9punkt - Die Debattenrundschau

Wiederbelebung der Glaubensgemeinschaft

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
16.09.2020. In der FAZ wird der Historikerstreit um die Hohenzollern fortgesetzt: Den Hohenzollern-Kritikern im Feuilleton antwortet nun eine Gruppe von Historikern im politischen Teil. In der Welt erklärt Mathias Döpfner, warum das Staatsgeld für die Zeitungen bitte anders etikettiert  werden soll. Die taz meldet, dass die Süddeutsche Zeitung bis zu fünfzig Redakteursstellen streichen will. Der in London lebende Literaturwissenschaftler Rüdiger Görner erklärt in der FR, warum er so schwer enttäuscht ist von seiner Wahlheimat. Ralf Bönt begründet in Telepolis, warum er den "Aufruf gegen Konformismus" unterzeichnet hat.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 16.09.2020 finden Sie hier

Geschichte

Am 9. September erklärten die Vorsitzende des deutschen Historikerverbandes, Eva Schlotheuber, gemeinsam mit ihren Historikerkollegen Eckart Conze im Feuilleton der FAZ, dass die Debatte um die Hohenzollern eigentlich abgeschlossen und ihr Eintreten für die Nazis (das Kriterium für die Frage, ob sie weitere Entschädigungen erhalten) erwiesen sei (unser Resümee). Der These vom Konsens in dieser Frage widersprechen nun die Historiker Peter Hoeres, Ronald Asch, Jörg Baberowski, Hans-Christof Kraus, Sönke Neitzel, Andreas Rödder, Rainer F. Schmidt, Michael Sommer, Uwe Walter und Michael Wolffsohn, berichtet Reinhard Müller im politischen Teil dieser Zeitung. Müller zitiert aus einem Schreiben dieser Historikergruppe, das der FAZ vorliege. "In der Causa Hohenzollern widersprächen sich die Gutachten, und gerade sei seitens der Historischen Zeitschrift ein Aufsatz angenommen worden, der das Bild weiter differenzieren werde. 'Wir sind nicht der Meinung', so die Historiker weiter, dass der Verband 'hier einfach zugunsten zweier Gutachten Partei nehmen und diese Debatte für entschieden erklären kann'." Conze und Schlotheuber hatte auch kritisiert, dass die Hohenzollern-Familie die Debatte mit vielen Unterlassungserklärungen juristisch beherrschen wolle. Müller schreibt dazu: "Jeder hat das Recht, gegen vermeintlich falsche Aussagen vorzugehen."
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Ideen

In der SZ geißelt Andreas Zielcke den rechten Notwehrwahn, der die Demokratie in Frage stelle: "Wenn der Rechtsstaat beim Kampf gegen den nationalen Verfall im Wege steht, soll er fallen, und mit ihm Garantien wie Pressefreiheit, Koalitionsfreiheit, Menschenwürde. Selbst das Wahlrecht ist in der Not nicht sakrosankt. Am Ende beißt sich daher die Katze in den Schwanz: Zum Schutz des Volkes muss selbst die Demokratie sich beugen", skizziert er die Ansichten der Radikalen.

Außerdem: Wenn Massen kollidieren, löst das bei Arno Widmann (FR) eine Assoziationskette aus.
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Gesellschaft

Es gibt Anlass, an die Zukunft der Innenstädte zu glauben, meint Matthias Alexander in der FAZ, der die offenbar wiederaufblühende Stadt Recklinghausen besucht hat. Dort macht man vor, was man mit aufgelassenen Warenhäusern macht: Man vermietet nur noch die Erdgeschosse und steckt Seniorenheime, ja Wohnungen und Kinderläden in die übrigen Etagen. So soll es auch mit Karstadt am Hermannplatz in Berlin-Neukölln geschehen: "Dessen gewaltiger Vorgängerbau aus den zwanziger Jahren, der in den letzten Tagen des Zweiten Weltkriegs von der SS gesprengt wurde, soll äußerlich annähernd originalgetreu wiedererstehen. Ladenflächen sind jedoch nur im Erdgeschoss vorgesehen, darüber soll es eine Mischung aus Büros, Wohnungen, Sportangeboten und einer Kita geben."

Der Schriftsteller Ulf Erdmann Ziegler singt in der NZZ anlässlich der Karstadtpleite ein kleines wehmütiges Abschiedslied auf das Kaufhaus, das ihm seine Jugend in Neumünster versüßte: "Im Kaufhaus konnte man das Flanieren üben, das gleichgültige Gleiten des Blicks, dem nichts unbedeutend erscheint. ... Um der politischen Symbolik willen plant man die Verwandlung der Innenstädte in Kirmeszonen für Guck-in-die-Luft-Fussgänger, die nicht mehr wissen, was sie suchen, abgesehen natürlich von ihrem eigenen Bild in den sozialen Netzwerken. Das Kaufhaus war so etwas wie ein guter Haushalt, nur tausendfach vervielfältigt, ein Labyrinth der kurzen Wege, eine Stadt in der Stadt, ein Museum der Vergänglichkeit. Ein Garant für die Präsenz stolzer Marken im urbanen Herzen: Falke-Strümpfe, Doppler-Schirme, Fissler-Töpfe, Unterwäsche von Calida und Messer von Victorinox. Toaster von Braun; Kühlschränke von Liebherr. 'Guten Tag, meine Herren!'"

Der Schriftsteller Ralf Bönt erklärt in Telepolis, warum er den umstrittenen "Aufruf gegen Konformismus" der beiden Autoren Milosz Matuschek und Gunnar Kaiser, der in der SZ verdächtigt worden war, "rechts" zu sein (unser Resümee), unterzeichnet hat. Ihm ging es um die im Appell genannten "zensierten Karikaturisten, verfolgten Whistleblower und Enthüller, Seminare, die nicht stattfinden können, weil sie gestört werden". Und da vor allem um die Karikaturisten: Sie führten "uns zurück zum Sündenfall der Cancel Culture unserer Zeit, der Fatwa gegen Salman Rushdie. Womit wir es zu tun haben bei der Grüppchenbildung, ist ja eine Wiederbelebung der Glaubensgemeinschaft. Der Religion. Sie beruht auf dem Ab- und Wegkanzeln von Kritik zum Zwecke des Stillstandes aus Gründen der Zukunftsangst."
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Medien

In der Süddeutschen Zeitung sind scharfe Einschnitte geplant und die schwäbische SWMH-Medenholding, der die Zeitung gehört, scheint es damit ziemlich eilig zu haben, berichtet Anne Fromm in der taz: "Bis zu 50 RedakteurInnen sollen gehen, das ist etwa ein Zehntel der Redaktion. Der Betriebsrat spricht vom umfangreichsten Stellenabbau in der Geschichte der Zeitung. Bis Mitte Dezember gibt der Verlag... den MitarbeiterInnen der Print- und Onlineredaktion Zeit, sich freiwillig zu melden, um die SZ zu verlassen. Wer geht, bekommt eine Prämie, je nach Betriebszugehörigkeit maximal 134.000 Euro. Wer schon in den kommenden sechs Wochen geht, bekommt 30.000 Euro 'Schnellentscheiderprämie' oben drauf."

In Italien wird dagegen eine neue Zeitung gegründet, berichtet Matthias Rüb in der FAZ. Carlo De Benedetti, einst Gründer von La Repubblica stellt nun die Zeitung Domani vor, die täglich mit 16 Seiten im Print und online erscheinen soll: "Chefredakteur ist der 36 Jahre alte Stefano Feltri. Er kommt von der Zeitung Il Fatto Quotidiano, die der linkspopulistischen Fünf-Sterne-Bewegung nahesteht. Die Redaktion von zunächst anderthalb Dutzend Mitarbeitern, die überwiegend zwischen dreißig und vierzig Jahre alt sind, hat ihren Sitz in Rom. Schwerpunkte sind Reportagen und Hintergründe zu Umwelt, Politik und Wirtschaft, ein Feuilleton und einen Sportteil gibt es vorerst nicht." Hier die Website der Zeitung.

Kritischer Journalismus ist so nötig wie nie, versichert Mathias Döpfner in der Welt, die seine Rede vor dem Kongress des Bundesverbandes Digitalpublisher und Zeitungsverleger abdruckt, als dessen Präsident er gerade erneut bestätigt wurde. Staatliche Hilfen und Geld von den digitalen Plattformen ist nötig, aber Döpfner hätte es gern nur sehr indirekt - vom Staat in Form von "Infrastruktur-Förderung" und Gesetzen wie der EU-Urheberrechtsreform. Und von den digitalen Plattformen als Gebühr, auf die man einen Anspruch hat, nicht als milde Gabe. Das ließe sich über die Urheberrechtsreform durchaus noch verschärfen: "Das australische Modell stärkt die Verlage und hat einige überzeugende Vorteile: Wenn die Plattformen sich nach drei Monaten Verhandlung nicht mit den Verlegern auf einen Deal verständigt haben, kann ein Schiedsrichter einen verbindlichen Preis festlegen. Zudem ist jede Form der Diskriminierung über das Ranking verboten. Wir sollten offenbleiben und uns die ermutigende Entwicklung in Australien genau anschauen und prüfen, welche der dort gemachten positiven Erfahrungen wir ebenfalls in Europa übernehmen könnten."
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Europa

Der belarussische Autokrat Alexander Lukaschenko hat seinen Großen Bruder Wladimir Putin am Montag getroffen und von diesem einen Kredit erhalten. Die Szene des Treffens mit einem eisigen Putin zeigt Barbara Oertel in der taz allerdings, dass Moskau angesichts anhaltender Proteste "ein Plan B fehlt. Belarus 'heimzuholen', wie die Krim, ist nicht vermittelbar. Die Interessen angeblich unterdrückter Landsleute mit Waffengewalt zu verteidigen, wie im Donbass, ebenso wenig."

Der in London lebende Literaturwissenschaftler Rüdiger Görner ist schwer enttäuscht von seiner Wahlheimat. Und nicht nur wegen des Brexit: Das ganze Land scheint in eine "frappierende Unmündigkeit" zu verfallen, die jeden mitreißt, schreibt er in der FR. "Mehr und mehr wächst die Einsicht in unseren Köpfen, dass es für wirklichen Widerstand zu spät geworden ist. Wir sind zu Komplizen eines regierungsamtlichen Utilitarismus geworden, der den Philister für einen Intellektuellen hält. Die englische Krankheit, sie ist keineswegs nur ein Fall von mangelnder Effizienz oder Produktivität (gewesen); ihr Bazillus heißt: pragmatischer Konformismus, der mit Lethargie zu tun hat, politischer Apathie, über die auch die paar Demonstrationen gegen den Brexit und gegen den Irrsinn des Irak-Krieges, so eindrucksvoll und so friedlich sie waren, nicht hinwegtäuschen können. Es war letztlich Wähler-Lethargie, die Johnson über achtzig Sitze Mehrheit im Unterhaus verschafften und ein Mehrheitswahlsystem, das an Antiquiertheit schwer zu überbieten ist."

In der NZZ plädiert der Politikwissenschaftler Stephan Grigat für ein europaweites Verbot der Hisbollah und ihrer Financiers, wie es die CVP für die Schweiz beim Bundesrat beantragt hat: "Es ist absurd, dass eine Organisation, die für zahlreiche Anschläge auf der ganzen Welt verantwortlich gemacht wird und die ebenso wie das iranische Regime europäische Holocaust-Leugner wie Roger Garaudy verteidigt hat, bis anhin in der Schweiz und in der Mehrzahl der EU-Staaten weitgehend ungehindert agieren und Spenden sammeln kann."
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