9punkt - Die Debattenrundschau

Oder die Bande bekommt einen neuen Anführer

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
23.01.2021. In der Welt bekennt sich Außenminister Heiko Maas zur Antisemitismusdefinition der "Internationalen Allianz zum Holocaustgedenken" (IHRA), aber tut er es wirklich? Wer als arabischer Intellektueller für die Versöhnung mit Israel eintritt, wird von seinesgleichen verachtet, schreibt Najem Wali in der FAZ: Aber die Jugend denkt anders. Wie tot ist der Trumpismus, fragen taz und New York Times. Im Tagesspiegel erklärt Fatina Keilani, was ein "Token" ist. In der NZZ fragt Martin Pollack, warum gerade Polen mit seiner geglückten Wende  so anfällig ist für den Rechtspopulismus.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 23.01.2021 finden Sie hier

Europa

In einem erstaunlichen Wischiwaschi-Text für die Welt bekennt sich Außenminister Heiko Maas zur Antisemitismusdefinition der "Internationalen Allianz zum Holocaustgedenken" (IHRA), deren Vorsitz Deutschland offenbar gerade führt. Einige Wissenschaftler hätten diese Woche Empfehlungen in der Frage vorgelegt. Maas geht mit keinem Wort darauf ein, dass ihm unterstellte Organisationen wie das Goethe-Institut gerade im Aufruf der "Initiative GG 5.3 Weltoffenheit" (mehr im Perlentaucher) eben diese Definition der IHRA überzogen finden - beraten von Andreas Görgen, dem Leiter der Abteilung Kultur und Kommunikation des Auswärtigen Amtes. Über israelbezogenen Antisemitismus, einen wesentlichen Teil der IHRA-Definition, redet er nicht. Statt dessen verortet Maas den Antisemitismus allein bei den üblichen Verdächtigen, den Rechtsextremen und im Internet: "Eine aktuelle Studie zeigt, wie eng sich Rechtsterroristen und Verschwörungstheoretiker schon heute online vernetzen. Und mindestens genauso eng vernetzt müssen unsere Sicherheitsbehörden agieren."

Für heute hat Alexej Nawalny zu Demonstrationen in Moskau aufgerufen. Wie groß diese Proteste werden, ist nicht abzusehen, schreibt der FAZ-Korrespondent Friedrich Schmidt, aber das Putin-Regime scheint ziemlich nervös zu sein, auch wegen Nawalnys Enthüllungen über Putins monströsen Palast am Schwarzen Meer. Auch Michail Chodorkowski erklärt Nawalny in der FAZ seine Solidarität und fordert den Westen auf, nicht mit einem Regime von Banditen zu kooperieren: "In Putins Russland ist die Macht ihrem Wesen nach kriminell. In einer kriminellen Bande hat das Gesetz keine Bedeutung, ebenso wenig die Meinung der Gesellschaft und ihrer Institutionen. Entweder bist du der Verschlagenste und Brutalste und kannst alle Herausforderer mit deiner Stärke erdrücken, oder die Bande bekommt einen neuen Anführer."

In der NZZ überlegt der Schriftsteller Martin Pollack, warum Polen mit seiner geglückten Wende nach 2015 so leichte Beute für Rechtspopulisten wurde: Zum einen, weil die Opposition schwach und zerstritten ist, meint er. "Mindestens ebenso wichtig: Kaczynski hat es meisterhaft verstanden, Schichten der polnischen Gesellschaft zu mobilisieren, welche die liberalen Regierungen vor ihm sträflich vernachlässigt hatten: die Verlierer der demokratischen Wende, große Teile der ländlichen Bevölkerung sowie Arbeiter und Pensionisten. Dem gegenüber stehen die urbanen Eliten, welche auch die Globalisierung für sich nutzen konnten. ... Es ist dies eine Spaltung der Gesellschaft, die Kaczynski und seine Anhänger ständig vertiefen, weil sie ihre Macht darauf gründen. Sie schüren einen kruden Anti-Intellektualismus und Anti-Elitismus, obwohl sie alle Privilegien, die mit der Zugehörigkeit zur Elite verbunden sind, und noch ein paar mehr für sich in Anspruch nehmen. Eine polnische Version des Trumpismus."
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Geschichte

Der Historiker Mischa Meier feiert mit einer riesigen Studie über die Völkerwanderung einen großen Erfolg auf dem Buchmarkt. Im Gespräch mit Jürgen Kaube und Andreas Kilb von der FAZ erklärt er, dass das Reich Risse zeigte, als die Eliten den Zugriff darauf verloren: "Das Römische Reich war ja von vornherein ein Gebilde, das aus sehr heterogenen Regionen bestand. Und das in den Phasen, in denen es gut funktioniert hat, Mittel und Möglichkeiten besaß, diese Regionen durch übergreifende Elemente wie den Herrscherkult, die Infrastruktur, das Militär, die Sprache, die Verwaltung zusammenzuhalten. In dem Moment, in dem diese Elemente aus ganz verschiedenen Gründen nicht mehr funktionieren, ist klar, dass die unterschiedlichen Regionen ihre eigene Identität wiederentdecken."
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Gesellschaft

Deutschland hat in der Regel keine überzeugenden Formen, seiner Toten zu gedenken. Bei größeren Ereignissen fassen sich ein Priester, ein Rabbi und ein Mufti bei der Hand. Auch in der jetzigen Pandemie wird im Grunde sehr diskret gestorben, die Toten sind Zahlen. Es brauche einen "zivilreligiösen Akt", wie ihn der Bundespräsident jetzt angekündigt hat, findet die Theologin Petra Bahr, Mitglied im Deutschen Ethikrat, im Gespräch  mit Tanja Tricarico von der taz: "Vor hundert Jahren, nach der letzten Pandemie, sind die Toten oft einfach aus dem Dorf- oder Familiengedächtnis verschwunden. Das droht nun auch. Gedenkorte für die Gefallenen des Ersten Weltkriegs gab es überall, auch in den Kirchen. Tafeln oder Erinnerungsorte für die Toten der Spanischen Grippe gibt es kaum. Eine Pandemie ist zwar kein nationales Unglück wie ein Terroranschlag oder ein entgleister ICE, aber trotzdem wäre so eine öffentliche Geste gut, nicht nur gegen das Vergessen der Toten, sondern auch als Mahnung an die Davongekommenen. Wie verletzlich wir doch sind, unsere Körper, unsere Freiheit, mitten in den Steuerungsfantasien und der Fortschritte in der Medizin."

Die Juristin Fatina Keilani hatte in einer Tagesspiegel-Kolumne recht kräftig auf das Geschäftsmodell einiger AntirassistInnen geschimpft, die ihren Opferstatus zu ihrem Unique Selling Point gemacht hätten und dabei Argumentationsstategien entwickelten, die ihr Gegenüber in einen permanenten Double bind versetzten. Heute schreibt sie über die wilden Reaktionen auf den Text auf Twitter: "Mir warfen sie nun vor, ich sei ein 'Token'. Überhaupt musste ich einige neue Vokabeln lernen. Ein 'Token' ist ein Migrant, der im Establishment angekommen ist. In meinem Weltbild ist das eine gute Sache, wenn Migranten in der Gesellschaft ankommen. In dem Weltbild meiner neuen Gegner jedoch nicht, ein Token hat sich nämlich sozusagen selbst versklavt, durch Überanpassung an die Unterdrücker, das ist natürlich schlecht. Aber was ist denn dann gut? Ausgegrenzt sein ist schlecht, aber drin sein - ist auch schlecht?"

In der NZZ denkt Hans Ulrich Gumbrecht etwas wehmütig an den Stierkampf, der bald Geschichte sein wird: "Wie kann man jene längst fremd gewordene Faszination historisch erklären? Wahrscheinlich war sie aus einer Konzentration auf den Tod als Teil der menschlichen Existenz entstanden, wie sie sich in der Philosophie seit Nietzsche angebahnt hatte und durch die Materialschlachten des Ersten Weltkriegs auch Teil der breiten Kultur geworden war. Boxen, Bergsteigen oder das Durchschwimmen des Ärmelkanals mit den jeweiligen Risiken zogen nach 1918 die Aufmerksamkeit von Millionen auf sich, als der Fußball noch kein Trendsport war - und die Feuerbestattung zu einem Hauptthema der öffentlichen Debatten wurde." In der Welt hat Gumbrecht ebenfalls einen Text: Nach der Amtseinführung Joe Bidens hofft er auf eine Normalisierung in der amerikanischen Politik.
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Politik

Wer als arabischer Autor für eine Versöhnung mit Israel eintritt, wie er selbst, gilt als "Mutaba", als "Normalisierer", und wird von den meisten arabischen Intellektuellen verachtet, schreibt Najem Wali in der FAZ. Unter Autoren ist ein scharfe Haltung gegen Israel viel üblicher, wie etwa bei Alaa al-Aswani, der seine Romane nicht auf Hebräisch übersetzen lassen will. Anders ist es bei der Jugend, schreibt Wali, die sich für den Nahostkonflikt kaum mehr interessiere: "Sie haben die Wahrheit durchschaut. Stillstand, Verfall und Verwüstung der arabischen Gesellschaften, das Bestehen von Diktatoren und Scheich-Regimen hängen nur in einem einzigen Punkt mit dem arabisch-israelischen Konflikt zusammen: Ein Frieden mit Israel wäre das Ende des Rauschgifts, mit dem die arabischen Herrscher, diese Könige und Militärs, ihre Völker betäuben. Die Wirtschaftskrisen, die Verschlechterung des Bildungsniveaus, die Ausbreitung des Islamismus haben mit dem Fehlen von Demokratie und den korrupten Herrscherfamilien sowie deren Geringschätzung für ihre Völker zu tun - nicht aber mit dem arabisch-israelischen Konflikt."

Die amerikanische Politologin Marcia Pally versucht in der taz die Psychologie der Trump-Anhänger zu verstehen, die mit ihrer Unterstützung Trumps häufig genug gegen ihre eigenen Interessen agieren. Es gehe eben auch um ein Gefühl der Genugtuung: "Der aus Frankreich stammende Anthropologe René Girard hat dies in Büchern wie 'Der Sündenbock' oder 'Le Sacrifice' den 'Sündenbock-Mechanismus' genannt. Wenn Knappheit und Wettbewerb gesellschaftliche Spannungen produzieren, wird ein Ziel ins Visier genommen, das angeblich Urheber des Problems ist. Wenn sich die Mehrheit darauf verständigt, diesen Sündenbock zu töten, lösen sich die Spannungen zunächst auf, vor allem aber fühlen sich die Angreifer als Gruppe, die ein Gefühl der Zusammengehörigkeit und Tatkraft eint."

Auch Tilman Baumgärtel beschäftigt sich in einem kleinen taz-Essay mit der Mentalität der Trump-Anhänger. Für ihn haben sie die Trollkultur aus dem Internet IRL (nämlich "in real life") gebracht. Angefangen hatte mit solchen Aktionen die linke Gruppe "Anonymous": "Anonymous verfolgte dabei zunächst durchaus progressive Ziele wie die Bloßstellung der Scientology-Sekte oder die Unterstützung des Arabischen Frühlings und von Wikileaks. Aber vor allem verlagerten sie die Trollkultur, die in der Anonymität des Internets entstanden war, unter Guy-Fawkes-Masken aus dem Netz wieder in den physischen Raum. Das Spiel im Internet war zu einem Spiel in der Realität von Städten, Straßen und Körpern geworden."

Die Bilder von der Attacke auf das Kapitol am 6. Januar werden für Rechtsextreme Symbolfunktion behalten, vermutet der Sicherheitsexperte Colin P. Clarke, Autor eines Buchs über den Islamischen Staat, in der New York Times. Das Gespenst des Trumpismus ist für ihn keineswegs gebannt: "Schusswaffenverkäufe in Rekordhöhe, eine sich abzeichnende wirtschaftliche Krise und das andauernde Ausfransen des sozialen Gefüges in Amerika - verschärft durch abnehmende psychische Gesundheit, zunehmende häusliche Gewalt und sich verschlimmernden Drogenmissbrauch während der Pandemie - ergeben eine beunruhigende Kombination."

Hier noch zwei Bernies:

Und

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