9punkt - Die Debattenrundschau

Die Folgen einer stillgelegten Gesellschaft

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
06.05.2020. In der SZ feiert Daniel Kehlmann Christian Drosten, aber nicht die grauen Beamten vom RKI. In Zeit online erklärt der Virologe Alexander S. Kekulé, was wir alles tun müssen, wenn wir S.M.A.R.T. sein wollen. Der Guardian findet heraus, warum in der Slowakei zehnmal weniger Menschen an Covid-19 sterben als in Österreich. Die SZ kritisiert das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Geldpolitik der EZB. Die taz bringt ein Dossier zum 75. Jahrestag des Kriegsendes.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 06.05.2020 finden Sie hier

Europa

Die Coronakrise wütet weiter. Großbritannien hat mit annähernd 30.000 Toten inzwischen die höchsten Zahlen in Europa, höher als Italien. Die erstaunlichste Diskrepanz bleibt aber die zwischen West- und Osteuropa. Österreich gilt als Land, das die Krise gut bewältigt hat - aber die benachbarte Slowakei hat mit der Hälfte der Bevölkerung zwanzig mal weniger Tote. Haupterklärung sind die strengen Lockdowns in den osteuropäischen Ländern, schreiben Shaun Walker und Helena Smith im Guardian: "Während in Großbritannien und anderen westeuropäischen Ländern in der zweiten und dritten Märzwoche noch öffentliche Versammlungen stattfanden, sahen die Regierungen in Mittel- und Osteuropa, was in Italien passierte, und sperrten in aller Eile ab. Vielerorts half die Furcht vor einer raschen Überforderung der unterfinanzierten und angeschlagenen Gesundheitssysteme."

Das Bundesverfassungsgericht hat in einem historischen Urteil den Euroskeptikern um Peter Gauweiler Recht gegeben, Urteile des EuGH scharf kritisiert und befunden, dass das Anleihen-Aufkaufprogramm der Europäischen Zentralbank (EZB) in Teilen gegen das deutsche Grundgesetz verstößt. Cerstin Gammelin kommentiert das Urteil in der SZ sehr kritisch und als Ausdruck einer Renationalisierung der Politik: "Wie ernst es den Richtern damit ist, zeigt, dass sie sich über den EuGH hinwegsetzen und die EZB zu Änderungen zwingen wollen. Sie benutzen dazu die Bundesbank; sie machen ihr Auflagen, die sich auf die EZB auswirken. Die Folge ist, dass niemand mehr genau weiß, wie weit die Zentralbank gehen kann in ihren Entscheidungen - und was die Urteile aus Luxemburg wert sind. Das unterminiert die ohnehin geschwächte europäische Gemeinschaft weiter."

Das Urteil betrifft zum Glück nicht die aktuellen Programme der EZB im Kontext der Coronakrise, schreibt Gerald Braunberger in einem ebenfalls eher kritischen Leitartikel in der FAZ. Aber langfristig werden sich politische Gegenätze verschärfen: "Jede Schwächung der gemeinsamen Geldpolitik erhöht den Druck auf die Regierungen in der Eurozone, mehr Verantwortung für die eigenen Staatsfinanzen wahrzunehmen. Ein unterschiedliches Maß an Verantwortung wird sich in Gestalt von steigenden Renditeabständen zwischen Staatsanleihen zeigen, die wirtschaftlich kein Desaster sein müssen, aber für nationale Regierungen unbequem sind. Daher lassen sich Forderungen nach einer stärkeren Vergemeinschaftung der Finanzpolitik leicht vorhersehen." In der Welt begrüßt der Arbeitsrechtler Gregor Thüsing das Urteil als eine notwendige Klärung, die ein europäisches Agieren aber nicht unmöglich mache.

Am Sonntag will die PiS in Polen trotz Corona Präsidentschaftswahlen abhalten. Ziel der Partei ist es, glaubt Piotr Buras in der Welt, "den Sieg des Amtsinhabers Andrzej Duda zu sichern. Denn die Parteistrategen wissen, dass die auf die Pandemie folgende Wirtschaftskrise dem Ansehen von Duda, ein vertrauenswürdiger Vollstrecker des Willens von Parteichef Jaroslaw Kaczynski, wahrscheinlich schaden wird. Was die Partei Recht und Gerechtigkeit einen respektvollen Umgang mit den demokratischen Spielregeln nennt, verhöhnt in Wirklichkeit dieses Verfahren. Es gibt keinen nennenswerten Wahlkampf, denn öffentliche Versammlungen sind nicht erlaubt."
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Ideen

In der SZ staunt der Soziologe Stephan Lessenich, wie Politiker plötzlich mit der feministischen Vokabel "vulnerabel" - also verletztlich - operieren. Unter diesem Vorwand könnten ältere Menschen demnächst "kollektiv in die soziale Isolation verbannt werden, selbstverständlich nur zu ihrem Selbstschutz und der Einfachheit halber ab einem sozialadministrativ willkürlich festgelegten Lebensalter". Dass das zur Zeit niemand plant, ficht ihn nicht an, nur die Inkonsequenzen, die hier deutlich werden. Wenn Verletzlichkeit entscheidend ist, "müssten dann nicht eigentlich die Menschen in den Flüchtlingslagern an der europäischen Peripherie ganz vorne rangieren auf der sozialpolitischen Prioritätenskala?"

Achille Mbembe hat nicht nur für BDS-nahe Publikationen geschrieben, etwa im Jahr 2015 (unser Resümee), er hat im Jahr 2018 auch aktiv an der Ausschließung einer israelischen Forscherin von einer Konferenz mitgewirkt, indem er sein eigenes Fernbleiben androhte, schreibt Ben Cohen im Blog Mena-Watch: "Professorin Shifra Sagy - sie lehrt an der psychologischen Fakultät der Ben-Gurion-Universität (BGU) in Israel - wurde schließlich von der Konferenz an der Universität Stellenbosch ausgeladen, nachdem unter anderem Mbembe Druck auf die Organisatoren ausgeübt hatte."
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Gesellschaft

Drostens Podcast hören er und seine Frau in ihrem Häuschen auf Long Island täglich, dankbar für die Informationen, erklärt Daniel Kehlmann im Interview mit der SZ. Weniger dankbar ist er für das Robert-Koch-Institut, deren düsteren Prognosen er misstraut: "Diese grauen Hüter über die Zahlen sind Beamte, sie müssen die Folgen einer stillgelegten Gesellschaft nicht fürchten. Gleichzeitig erleben sie einen Machtzuwachs, von dem sie nie hätten träumen können. Natürlich haben sie Interesse daran, den Status quo zu erhalten, das liegt in der menschlichen Natur." Kehlmann, der es mehr mit dem schwedischen Weg hält, "muss oft an den 11. September 2001 denken. Das war ein furchtbarer Terroranschlag mit vielen Toten. Eine Katastrophe, auf die man reagieren musste. Und dennoch war die Reaktion letztlich fatal: der Patriot Act und Guantanamo, und dann der Krieg im Irak. Mit Unterstützung eines großen Teils der Bevölkerung kam es zu radikalen Einschränkungen der Grundrechte, von denen viele bis heute nicht zurückgenommen sind."

Geschäfte, Kitas und Schulen öffnen - das wird gefährlich. Denn im Herbst wird Corona wieder zunehmen, warnt auf Zeit online der Virologe Alexander S. Kekulé: "Aus fehlender Immunität, vernachlässigtem Social Distancing und unzureichendem Schutz der Risikogruppen könnte dann im Herbst ein viraler Orkan entstehen." Dennoch plädiert er für eine schrittweise Öffnung von Läden, Kitas und Schulen, vorausgesetzt wir sind dabei S.M.A.R.T., was konkret bedeutet: Schutz der Risikogruppen, Masken, Aufklärung des Infektionsgeschehens, Reaktionsschnelle Nachverfolgung und Tests. Dass ausgerechnet der Schutz der Risikogruppen, also vor allem der Alten, so umstritten ist, wundert ihn: "Durch speziell zugeschnittene Hygienekonzepte dürften Heimbewohner nach dem Ende des Lockdowns wieder ein weitgehend normales Leben führen und auch Besuch empfangen. Mit professionellen Infektionsschutzmasken (FFP2-Masken) ausgestattet, könnten ältere Menschen das Haus verlassen und unter Leute gehen, ohne ihr Leben durch Covid-19 zu riskieren. Risikoangepasste, flexible Schutzkonzepte bedeuten nicht weniger, sondern mehr Freiheiten für die Betroffenen."

Im Interview mit der Berliner Zeitung kann sich der Präsident der Bundesärztekammer, Klaus Reinhardt, einen Immunitätsausweis durchaus vorstellen, solange der nicht dazu benutzt wird, Privilegien zu erwerben - "etwa, indem man die Abstandsregeln nicht mehr einhalten muss". Skeptischer ist er bei der Maskenpflicht: "Wenn ich in Berlin mit der U-Bahn fahre, sehe ich viele Menschen mit einer FFP 3-Maske mit Auslassventil. Das sind die Masken für medizinisches Personal. Mit dieser Maske schützt man sich selbst, gefährdet jedoch andere, weil der Atem in hochkonzentrierter Form freigesetzt wird. Auch bei den normalen Masken gibt es gesundheitliche Risiken: Man greift sie dauernd an, weil sie feucht werden und fasst sich dann mit den Fingern ins Gesicht. Das ständige Auf- und Absetzen in Geschäften und der Bahn birgt ebenfalls erhebliche Risiken. In der Summe richten sie womöglich mindestens so viel Schaden an, wie sie eventuell nutzen. Und kulturell finde ich es höchst fragwürdig und problematisch, wenn wir unser Gesicht voreinander verstecken."
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Geschichte

Die taz bringt mehrere Seiten zum 75. Jahrestag des Kriegsendes. Alles in allem stimmt Klaus Hillenbrand Richard von Weizsäckers Formulierung in seiner berühmten Rede vor 35 Jahren zu. Aber der Begriff der "Befreiung" hat Tücken, gibt er zu bedenken, und zwar besonders auch für uns Nachgeborene: "Denn der Begriff impliziert ganz selbstverständlich, dass wir alle 1945 sinnbildlich befreit worden sind. Das bedeutet folglich, dass sich die Deutschen damit unauffällig auf die Seite der Sieger geschlagen haben. Hurra, wir haben gewonnen! Das festzustellen ist mehr als nur eine Wortklauberei. Denn es bedeutet zu Ende gedacht, dass auch niemand der Nachgeborenen mehr Verantwortung für die Verbrechen der Nationalsozialisten übernehmen muss. Schließlich haben Befreite nichts gemein mit denjenigen, die sie zuvor unterdrückt haben, den Nazis also."

Im taz-Interview mit Stefan Reinecke wendet sich der ehemalige Bürgerrechtler und Leiter der Deutschen Kriegsgräberfürsorge Markus Meckel gegen ein Denkmal für die polnischen Opfer in Berlin - auch weil die Deutschen viel zu wenig über das Grauen dort wüssten: "Ein Denkmal erinnert an etwas, das bekannt ist. Das Leiden der Polen unter der deutschen Besatzung ist eher unbekannt, ebenso die Leiden der östlichen Nachbarvölker. Daher ist ein Dokumentationszentrum, das über die deutsche Besatzung in Europa aufklärt, die bessere Wahl. Das kann den Vernichtungskrieg im Osten differenziert darstellen und auch den Unterschied zu der Besatzung in Westeuropa."

Außerdem schreibt Russland-Korrespondent Klaus-Helge Donath über das durch Corona behinderte Gedenken an den "Großen Vaterländischen Krieg", der propagandistisch immer noch so präsent sei, "als wäre er erst gestern zu Ende gegangen". Und Sabine am Orde beleuchtet das Verhältnis der AfD zur deutschen Vergangenheit.
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