9punkt - Die Debattenrundschau

Dieses wir zerfällt vor unseren Augen

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
24.08.2021. Der Rückzug mag eine Katastrophe sein, aber das Engagement in Afghanistan war keineswegs gescheitert, schreibt Khaled Hosseini in der SZ. Die Universitäten hatten bis zu 60 Prozent Studentinnen, ergänzt die Politikerin Naheed Esar in der taz. Im Guardian schildert Mohammed Hanif die Angst der Pakistaner vor den Taliban. Katharina Raabe und Olga Radetzkaja unterhalten sich im Perlentaucher über das Gendern in Verlagen und Literatur.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 24.08.2021 finden Sie hier

Politik

Der chaotische Rückzug aus Afghanistan ist eine Katastrophe, für die der Schriftsteller Khaled Hosseini in der SZ die westlichen Alliierten durchaus verantwortlich macht. Aber zu sagen, die ganze Intervention hätte nichts gebracht, findet er auch falsch: "Schauen sie etwa die Verfassung Afghanistans an, sie reserviert einstweilen ein Viertel aller Parlamentssitze für Frauen. Eine weitere Folge der Präsenz internationaler Truppen war, dass wir nun eine große, städtisch geprägte Gruppe junger Afghanen mit guter Berufsausbildung haben, die via Social Media an der Welt teilhaben. Sie haben sich mit Thematiken des 21. Jahrhunderts auseinandergesetzt, mit Menschenrechten und sozialer Gerechtigkeit. Das alles ist nicht vom Himmel gefallen, sondern musste schmerzhaft erkämpft werden, durch Blut, Schweiß und Tränen. Wird all das zurückgedreht? Ich glaube, diese Frage ist sehr drängend."

Naheed Esar, die heute in Amerika studiert und vorher Politikerin in Afghanistan war, hofft im taz-Gespräch mit Tom Mustroph, dass die Taliban nicht alles rückgängig machen: "Ich wünsche mir wirklich sehr, dass das neue Regime all die Errungenschaften für Frauen in den letzten zwanzig Jahren bestehen lässt, ja dass diese Entwicklung sogar weitergeht. Denn Frauen haben in ganz vielen Sektoren, sei es Bildung, sei es Wirtschaft, sei es Kultur, unglaublich viel beigetragen. In der Universität von Herat gab es zum allerersten Mal in unserer Geschichte überhaupt eine Mehrheit von 60 Prozent Studentinnen. Diese Generation hat sich selbst gebildet, sie hat viele Hürden dabei überwunden."

Im Interview mit Zeit online erklärt der Politikwissenschaftler Niamatullah Ibrahimi, warum sich die Ethnie der - zumeist schiitischen - Hazara vor den - in der Regel sunnitischen - Taliban besonders fürchten muss. Schlecht behandelt wurden sie in Afghanistan allerdings schon immer: "Obwohl Sklaverei in Afghanistan zu Beginn des 20. Jahrhunderts offiziell abgeschafft wurde, änderte sich wenig an ihren Lebensbedingungen. Viele arbeiteten als Diener in wohlhabenden Haushalten unter sklavenartigen Bedingungen und ohne Chancen darauf, ihre soziale und ökonomische Situation zu verbessern. Erst mit der sowjetischen Besatzung in den Achtzigerjahren begannen die Hazara, sich zu organisieren und ein Ende der Marginalisierung und Verfolgung zu fordern." Damit war es vorbei, als die Taliban in den Neunzigern an die Macht kamen: "Das zahlenmäßig schlimmste Massaker fand im August 1998 statt. Nachdem die Taliban die Stadt Masar-i-Sharif eingenommen hatten, ermordeten sie systematisch Hazara-Männer. Zwischen 2.000 und 4.000 Menschen starben."

Noch während der grausamen ersten Herrschaft der Taliban waren die Pakistaner überzeugt, dass die Taliban die besseren Muslime seien und liebten sie, behauptet der pakistanische Schriftsteller Mohammed Hanif im Guardian (er spricht immer von "we"). Dennoch haben die Pakistaner nach 9/11 mit den Amerikanern paktiert: "Jetzt freuen sich viele Pakistaner über die Niederlage der Amerikaner, während andere vor der Zukunft warnen. Wir führen einen Siegestanz auf, aber in unseren Herzen herrscht Furcht. Wir reden zwar über Dinge wie Frauen und Kinder, freie Medien und den internationalen Konsens, aber wir hoffen, dass sich die Taliban an die guten Zeiten erinnern, die wir gemeinsam hatten. Wir hoffen, dass sie sich nicht zu sehr an ihr Leid erinnern werden. Wir hoffen, dass sie sich auch an unser Leid erinnern werden. Das letzte Mal, als wir die Taliban verrieten, brachten ihre pakistanischen Cousins den Kampf im Stil der Taliban auf unsere Straßen, in unsere Moscheen und Schulen. Viele Jahre lang haben wir uns eingeredet, dass es gute Taliban (hauptsächlich in Afghanistan) und böse Taliban (hauptsächlich in Pakistan) gibt. Bei dem Versuch, diese Unterscheidung aufrechtzuerhalten, wurden mehr als 70.000 Pakistaner getötet - darunter 132 in einer von der Armee betriebenen Schule, die innerhalb weniger Stunden ermordet wurden. Das amerikanische Militär hat in 20 Jahren mehr als 2.300 Menschen verloren."

Der Iran könnte von der Lage in Afghanistan profitieren, weil Länder wie Deutschland nun mit dem Land verhandeln werden, um afghanische Flüchtlinge aufzunehmen. Bei solchen Verhandlungen sollten Menschenrechtsfragen im Iran zumindest angesprochen werden, fordert Gilda Sahebi in der taz. Es wäre "mindestens ein Signal an die Bevölkerung: Es stärkt sie, es stärkt die Opposition, vielleicht stärkt es auch den Widerstand. Die Menschen in Iran fühlen sich von westlichen Staaten im Stich gelassen. Sie haben keine Chance, gegen eine Regierung anzukommen, die nicht nur ungestraft, sondern auch ungestört ihre brutale Politik fortsetzen kann. Jede nicht ausgesprochene Kritik ist ein Signal an die Regierenden: Macht weiter wie bisher."

Der Autor Amir Hassan Cheheltan schildert in der FAZ zugleich die finstere Lage im Iran unter dem neuen Präsidenten Ebrahim Raisi, der einst für Tausende Hinrichtungen verantwortlich war. Die Coronakrise bewältigt das Regime jedoch nicht: "Landesweit verfügt kaum eine Intensivstation über genügend Betten, und Angehörige von an Covid-19 Erkrankten müssen sich erforderliche Medikamente mitunter auf dem Schwarzmarkt beschaffen... Auf einen großen Mangel an Impfstoffen deuten die Anstürme auf Impfzentren hin. Zur Eindämmung der Krise hatte der Gesundheitsminister ausdrücklich um einen zweiwöchigen Lockdown gebeten. Seine Bitte ging ins Leere. Eine erzwungene Einschränkung des öffentlichen Lebens würde auch bedeuten, dass die vielen Menschen, die darauf angewiesen sind, täglich zur Arbeit zu gehen, um ihr Brot zu verdienen, hungern müssten." Cheheltan schätzt die Zahl der Coronatoten im Iran bisher auf 200.000.
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Ideen

Katharina Raabe ist Lektorin bei Suhrkamp, Olga Radetzkaja ist Übersetzerin. Beide sind in ihrer täglichen Arbeit mit der Aufforderung konfrontiert, nun genderneutrale Sprache zu benutzen. In vielen Verlagen haben sich die neuen Formen bereits durchgesetzt. Beide betrachten diese Entwicklung allerdings in einem Wortwechsel im Perlentaucher mit großer Skepsis. Raabe sagt: "Es ist ein Sprachwandel 'von unten', der von bestimmten Communities mit einer emanzipatorischen Agenda ausgeht. Aber das Vorgehen als solches breitet sich rasant aus und vermittelt auch mir den Eindruck, Zeuge eines narcissistic turn der Sprache zu sein. Je mehr Gruppen sich innerhalb einer Sprache partikulare Regeln geben, desto größer die Gefahr, dass sich 'nichts mehr... mit einem Begriff umspannen' lässt, wie es im Chandos-Brief heißt, und die Empfindlichkeiten gegeneinander zunehmen. 'Die Sprache funktioniert als Sprache nur durch die Regeln, nach denen wir uns in ihrem Gebrauch richten', schreibt Wittgenstein. Dieses 'wir', das für eine Instanz über allen speziellen Communities stand, zerfällt vor unseren Augen."

Diese Bewegung setzt Sprache und Sein in eins, bemerkt Radetzkaja: "Als ungerecht empfundene Machtverhältnisse sollen nicht nur in der sozialen und politischen Realität korrigiert werden - denken wir an Black Lives Matter oder die MeToo-Bewegung -, sondern auch oder sogar zuerst in der Sprache. Aber anders als im politischen Raum, wo die Neuverteilung von Macht grundsätzlich Verhandlungssache ist, wird die Sprache von denen, die sie gerecht oder 'diskriminierungssensibel' gestalten wollen, letztlich einer radikalen Subjektivität überlassen: Wer außer mir sollte entscheiden können, ob ich 'in meinem So-Sein' gewürdigt wurde?"

Existiert das Böse überhaupt ohne das Zutun sozialer Medien?  Wohl kaum, meint Bernd Stegemann in einem Gespräch mit dem Journalisten Nils Markwardt, das Michael Angele für den Freitag moderiert: "Die Twitter-Debatten verwandeln den Widerspruch in ein Showcatchen. An der Lösbarkeit ist niemand mehr interessiert. Meine Kritik an Twitter und seiner Eskalationsdynamik ist, dass da ein toxischer Kommunikationsraum entsteht." Aber Markwardt antwortet: "Ich bin mir nicht sicher, ob das wirklich stimmt. Black Lives Matter und MeToo sind ja auch und vor allem aus Twitter entstandene Sozialbewegungen, die - siehe in den USA - sogar die Legislation verändert haben."

Der Politologe Volker M. Heins vertritt die Idee, dass die Staaten schlicht alle Grenzen für Migration öffnen sollten, die er im taz-Gespräch mit Tom Wohlfarth erläutert. Das Zuwanderung Rassismus schürt, will er nicht gelten lassen: "Schon gegen Ende des 19. Jahrhunderts vertraten Politiker in Kalifornien den Irrglauben, dass man den antichinesischen Rassismus am besten dadurch bekämpft, dass man keine Chinesen mehr ins Land lässt. Tatsächlich verlief die Entwicklung genau andersherum. Erst mit der massiven Ausweitung und Normalisierung der chinesischen Einwanderung verlor allmählich auch das antichinesische Ressentiment seinen politischen Stachel. Nur eine vielfältige Gesellschaft schützt vor Rassismus."
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Europa

Die erfolgreiche Demokratisierung der Ukraine muss vom Westen weiter unterstützt werden, fordern die Slawistin Stefanie Schiffer und ihr Kollege Gerhard Simon in der Welt - und das bis hin zur Aufnahme der Ukraine in die Nato: "Die Realisierung erscheint - deutschen politischen Willen vorausgesetzt - eher möglich als die EU-Erweiterung, wie ein Blick auf den Balkan zeigt. Eine erfolgreiche Einbindung der Ukraine in den Westen kann dazu beitragen, den russischen Revisionismus zu zügeln und den Westen zu stärken. Sie ist auch ein Ansporn für jene Kräfte in Russland und Belarus, die die Vision einer post-autokratischen Zukunft für ihre Länder nicht aufgegeben haben."
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Stichwörter: Ukraine, Belarus, Nato, EU-Erweiterung