

Es sind nicht die üblichen Sicherungsmechanismen, die Relotius entlarvt haben, schreibt Anne Fromm in ihrem Bericht zum Fall in der taz: "Juan Moreno, der Kollege, der Relotius zu Fall gebracht hat, hatte ihm hinterherrecherchiert. Auf eigene Faust und auf eigene Kosten."

Als sehr interessante Ergänzung zu den deutschen Berichten, die sich nur auf die Fälschungen konzentrieren, liest sich der Artikel von Michele Anderson im Blog-Netzwerk Medium.com. Sie kommt aus der Provinzstadt Fergus Falls, wo Relotius angeblich einen Monat verbrachte, um Rednecks und Trump-Wähler zu porträtieren. Sie spricht ein Problem an, das deutsche Reportagen jenseits von Wahr oder Falsch häufig problematisch macht, den literarischen Stil (Reporterpreise kriegt man hier ja vor allem für tolle Prosa): "Relotius' 'Reportage' über Fergus Falls machte nicht nur kaum wiederzuerkennende Kino-Charaktere aus den Leuten in meiner Stadt, mit denen ich jeden Tag zu tun habe. Vor allem der ganz grundlegender Mangel an Wahrheit und seine bizarr trostlose Darstellung des Ortes, den ich liebe, hinterließen ein sehr krankes, unruhiges Gefühl in der Magengrube. So ein Gefühl gibt's nicht nochmal - zu wissen, dass Leute in einem anderen Land einen Artikel über den Ort lesen, den ich meine Heimat nenne, und angeekelt den Kopf schütteln, den Artikel auf Facebook und Twitter teilen und sagen, das sei ja 'finster' da, da leben Leute, 'die nicht an die Existenz von Elektrizität glauben'."

Weitere Artikel: Richard Volkmann erinnert bei den Salonkolumnisten daran, dass sich dieser Fall nicht in den berüchtigten sozialen Medien, sondern in der "Qualitätspresse" ereignete: "Auch die alten Bekannten in den Petersburger Trollfabriken werden die heutige Enthüllung mit wohlwollendem Interesse aufgenommen haben. Den Kampf gegen die allgegenwärtige Desinformation zu gewinnen, wird so noch einmal ein Stück schwerer." In der NZZ erinnert Hansjörg Müller daran, dass Relotius eine für den Egon-Erwin-Kisch-Preis nominierte Reportage wie ein Filmregisseur mit passender musikalischer Begleitung inszenierte. Die Geschichten waren immer ein bisschen zu perfekt, um wahr zu sein, meint auch Volker Lilienthal im Dlf Kultur. "Die neue Betrugsaffäre trifft die Branche zur schlimmsten Zeit. Die besten Medien des Landes drucken erfundene Storys - besser kann man das Misstrauen in die Branche nicht schüren", schreibt im Tagesspiegel Matthias Müller Blumencron.
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Europa

Die sowohl von Eliten als auch Nicht-Eliten ins Übermaß gesteigerten, verteidigten und identitätsstiftenden Ideen "Nation, Patron und Laïcité" lähmen seit Jahrzehnten die französische Konfliktaustragung, schreibt der Soziologe Tilman Allert in der NZZ mit Blick auf die Aufstände der Gelbwesten: "Die Nation, das institutionelle Gefüge moderner Gesellschaften mit ihren Verfahren, Prozeduren und bürokratischen Schwerfälligkeiten, wird in die Ordnungsvorstellung einer Dorfgemeinschaft projiziert und lässt als ein sakralisiertes Gebilde jeden zum Patrioten werden, den Kampfruf auf den Lippen: 'Allons enfants de la patrie . . .' Die Ehre der Person, von der in den vergangenen Tagen viel die Rede war, hat hier ihre Wurzeln. Man ist Stellvertreter für das Ganze und zugleich weit von dem Ganzen entfernt, jeder ein Revolutionär und dabei zugleich auf beklemmende Weise indifferent gegenüber all dem, was in der Politik entschieden wird. 'L'état, c'est moi', diese Karikatur einer absolutistischen königlichen Großmannssucht findet ihr Pendant im Selbstbild der französischen Citoyens."

Im großen NZZ-Interview mit René Scheu verteidigt der peruanische Schriftsteller Mario Vargas Llosa den Literaturnobelpreis, kritisiert den intellektuellen "Fetischismus" für Utopien und spricht über die Krise liberaler Demokratien, deren Kern er in einer "kapitalistischen Vetternwirtschaft" sieht: "Unser System ist geprägt von wechselseitigen Allianzen zwischen Big Business und Big Government. Eine solche Ordnung, auch wenn sie nach demokratischen Regeln funktioniert, ist das Gegenteil einer freien und offenen Gesellschaft mit sozialer Mobilität. Wir haben nicht zu viel, wir haben zu wenig Wettbewerb. Hätten wir mehr, wäre die Gesellschaft gerechter. Unsere Gesellschaften sind viel zu kollektivistisch. Wir leben in einer Ordnung, in der Kapitalismus und Sozialismus zunehmend verschwimmen und ununterscheidbar werden."
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Ideen

In einem von der Zeit veröffentlichten Essay versucht der Alt-68er, Germanist und Kulturwissenschaftler Helmut Lethen, dessen Frau Caroline Sommerfeld-Lethen sich der rechten Identitären Bewegung anschloss (unser Resümee), an Leben und Werk des Philosophen Helmuth Plessner zu verstehen, weshalb vor allem in politisch unruhigen Zeiten die Sehnsucht nach Identität so groß ist. Bei Plessner, der 1924 in "Grenzen der Balance" von einer pluralen Identität schrieb, während der Krise der Weimarer Republik allerdings die "Volkhaftigkeit" als "Boden der Existenz" propagierte und in den fünfziger Jahren dann schließlich die soziale Rolle des Bürgers betonte, lassen sich laut Lethen "immer noch genug Kulturtechniken der Balance lernen, Motive der Skepsis gegenüber dem Trugschluss, in Mythen den Ursprung zu finden."
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Gesellschaft

Benjamin Netanjahu hat Angela Merkel bei den deutsch-israelischen Regierungskonsultationen Anfang Oktober aufgefordert, die Förderung für das Jüdische Museum in Berlin, die Berlinale und verschiedene NGOs in Israel aufgrund deren "antiisraelischer Aktivitäten" zu streichen. Nicht erst, aber vor allem durch die unter Museumsdirektor Peter Schäfer kuratierte "Jerusalem-Ausstellung" wird das Berliner Jüdische Museum dafür kritisiert, es sei "nicht jüdisch genug" - die Ausstellung zeigte nicht allein den jüdischen Anspruch auf diese Stadt, erinnert im Tagesspiegel der Historiker Michael Wolffsohn. Jetzt räche sich, dass unter W. Michael Blumenthal nur "Jüdisches Light" zum "unverbindlichen Anfassen" geboten wurde, meint er. Dabei sei Schäfers Arbeit nicht genug zu schätzen: "Peter Schäfer weiß, dass es nicht 'das' Jüdische oder 'das' Israelische gibt; dass Judentum und Jüdische Staatlichkeit immer vielschichtig und nicht zuletzt auch innerjüdisch höchst umstritten waren und bis heute sind; dass jede Geschichte, erst recht die Jüdische, aus zahllosen Schichten besteht; dass 'Der Jüdische Krieg' nicht nur ein bedeutendes Buch der jüdisch-römischen Antike von Flavius Josephus ist, sondern bis heute Kennzeichen innerjüdischer und seit 1948 auch innerisraelischer Wirklichkeiten; dass jeder israelische Premier die Mehrheit der Israelis repräsentiert, aber eben nicht alle."

"Das Gute am Antisemitismus" lautet indes die polemische Überschrift von Michael Wolffsohns Welt-Artikel, in dem er die These vertritt, Judenfeindschaft schweiße die "zerrissene", mitunter "verfeindete" jüdisch-israelische Gesellschaft zur Gemeinschaft zusammen.

Die Berliner Bildungssenatorin Sandra Scheeres (SPD) erklärt im Interview mit Anna Klöpper und Bert Schulz, warum sie in der Kopftuchfrage strikt beim Berliner Neutralitätsgesetz bleibt und gegen Lehrerinnen, die mit Kopftuch unterichten wollen, zur Not auch in höhere juristischen Instanzen gehen würde: "Ja, wir sind eine multikulturelle Stadt - übrigens mit vielen Familien, die keiner Konfession angehören. Gerade deshalb muss sich der Staat neutral verhalten. Gehen Sie mal in die Schulen: Man kann nicht auf der einen Seite kritisieren, dass wir religiöse Konflikte haben - und dann selber nicht neutral auftreten wollen. Und das kann man schwer, wenn Religiosität durch das pädagogische Personal, auch optisch, gezeigt wird."
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Kulturpolitik

Während Museen lautstark über die Restitution von kolonialer Raubkunst diskutieren, hüllt sich der Kunsthandel überwiegend in Schweigen. Im Herbst ließ das Kölner Auktionshaus Lempertz in seiner belgischen Dependance erst einen Schrumpfkopf der Jivaro versteigern. (Unser Resümee). Im Zeit-Gespräch mit Tobias Timm erklärt Viola König, bis 2017 Direktorin des Ethnologischen Museums in Berlin, wie Museen vom Kunsthandel profitierten und fordert neben einem gesetzlichen Verbot des Handels mit indigen Objekten in Europa enge Zusammenarbeit mit den Herkunftsgesellschaften: "Zuweilen sind dafür die großen Fotobestände hilfreich, die in ethnologischen Museen aufbewahrt werden, insbesondere wenn sich in den Herkunftsgesellschaften noch Personen und Objekte auf den Bildern identifizieren lassen. Dabei ist Eile geboten - und dennoch wird es Jahrzehnte dauern. Eine Kooperation bedeutet, dass der Abschluss, die Form der Lösung offen ist. Es ist nicht ausgeschlossen, dass manche Nachkommen ihre Gegenstände doch in Europa aufbewahrt sehen wollen."

Weitere Artikel: Hubertus Knabe, bisheriger Leiter der Stasi-Gedenkstätte Hohenschönhausen und Kultursenator Klaus Lederer haben sich auf einen Vergleich geeinigt. (Unser Resümee) In der Zeit nimmt Jana Hensel Lederer noch einmal vor sämtlichen Intrigenvorwürfen in Schutz und hofft nach Knabes Abgang auf einen weniger "antikommunistischen Blick" auf die DDR: " Ein Land, das in seinen Anfangsjahren zweifellos stalinistischen Terror praktizierte, aber gerade in der Honecker-Ära differenzierter betrachtet werden sollte: Unfreiheit, aber Industrienation. Repressiver Charakter, aber ein Alltagsleben, das bislang zu wenig beachtet wurde." Man fragt sich, wozu sie überhaupt eine Mauer brauchten! Im Zeit-Online-Interview mit Carolin Würfel berichtet eine der betroffenen Frauen von den sexuellen Belästigungen in der Gedenkstätte.
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