9punkt - Die Debattenrundschau

Metamaterialien

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
13.11.2021. Während die Kölner und die Kölnerinnen mit ihren lustigen Hüten und geimpft Karneval feiern (für die SZ eine Episode in der Kulturgeschichte des Idiotentums), fordern in Welt und Berliner Zeitung letzte Kandidaten für die Intensivstation ein Ende der Impfdebatte. Österreich plant unterdessen einen Lockdown für Ungeimpfte. In Bosnien-Herzegowina lauert laut taz neue Kriegsgefahr. Wladimir Putin löst laut FAZ die Menschenrechtsgruppe "Memorial" auf. Und an der belarussischen Grenze erfrieren laut Caroline Fourest die Sieger über den Islamischen Staat.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 13.11.2021 finden Sie hier

Gesellschaft

Immerhin ist Karneval, zu dem die Kölner Bürgermeisterin Henriette Reker herzlich einlud, konstatiert SZ-Autor Hilmar Klute in "einer kleinen Kulturgeschichte des Idiotentums in Zeiten der Pandemie" trocken: "Gleich am ersten tollen Tag wälzte sich nun eine Masse von Tausenden, allesamt natürlich geimpft, genesen oder getestet, mit ihren lustigen Hüten durch die Zülpicher Straße in Frau Rekers Köln. Alle, und jetzt kommt der erste und letzte schlechte Karnevalsscherz, auf der Suche nach dem '3-G-Stirn'! Ja, wo isset denn? Nicht da, Prinz Sven Oleff hat Corona."

Warum gibt es im ländlichen Bayern Inzidenzen über 1.000? Ja, weil wir wir unter uns sind, und da kann doch nichts passieren. So in etwa schildert Patrick Guyton im Tagesspiegel die Atmosphäre im Berchtesgadener Land. Ein Bauer, den sie interviewt, will sich nicht impfen lassen, er traut der Sache nicht. "Die nicht sonderlich solidarische Methode des Bauern: 'Warten' bis genügend andere geimpft sind und es auf seine eigene Immunisierung nicht mehr ankommt. Dass auf dem Hof viel Durchlauf ist und oft Verwandtschaft vorbeikommt, stört nicht weiter. 'Ich bin doch nur hier, was soll mir da passieren?'"

Aber es sind auch noch Kandidaten für die Intensivstation publizistisch unterwegs. Die Welt lässt die ungeimpfte Sarah Wagenknecht schreiben: "Bei Corona fällt der Politik weiter nichts Besseres ein, als Ungeimpfte zu ächten und mit immer neuen Auflagen zu schikanieren. Dabei erkranken auch Geimpfte immer häufiger, die Wirkung der Vakzine lässt nach." Und in der Berliner Zeitung fordert Philipp von Becker "Schluss mit der Impfdebatte, zurück zur Vernunft": "Dass es nun im Winter wahrscheinlich ein Problem mit Krankenhauskapazitäten geben wird, hat weniger mit den Ungeimpften zu tun als vielmehr damit, dass a) die Impfung nicht hält, was behauptet wurde; b) eine völlig fehlgeleitete Politik alles auf die Impfung gesetzt hat und c) 4.500 Intensivbetten weniger als noch vor einem Jahr betriebsbereit sind." Mit anderen Worten: wir müssen nur die Kapazitäten für röchelnde Intensivpatienten vervielfachen, wo ist dann noch das Problem?

Der österreichische Bundeskanzler Alexander Schallenberg (ÖVP) bringt unterdessen Ausgangsbeschränkungen für Ungeimpfte ins Spiel, berichtet SZ-Korrespondentin Cathrin Kahlweit. "Er verstehe nicht, so Schallenberg, wieso sich die geimpfte Mehrheit von der ungeimpften Minderheit 'in Geiselhaft' nehmen lassen müsse. Österreich hat mit etwa 65 Prozent im europäischen Vergleich eine niedrige Impfquote und liegt mit einer Sieben-Tage-Inzidenz von etwa 760 weit vorn in der Negativ-Statistik. Zuvor hatte bereits die Regierung des besonders betroffenen Landes Oberösterreich entschieden, von kommender Woche an einen Lockdown für Ungeimpfte zu verhängen."

Jan Feddersen wendet sich in einem kleinen taz-Essay gegen die Formulierung "Spaltung der Gesellschaft", die in vielen Kontexten immer wieder auftaucht und letztlich nichts besage: "Da 'Gesellschaft' ein hochkompliziertes Gebilde ist, da sie eben keine 'Gemeinschaft' ist, kein familiäres Konstrukt, sondern arbeitsteilig, kommunikativ verwirrend uneinheitlich, multikulturell und multischichtenartig strukturiert, ist die Rede von ihrer Spaltung antipolitisch. Wer von Spaltung der Gesellschaft spricht, will über Interessengegensätze, möchte über Macht nicht reden."
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Wissenschaft

Mal was ganz anderes: Wolfgang Stieler erklärt dem geneigten Publikum bei heise.de, was "Metamaterialien" sind, Materialien, die komplex sind und sich paradox verhalten. Die ersten kommen zur Anwendung, etwa in den "Phononic Vibes". Ein "Spin-off der Polytechnischen Universität Mailand hat hochwirksame akustische Metamaterialien entwickelt, die in dünnen transparenten Schallschutzwänden oder Absorbern neben Schienen zum Einsatz kommen... Die Materialien enthalten ein periodisches Gitter mechanischer Resonatoren. Das Zusammenspiel von Trägermaterial und Resonatoren sorgt dafür, dass Schallwellen bestimmter Frequenzen sich in dem Material nicht ausbreiten können - sie werden gefangen." Der Effekt wird hier demonstriert, völlig zurecht mit der "Carmina burana", ab Sekunde 26 mit Ton (beziehungsweise ohne).
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Europa

In diesen Tagen droht Milorad Dodik, der starke Mann der serbischen Teilrepublik von Bosnien-Herzegowina, mit einer Quasi-Sezession. Dieser Schritt würde "26 Jahre internationaler Bemühungen einschließlich demokratischer und rechtsstaatlicher Reformen zunichtemachen und das Land zurück ins Chaos stürzen", fürchtet der Westbalkan-Experte Bodo Weber im Gespräch mit Erich Rathfelder von der taz. Und er hat mit dem Rückzug der Amerikaner aus der Weltpolitik zu tun: "Ab 2005 haben die Vereinigten Staaten die Führung an die EU abgetreten. Das hatte einen Strategiewechsel zur Folge: von einer Statebuilding- und Demokratisierungspolitik, also der Schaffung eines funktionalen Staates, hin zu einer Übertragung der Macht an die lokalen Eliten. Man hat den ethnonationalistischen Eliten also die Verantwortung für das Land quasi über Nacht vor die Füße gekippt. Die Eliten, allen voran Dodik, nutzen das aber seitdem, um interethnische Spannungen zu schüren. Der fehlende Wille von EU und USA zu einer politischen Korrektur, das Fehlen einer strategischen Politik, nähren seit 15 Jahren diese destruktive Dynamik."

Die Bundesrepublik Deutschland hat sich bei der Gelegenheit erstmal kopfüber in den Fettnapf gestürzt, berichtet Peter Münch in der SZ. Ausgerechnet der israelische Historiker Gideon Greif sollte in diesen Tagen das Bundesverdienstkreuz bekommen. Das führte zu schärfsten Protesten in Bosnien, denn Greif hatte einen Auftrag von Milorad Dodik aufgenommen, die Verbrechen gegen die Menschlichkeit der Serben zu "untersuchen". Natürlich kam er zum Ergebnis, dass das was in Srebrenica und anderen Orten geschah, kein Völkermord war: "Ich bin jüdisch, ich weiß was Genozid bedeutet,", zitiert ihn Münch, "und dies war kein Genozid, in keinem Fall." Und nun "hat sich in der israelischen Zeitung Haaretz auch die bosnische Außenministerin Bisera Turković zu Wort gemeldet mit der Warnung, dass eine deutsche Ordensverleihung an einen Leugner des Srebrenica-Genozids zur 'Destabilisierung des gesamten westlichen Balkans' beitragen könnte. In Berlin herrscht nun erst einmal Ratlosigkeit."

Ein Kommentar von Caroline Fourest zur Lage an der belarussisch-polnischen Grenze: "Zu sehen, wie Kurden, die gelitten haben, um den Islamischen Staat zu besiegen und die schon von Trump den Bomben Erdogans ausgeliefert wurden, nun zynisch von Belarus und seinem russischen Verbündeten instrumentalisiert werden... Um die prorussische Rechte zu stärken, die sie als Bedrohung darstellt. Ekel."


Memorial, Russlands älteste und renommierteste Nichtregierungsorganisation, soll aufgelöst werden, berichtet FAZ-Korrespondent Friedrich Schmidt. Am 25. November soll das Oberste Gericht über einen entsprechenden Antrag der Regierung entscheiden. Vorwand für die Auflösung ist der Vorwurf, Memorial habe gegen die Statuten als "ausländischer Agent" verstoßen. Schmidt deutet die drohende Auflösung so: "Die Ende der Achtzigerjahre im Ringen um ein Mahnmal (Memorial) für die Opfer des Sowjetterrors entstandene Organisation steht dem in den vergangenen Jahren immer aggressiver beanspruchten Geschichtsmonopol des Staates im Weg. Präsident Wladimir Putin fungiert als Chefhistoriker, die Geheimdienste verstehen sich als stolze Erben von NKWD und KGB. An die Opfer des 'Repressionen' genannten Staatsterrors darf zwar erinnert werden, Putin selbst eröffnete vor vier Jahren ein Denkmal für sie im Zentrum Moskaus; doch die Mörder sollen nicht kritisiert werden, unerkannt bleiben."

Die Meldung von der Memorial-Auflösung sollte auch die westlichen Öffentlichkeiten aufschrecken, schreibt Jan Behrends bei den Salonkolumnisten, "da in Moskau innenpolitische Repression und außenpolitische Aggression zwei Seiten derselben Medaille sind. Die Radikalisierung des Regimes findet nicht nur in Russland statt, das längst wieder hinter einem Eisernen Vorhang verschwindet. Nein, diese Verschärfungen zeigen sich auch an der Grenze der EU zu Belarus, im Luftraum über dem Baltikum und Schwarzen Meer, in Syrien und im Donbas, in den Fake News der Staatsmedien, die auch uns erreichen, in all den konzertierten Versuchen zur Destabilisierung offener Gesellschaften, die wir täglich erleben."

Das FAZ-Feuilleton eröffnet eine Artikelserie mit Betrachtungen zum Ende der Merkel-Ära. Ihren Führungsstil beschreibt Jürgen Kaube im Editorial so: "Angela Merkel hatte sich früh dafür entschieden, eigene, weichere Fassungen dessen anzubieten, worauf ihre politischen Gegner in der Mitte des Parteienspektrums hinauswollten. Das nahm jeder Gegnerschaft die Möglichkeit zur Schärfe oder trieb das Bedürfnis nach scharfer Gegnerschaft oft in die Bereiche von Ressentiment und sachfremdem Daherreden." Wie die Serie gestaltet sein soll und wer schreibt, verrät Kaube nicht.
Archiv: Europa

Ideen

In der NZZ denkt Benedict Neff über die Bilder von der Grenze zwischen Belarus und Polen nach: Können die Deutschen sie auf Dauer aushalten? Wer veröffentlicht sie und mit welchem Interesse? Was genau sieht man eigentlich, was ist echt, was inszeniert? Etwa bei dem Jungen, dem ein anderer Migrant Zigarettenrauch in die Augen bläst. Damit er weint, wenn er gefilmt wird? "Die Tatsache allerdings, dass die Szene von Migranten selbst gefilmt worden scheint, spricht nicht für diese These. Bild mutmaßt, der Rauch diene der Neutralisierung von Tränengas, das der Junge erwischt haben mochte. So oder so veranschaulichen die Interpretationen, wie schwierig auch die Bilder und Videos von der weißrussisch-polnischen Grenze zu deuten sind. Die Migranten medialisieren sich mit ihren Smartphones, sie werden von der weißrussischen Seite und von der polnischen Seite gefilmt und aus der Luft. Aber es fehlt der unabhängige Blick, vieles bleibt rätselhaft. Das Perfide der Bilder ist: Es macht keinen großen Unterschied, ob man das Kalkül dahinter versteht oder nicht. Auch wenn man die Strategie von Lukaschenko versteht, es bleibt das Dilemma zwischen der Pflicht zum humanitären Handeln und der politischen Vernunft, das menschenverachtende Spiel nicht mitzumachen."
Archiv: Ideen
Stichwörter: Belarus, Polen, Flüchtlingskrise