9punkt - Die Debattenrundschau

Eine nichtschwule Aura

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
23.06.2021. Ziemlich selbstgefällig findet Jan Feddersen in der taz die Empörung über die Uefa, die verhindert hat, dass das Münchner Olympiastadion in einem Regenbogen erstrahlt - warum wohl gibt es im deutschen Profifußball keinen einzigen offen schwulen Fußballer? Die SZ sieht's anders. Die Presse ist gerettet: Zumindest wenn sich die Forderung nach 900 Millionen Euro Leistungsschutzgeld jährlich allein von Google durchsetzt, die Corint Media laut Clap erhebt. In der NZZ erklärt der Astronom Avi Loeb, warum er außerirdisches Leben für nicht unwahrscheinlich hält. Die SZ will am Grundsatz "ne bis in idem" festhalten.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 23.06.2021 finden Sie hier

Gesellschaft

Ziemlich selbstgefällig findet Jan Feddersen in der taz die Empörung über die Uefa, die verhindert hat, dass das Münchner Olympiastadion in einem Regenbogen erstrahlt, um gegen die schwulenfeindlichen Gesetze des EM-Gegners Ungarn zu protestieren: "Männerfußball ist zwar die zentrale Sportart, das einzige Lagerfeuer der Republik, an dem sich alle irgendwie versammeln können, doch zugleich gibt es in den Profi-Ligen keinen einzigen offen schwulen Fußballer. Vor diesem Hintergrund ist es doch verwunderlich, mit dem Finger auf osteuropäische Länder wie Ungarn zu zeigen. Ist nicht völlig falsch, aber: Ein Profifußballer in Deutschland, der sich als homosexuell outet, hat seinen Marktwert auf Anhieb um 90 Prozent gemindert. Denn zum Bild dieser Sportart gehört eben auch eine nichtschwule Aura."

Stimmt schon, meint Gökalp Babayiğit dazu in der SZ, "auf den ersten aktiven Bundesligaspieler, der ohne Angst zu seiner sexuellen Orientierung steht, wartet Deutschland bis heute." Aber die Aktion "als angeblich unzulässige Vermischung von Sport und Politik abzustempeln, wie es Ungarn versucht und wie es die auf ihre 'politische Neutralität' pochende Uefa in ihrer Ablehnung andeutet, ist schlicht Quatsch. Für Rechte und Grundrechte aller Menschen einzutreten, ist kein politisches Statement, das wie andere politische Aussagen so oder so ausfallen könnte. Es ist eine Selbstverständlichkeit, zumal in einer Demokratie."

Auf Zeit online fragt sich Pola Fendel, warum Frauen immer wieder andere Frauen kritisieren, weil sie als Mütter arbeiten oder sich die Erziehung wirklich fifty-fifty mit dem Vater teilen. "Frauen sitzen dann auf den Spielplätzen und schnauben verächtlich, wenn ich erwähne, dass ich mich auf mein freies Wochenende freue. Einst ambitionierte, selbstständige Freundinnen schauen mir großäugig ins Gesicht und antworten auf meine Frage, warum Hans keine Windeln wechselt, sie 'könnten es eben besser'. ... Feministisch sein heißt 2021, Männern zutrauen lernen. Es nicht allein machen. Frauen können alles, was Männer können. Darauf vertrauen wir. Männer können aber auch alles, was Frauen können. Kinder großziehen zum Beispiel."
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Wissenschaft

Im Gespräch mit der NZZ erklärt der Harvard-Astronom Avi Loeb, warum er außerirdisches Leben für nicht unwahrscheinlich hält. Dass es sich nie gezeigt hat, spricht nicht dagegen, meint er, wir sind einfach nicht interessant für die da draußen: "Wir haben erst in den letzten hundert Jahren Technologien entwickelt, die für solche Zivilisationen interessant sein könnten - Technologien, die zeigen würden, dass auch wir eine intelligente Lebensform sein könnten, bei der sich ein Besuch lohnen würde. In der gesamten Geschichte der Menschheit lassen sich Beispiele finden, wie wir beim Versuch, uns gegenüber anderen überlegen zu fühlen, eine Menge Ressourcen für zerstörerische Aktionen vergeudet haben. Das ist kein Zeichen von Intelligenz. Ein Zeichen für die Intelligenz einer Zivilisation ist für mich, dass sie von den Prinzipien der Wissenschaft geleitet ist, dass sie evidenzbasiertes Wissen teilt und in Richtung einer besseren Zukunft zusammenarbeitet. Das haben wir noch nicht erreicht, und allein schon das macht uns nicht ausreichend interessant für außerirdische Zivilisationen. Wir müssen nach ihnen Ausschau halten, nicht umgekehrt."
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Europa

In der Zeit kann Wladimir Putin ungefiltert seine Geschichtsversion zum achtzigsten Jahrestag des Überfalls der Deutschen auf die Sowjetunion verbreiten. Er nutzt die Gelegenheit, um die "ukrainische Tragödie" à la Putin anzurichten: "Europa unterstützte aktiv den bewaffneten verfassungswidrigen Staatsstreich in der Ukraine. Damit hat alles begonnen. Wozu war das nötig? Der damals amtierende Präsident Viktor Janukowitsch hatte ja bereits alle Forderungen der Opposition akzeptiert. Warum organisierten die USA diesen Staatsstreich und unterstützten die EU-Staaten ihn willenlos und provozierten somit die Spaltung innerhalb der Ukraine und den Austritt der Krim aus dem ukrainischen Staat?"

In der SZ warnt Wolfgang Janisch davor, den Grundsatz 'ne bis in idem' über Bord zu werfen, dass man für eine Straftat nur einmal vor Gericht gestellt werden kann. Der Bundestag will diesen uralten Rechtsgrundsatz diese Woche aufheben, wenn auch bisher nur für schwerste Straftaten wie Mord, Völkermord und Kriegsverbrechen. "Dass solche Täter, freigesprochen aus Mangel an Beweisen, frei herumlaufen und womöglich Interviews geben, ist in der Tat eine bizarre Vorstellung. Aber eben auch eine ziemlich theoretische", meint Janisch angesichts der Tatsache, dass der Entwurf einen Mordfall aus dem Jahr 1981 heranziehen musste, um die Notwendigkeit einer Reform zu begründen. Noch verstörender findet Janisch aber die Begründung, es sei "'unerträglich', dass ein freigesprochener Mordverdächtiger von der Justiz unbehelligt bleibt. Ist dies aber bei einem mutmaßlichen Vergewaltiger erträglicher? Oder bei Kinderschändern, Drogenbossen, Terroristen? Müsste man nicht auch dem Staatsanwalt einen zweiten Versuch einräumen? Ist der Geist erst einmal aus der Flasche, lässt er sich nicht mehr einfangen. Ein rechtskräftiger Freispruch, bisher Schlusspunkt der Strafverfolgung, wäre dann nur noch ein Etappensieg."
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Internet

Tomas Rudl wirft für netzpolitik einen Blick auf den deprimierenden Stand der seit 2015 geplanten Modernisierung bzw. Digitalisierung der Bundesverwaltung und stöhnt auf: Das wird sich noch bis 2032 hinziehen. Nach vielfachem Zuständigkeitsgerangel liegt die Verantwortung jetzt beim Bundesinnenministerium. Doch "legte das BMI bis heute 'kein finalisiertes Grobkonzept vor', heißt es im der Redaktion vorliegenden Bericht des Bundesrechnungshofs vom April. Stattdessen befinde sich das BMI bis heute 'erneut in der Konzeptionsphase' - seit 2018. Somit ist keine verlässliche Planung möglich, es fehlen Daten, Berichte und Handlungsempfehlungen. Die Folge: Ohne diese Informationen müssen sich Behörden eigene Datengrundlagen für Entscheidungen schaffen. Dies könne Projekte unnötig belasten und zudem für vermeidbare Mehrfachbeschaffungen sorgen, mahnte der Bundesrechnungshof."
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Stichwörter: Digitalisierung, Netzpolitik

Ideen

Der Historiker Jacob Eder, Professor für Geschichte an der Barenboim-Said Akademie in Berlin-Mitte, macht A. Dirk Moses' "Katechismus der Deutschen" in geschichtedergegenwart.ch zwar ein paar pflichtschuldige Komplimente, kann Moses und seiner religiös aufgeladenen Sprache allerdings nicht folgen (unsere Chronik der Debatte). Wie viele, die auf Moses antworteten, scheint er aber zu glauben, es gehe diesem tatsächlich um die Vergangenheitsbewältigung in Deutschland und verteidigt in erster Linie die Institutionen des Gedenkens in Deutschland: "Ihr Handeln folgt keinem 'Katechismus', sondern Logiken, die sich aus der schwierigen und widersprüchlichen Konfrontation mit Nationalsozialismus und Holocaust in der Bundesrepublik ergeben haben. Ohne die Komplexität dieser Prozesse anzuerkennen, lässt sich Kritik am gegenwärtigen Zustand der staatlichen Erinnerungspolitik weder präzise noch plausibel formulieren." In 3sat- "Kulturzeit" wurde Moses übrigens gestern interviewt.

René Pfister beschreibt im Spiegel, wie sich die "Critical Race Theory" in Amerika durchsetzt. Eines ihrer Monumente ist die Artikelserie "1619" in der New York Times (unser Resümee), die behauptete, dass Amerika letztlich auf der Sklaverei begründet sei. Erst spät regte sich Widerstand gegen historische Ungenauigkeiten der Serie, so Pfister: "Die New York Times ließ daraufhin in ihrer Onlineausgabe heimlich die Aussage verschwinden, das Jahr 1619 sei das 'wahre Geburtsdatum' der amerikanischen Nation. Und schob die Korrektur nach, wonach nur 'manche' Kolonialisten den Unabhängigkeitskrieg für die Sklaverei geführt hätten. Doch kurioserweise tat der so offenkundige Versuch, Geschichtsschreibung in den Dienst einer Ideologie zu stellen, dem Renommee der Artikelserie kaum Abbruch. Der Pulitzerpreis, mit dem sie ausgezeichnet worden war, wurde nicht zurückgezogen, und sie ist immer noch Lehrmaterial an amerikanischen Schulen."

Der identitäre Antirassimus führt den Rassimus durch die Hintertür wieder ein, auch wenn er behauptet, dass "Rasse" nur eine Konstruktion sei, schreibt Armin Pfahl-Traughber bei hpd.de: "Gleichwohl ist das entscheidende Differenzierungsmerkmal dann doch wieder die Hautfarbe, eben auch für die Identitätslinke. Sie nimmt darüber hinaus eine dualistische Einteilung vor, wobei die Opfergruppe die Schwarzen und die Tätergruppe die Weißen sein sollen. Und damit sind nicht mehr individuelle Einstellungen, sondern kollektive Zugehörigkeiten wichtig. Darüber hinaus argumentiert man für die gemeinten Gruppen mit einer inneren Wesenheit. Dies macht die Auffassung deutlich, dass das Gedicht einer schwarzen Lyrikerin nicht von einem weißen Übersetzer übertragen werden könne.

In der NZZ denkt Dan Diner in einem sehr abstrakten Text über Anwartschaften von Mehrheiten und Minderheiten nach, die neu ausgehandelt werden müssten: "Dies gilt nicht nur für die gegenseitige Verpflichtung der Generationen füreinander in Gestalt einer ausgewogenen Rechts- und Erbfolge, sondern gilt einer ethnisch begründeten Verantwortung für den Zusammenhalt des Ganzen." Diner spricht damit wohl auch etwa Reparationsforderungen aus historischem Unrecht an: "Im Extremfalle streben jene im Verfall begriffenen Anwartschaften dahin, die von ihnen beanspruchten zurückliegenden Zeitläufte in eine Legitimität, wenn nicht gar in eine Superiorität der Herkunft zu verwandeln. Solche Metamorphose bedient sich in demonstrativer Geste der nach außen gekehrten nackten Haut."
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Religion

In der neuen Kommission, die den islamischen Religionsunterricht in NRW gestalten soll, sitzt jetzt wieder die Ditib, die faktisch der türkischen Religionsbehörde Diyanet untersteht. Liberale Stimmen fehlen völlig. In der Welt fragt sich Joachim Wagner, ob man nicht das ganze Konzept des staatlichen Islamunterrichts hinterfragen müsste. Der Integration dient er kaum: "In Baden Württemberg und Nordrhein Westfalen besuchten zwischen 45 und 66 Prozent der Schülerinnen und Schüler neben dem IRU weiter Koranschulen. Erschreckend ist die Verbreitung von Separationstendenzen unter muslimischen Schülerinnen und Schülern trotz islamischer Religionsstunden. In Nordrhein Westfalen wollen 68 Prozent von ihnen leben wie in der Heimat ihrer Vorfahren, in Niedersachsen 62 Prozent." Vielleicht sollte man statt konfessionsgebundenen Religionsunterricht einen Ethikunterricht für alle einführen?
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Geschichte

Die Historiker Peter Brandt und Lothar Machtan  haben vor einigen Tagen bereits in der SZ dargelegt, dass die Hohenzollern nur deshalb heute unangemessene Ansprüche erheben können, weil sie in der Weimarer Republik nicht nach den Regeln der Kunst enteignet worden waren (unser Resümee). Heute schildern die beiden in der SZ den demokratiezersetzenden Einfluss der reaktionären, ehemals wilhelminischen Eliten in der Weimarer Zeit. Hindenburg war zwar alles andere als ein Freund der Hohenzollern, und monarchistische Bestrebungen schienen um 1930 nicht mehr realistisch. Aber dennoch "beteiligten sich Angehörige ehemaliger Fürstenhäuser mehr oder weniger aktiv, mehr oder weniger prominent am antidemokratischen Zerstörungswerk; während andere, so namentlich die bayerischen Wittelsbacher, in deutlicher Distanz, ja Opposition zumindest zur Hitler-Bewegung blieben. War die Rückkehr der mittleren und kleinen Fürsten auf den Thron in den 1930er-Jahren kein Thema mehr, so setzten die Hohenzollern - der frühere Kaiser jedenfalls und der Ex-Kronprinz Wilhelm - bis 1933 auf eine Restauration der Monarchie mithilfe der NSDAP, womöglich nach dem Vorbild Mussolini-Italiens. Noch mehr aber engagierten sie sich als 'Zerstörer' der Weimarer Republik; woraus sie auch nie einen Hehl gemacht haben."
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Medien

Die deutsche Presse ist gerettet, sofern sie der Verwertungsgesellschaft Corint Media beitritt, scheint es nach einer Meldung des Medienmagazins turi2, das sich auf ein anderes Medienmagazin namens Clap bezieht. Hier wurde der neue Chef von Corint Media, Christoph Schwennicke, interviewt. turi2 resümiert: "Die Verwertungsgesellschaft Corint Media fordert im Rahmen des Leistungschutzrechts für Presseverlage bis zu 900 Millionen Euro pro Jahr allein von Google, sagt Corint-Chef Christoph Schwennicke im Interview mit Clap. Das entspreche 10 bis 11 Prozent der Einnahmen, die Google in Deutschland erwirtschafte. Voraussetzung für diese Summe sei allerdings, dass Corint Media die Rechte aller Verlage vertritt. Zuletzt hatte sich die Verwertungsgesellschaft beim Kartellamt über Google News Showcase beschwert. Sie befürchtet, dass Google die Nachrichten seiner Partner-Verlage bevorzugt, Google widerspricht." Ein Auszug des Interviews mit Schwennicke findet sich hier, allerdings ohne die Passage über die Forderungen an Google.
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