9punkt - Die Debattenrundschau

Ungrammatische Ausdrücke

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
08.01.2021. Tag 2 nach der Attacke aufs Washingtoner Kapitol. Die Medien räumen die Trümmer beiseite. Schuld sind auch andere Medien, schreibt Margaret Sullivan in der Washington Post, und nicht nur Fox News, sondern auch das Wall Street Journal. "Der Westen ist an ein Ende gekommen", befürchtet der Politologe Tobias Endler in der FR. Auch die Netzöffentlichkeit spaltet sich, konstatiert Netzpolitik - Rechtsextreme ziehen sich in ihre eigenen sozialen Netze zurück. Und FAZ und Welt protestieren: Der Duden schafft das generische Maskulinum ab.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 08.01.2021 finden Sie hier

Politik

Nun ja, heute räumen die Medien die Trümmer beiseite. Margaret Sullivan, die Medienkolumnistin der Washington Post, erinnert nochmal an die Verantwortung von Medien wie Fox News und natürlich der sozialen Medien. Aber auch anderen Medien bleibt ihre Kritik nicht erspart: "Sogar sehr seriöse Orte wie die Kommentarseite des mit Murdoch verbundenen Wall Street Journal haben Trumps Sache geholfen, indem sie zweifelhafte Behauptungen wie in einem Gastbeitrag von Vizepräsident Pence zuließen, der behauptete, dass es keine zweite Covid-Welle geben werde. Redaktionelle Leitartikel veräumten es mehrfach, Trumps Lügen kraftvoll als solche zu benennen. Wie Monika Charen im Politblog The Bulwark schrieb, hat sich die Meinungsseite des Journals ihren Weg durch den schärfsten Angriff auf die Wahrheit und das politische System Amerikas hindurchlaviert, -gesäuselt und -relativiert".

"Der Westen ist an ein Ende gekommen" - und das nicht erst seit den Szenen im Kapitol, meint der Politologe und Amerikanist Tobias Endler in der FR: "Der öffentliche Meinungsbildungsprozess hat in seiner Polarisierung bizarre Züge angenommen und schlägt nun in offene Gewalt um. Marode politische Institutionen stehen für ein System, das aus der Zeit gefallen ist und in seiner Ineffizienz und Intransparenz bei vielen Misstrauen schürt. Zerschlagene Fensterscheiben im Kapitol können innerhalb von Stunden ersetzt werden, doch die Erschütterung am Grundgerüst der Demokratie wird Jahre brauchen, um abzuklingen. Die Vereinigten Staaten sind bis auf weiteres mit sich selbst beschäftigt. Auch deshalb haben sich die USA schon im Verlauf der letzten 15 Jahre von ihrer Rolle als eine der tragenden Säulen des Westens verabschiedet. Damit ist die Statik dahin, zunächst unabhängig davon, ob die andere tragende Säule, Europa, das 'Dach' des Westens weiterhin stützt."

Nein, ein Putsch war es nicht,was sich in Washington abspielte, eher wohl Hooliganism und Beschmutzung einer Institution, die nun von den demokratischen Gegnern übernommen wird, schreibt Jürgen Kaube in der FAZ: "Bedrohlich ist also nicht so sehr, dass sich in den Vereinigten Staaten eine gewaltsame Machtübernahme abzeichnete. Bedrohlich ist, dass nach Umfragen ungefähr die Hälfte der Republikaner das rechtsradikale 'walk-in' mit Leuten in T-Shirts, auf denen 'Auschwitz Camp' steht, und solchen, die sich im Sessel der Parlamentsvorsitzenden breitmachen, in Ordnung finden."

Ebenfalls in der FR schreibt Arno Widmann: "Donald Trump hat aller Welt deutlich gemacht, dass mitten in der Demokratie und ihren Institutionen deren Zerstörung betrieben wird. Dass auch die Demokratie ihre Kinder verrät, wissen wir, und dass sie die Diktatur der Konzerne betreibt, erfahren wir jeden Tag aufs Neue, aber die unverblümte Offenheit, die Brutalität, mit der Donald Trump diese Wahrheit vorlebt, ist eine neue Entwicklungsstufe. Das Amalgam von Fremdenhass, Kapitalanbetung und Frauenverachtung ist uns selten so plastisch vor Augen gestellt worden. Na, vergessen wir Berlusconi nicht!"

Der Sturm auf das Kapitol war seit Wochen im Internet angekündigt und trotzdem wurde die Nationalgarde erst eingeschaltet, als viele der Trump-Anhänger das Kapitol wieder verlassen hatten, notiert Eike Kühl kopfschüttelnd auf Zeit Online: "Im Forum von TheDonald, einer der führenden Communitys der Pro-Trump-Bewegung, wurde schon seit Wochen auf den 6. Januar hingearbeitet. 'Sei dort, es wird wild', steht bis heute auf einem großen Banner, dass die Besucherinnen und Besucher begrüßt - ein Zitat aus einem Tweet von Donald Trump. Wie das Onlinemagazin Buzzfeed berichtet, finden sich in dem Forum mehrere Beiträge, die auf eine gewaltsame Auseinandersetzung hindeuten und empfehlen, das Kapitol zu stürmen, sollte der Kongress den Wahlsieg von Joe Biden anerkennen."

Yascha Mounk sieht in einem Kommentar für Zeit online in dem finalen Bildersturm der horriblen Trump-Amtszeit auch etwas Positives: "Bei aller Hässlichkeit sollten wir nicht vergessen, dass die amerikanische Demokratie in den vergangenen vier Jahren einen sehr schweren Test bestanden hat, den viele andere Länder tragischerweise nicht bestanden haben."
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Internet

Die öffentlichen sozialen Netze wie Facebook und Twitter spielen zwar eine Rolle in der Kristallisation rechtsextremer Bewegungen, aber in gewisser Hinsicht sind sie auch schon raus, da sie öffentlich inzwischen zu stark unter Kontrolle stehen. Die Konspiration findet inzwischen woanders statt, schreibt Thomas Rudl bei Netzpolitik unter Bezug auf eine aktuelle Studie zu sogenanntem "Deplatforming", also dem Entzug des virtuellen Megaphons für Hetzer: "Da solche Akteure inzwischen eigene soziale Netzwerke wie Gab oder Parler aufbauen, auf denen sie keinen Löschstift fürchten müssen, verlagere sich der Blick perspektivisch auf eine andere Ebene. Im Visier stehen nun grundlegendere Infrastrukturen, etwa der DDoS-Schutzanbieter Cloudflare. Dieser ist aktuell etwa vor das früher bei Reddit gehostete 'TheDonald'-Forum geschaltet, um Angriffe abzuwehren. Dort tauschen sich Hardcore-Trump-Fans aus, unter anderem dort wurde die gestrige Demonstration in Washington organisiert."
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Gesellschaft

Die Wirtschaftsredakteurin der taz Ulrike Herrmann behauptet zwar immer mal wieder, dass es überhaupt kein Problem sei, Nöte der Wirtschaft wie akut etwa die Coronakrise mit immer neuen Schulden zu stopfen (Resümee). Nur leider muss die Wirtschaft dafür wachsen, und da ist der Idee einer nachhaltigeren Wirtschaft nicht gerade zuträglich. Im Leitartikel der taz gibt Herrmann zu, dass es für dieses Problem keine Lösung gibt: "Wachstum ist ein Dilemma. Am Wachstum hängen Arbeitsplätze, Investitionen, Gewinne, Renten, Schulden und Vermögen. Also alles. Gleichzeitig kann man in einer endlichen Welt aber nicht unendlich wachsen. Doch bisher hat niemand gezeigt, wie man aus dem Wachstum aussteigen kann, ohne dass es zum Crash käme."

Fast unbemerkt hat die Duden-Redaktion bereits im vergangenen Jahr begonnen, 12.000 Berufsbezeichnungen zu gendern, weiß Marcus Lorenz in der Welt. Das generische Maskulinum soll Stück für Stück getilgt werden. SprachwissenschaftlerInnen sind empört, auch Lorenz hält nichts davon: "Wenn der Duden der Welt schreibt, die Bedeutungsangaben würden auf 'redaktionellen Recherchen zum aktuellen Sprachgebrauch' basieren, muss man sich fragen, wo recherchiert wird. Und welche Schlussfolgerungen für die Bedeutungsangaben eines Wörterbuchs das zulässt. Die erdrückende Mehrheit der deutschsprachigen Medien verwendet bei Personenbezeichnungen fast immer das generische Maskulinum."

Auf einer ganzen Seite im FAZ-Feuilleton ärgert sich auch der Linguist Peter Eisenberg über anonyme Initiativen, die "geschlechterinklusive Schreibung" fordern, den Glottisschlag, den Genderstern - lediglich "ein sprachlicher Gesslerhut, mit dem signalisiert wird, dass sein Träger einer von den Proponenten vertretenen Geschlechterideologie folgt" und den Vorstoß der Duden-Redaktion: "Die Genderlinguistik verhält sich zu großen Teilen wie ein Schlosser, der seinen Hammer wegwirft und versucht, ihn durch einen Feldstein zu ersetzen. Damit kommt er nicht zurecht, so wie die Genderlinguistik viele untaugliche Versuche unternimmt, sich geschlechterneutral auszudrücken, obwohl wir das generische Maskulinum haben. Wenn etwa die Präsidentin der Universität Leipzig Anreden wie Herr Professorin einführt, etabliert sie nicht ein generisches Femininum, sondern ungrammatische Ausdrücke."

Im sauerländischen Olpe liegt der kleine Ort Neger im Negertal, unterteilt in Unterneger, Mittelneger und Oberneger. Nun ist eine kleine identitätspolitische Debatte entbrannt, es wird vorgeschlagen, den Ort in "Nager" umzubenennen, auch wenn der Ortsname kleinerlei rassistischen Kontext aufweist, wie Harry Nutt in der FR schreibt. Ihn ärgern die "gönnerhaften Einlassungen" von Sprachforschern und Vertretern der Initiative ISD, die keinen "Gedanken daran verschwenden, wie überfordert die Bewohner eines Dorfes sein müssen, wenn sie in derlei Kämpfe um symbolische Terraingewinne hineingezogen werden. (…) Indem die Dörfler ein Stück ihrer Identität hergeben, leisten sie einen Beitrag für eine höhere identitätspolitische Gerechtigkeit, die in den erstaunlichsten Gegenden ausgefochten werden kann und sich dem kaum mehr zu entziehen vermag.(...) Eine derart auf schnelle Triumphe zielende Identitätspolitik verkennt das eigene Dominanzgebaren, das in diesem Fall nicht über Autoritarismus und Gewalt verläuft, sondern auf Diskursmacht setzt."

In der SZ dreht sich Karl-Markus Gauss angesichts der Coronaleugner und Verschwörungstheoretiker, die sich als "Widerstandskämpfer" bezeichnen, der Magen um: "Was geht da vor, wenn sich junge Männer und Frauen, die frei von historischer Bildung sind, politische Mandatare einer Partei, die sonst gerne allerlei Zwangsmaßnahmen für missliebige Menschengruppen fordert, und honorable Bürger, die sich das Klassenvorrecht herausnehmen, zu tun, was dem Pöbel untersagt ist, in einem einig sind? Darin nämlich, dass sie tapfer für die Freiheit einstehen, während die anderen sich als willfährige Untertanen dem neuen Faschismus ergeben haben. Natürlich verharmlosen sie alle auf grässliche Weise den Nationalsozialismus."
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