9punkt - Die Debattenrundschau

Eine unangenehme Aussicht

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
03.03.2022. Putin ist in seiner Kriegsführung inzwischen bei Plan C angelangt, schreibt der Oxforder Militärhistoriker Lawrence Freedman in seinem Substack-Blog - will er wirklich einen Krieg in den Städten? Masha Gessen hält sich gerade in Moskau auf. Im New Yorker schildert sie das unbekümmerte Treiben einer Bevölkerung, die über den Krieg nicht informiert ist. Putin ist durch Krieg zu dem geworden, den wir fürchten, hoffen wir, dass dieser Krieg sein Untergang ist, schreibt Jonathan Littell im Guardian.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 03.03.2022 finden Sie hier

Europa

Tag 8 in Putins Krieg. "Mariupol nach Luftangriffen ohne Wasser, Heizung und Strom", meldet Spiegel online in seinem Liveblog. Viele ukrainische Städte standen über Nacht unter massivem Beschuss, meldet der Guardian in seinem Protokoll der Ereignisse.

In der taz erzählt der Charkiwer Igor Solomadin vom Leben in einer U-Bahn-Station, während die Stadt beschossen wird: "Mittlerweile ist Tag sechs seit Beginn des russischen Angriffs. Zum Glück funktioniert das Internet noch und ich habe endlich einen erträglichen Ort für mein Nachtlager gefunden. Inmitten dieser Menschenmenge, zusammengepfercht in einer U-Bahn-Station in einem Schlafviertel einer 1,5-Millionen-Einwohnerstadt, fängst du an zu begreifen: Das frühere Leben ist vorbei. Aber ich bin überzeugt von unserem Sieg. Das ist jedoch eine Frage der Zeit und des Preises, den wir dafür bezahlen müssen." Ähnliches berichtet Anastasia Magasowa aus Kiew: "Am Dienstag, dem zweiten Tag nach meiner Ankunft in Kiew, zeigen sich schon bestimmte Gewohnheiten. Kaum dass ich morgens die Augen geöffnet habe, greife ich als Erstes zum Telefon und kontaktiere Freunde und Angehörige, um zu hören, wie sie die Nacht verbracht haben. Danach müssen unbedingt alle Telegram-Kanäle und Websites gecheckt werden."

Auch viele Europäer haben die Ukraine als "tief gespaltene" Gesellschaft beschrieben, in der sich Nationalisten und Russischstämmige unversöhnlich gegenüber stehen. Das ist Unsinn, erklärt der ukrainische Historiker Andrii Portnov in der NZZ: "Ich bin im Südosten der Ukraine, in der Stadt Dnipro, in einer russischsprachigen Familie aufgewachsen. Ich habe als Teenager Ukrainisch gelernt, und diese Sprache ist auch zu meiner Muttersprache geworden. Die jüdische Kultur (Dnipro war und wird ihr wichtigstes Zentrum bleiben) sowie die polnische Sprache und Literatur sind mir nicht unbekannt. Mein Leben in der Ukraine war also von einer Vielfalt an sprachlichen und kulturellen Erfahrungen geprägt. Diese Vielfalt wird leider allzu oft als Fluch verstanden - als eine Vielfalt, die auf Kosten des Zusammenhalts gehe. Das Gegenteil ist aber der Fall. Die Vielfalt in der Ukraine (auch die religiöse gehört dazu) fördert den politischen Pluralismus und hat wohl auch den Machtwechsel in der Ukraine beschleunigt."

Mit einer gewissen Bitterkeit kommentiert der Künstler Pawlo Makow im Interview mit der NZZ die Überraschung des Westens über den Angriff auf die Ukraine: "Im Westen war niemand vorbereitet, und niemand konnte sich das vorstellen, weil sich bereits 2008 niemand wirklich für den Krieg und die Annexion in Georgien interessiert hat. 2014 glaubte man, bei der Annexion der Krim handle es sich um einen kleinen Konflikt irgendwo weit weg. Und niemand kam auch nur annähernd auf die Idee, dass die Einnahme von Donezk und Luhansk durch die Russen den Beginn eines großen Kriegs bedeuten könnte. ... Wir leben in unserem Land schon seit acht Jahren im Krieg. Deshalb sind wir daran gewöhnt und fürchten uns nicht. In den vergangenen Jahren haben wir bereits 15 000 Soldaten verloren."

Putin ist durch Krieg zu dem geworden, den wir fürchten. Hoffen wir, dass dieser Krieg sein Untergang ist, schreibt Jonathan Littell in Le Monde und im Guardian. Den Weg zu seinem Desaster hat ihm auch der stets zurückweichende Westen gepflastert: "Er sah, dass Sanktionen zwar weh taten, aber nicht tief saßen und es ihm ermöglichten, sein Militär weiter auszubauen und seine Macht zu vergrößern. Er sah, dass Deutschland, die größte Wirtschaftsmacht in Europa, nicht bereit war, sich von seinem Gas und seinen Märkten abzukoppeln. Er sah, dass er europäische Politiker, darunter ehemalige deutsche und französische Premierminister, kaufen und in die Vorstände seiner staatlich kontrollierten Unternehmen einsetzen konnte. Er sah, dass selbst Länder, die sich nominell gegen seine Schritte stellten, immer noch das Mantra der 'Diplomatie', des 'Reset' und der 'Notwendigkeit, die Beziehungen zu normalisieren' wiederholten. Er sah, dass der Westen jedes Mal, wenn er Druck ausübte, einknickte und dann kriecherisch zurückkam, in der Hoffnung auf einen immer schwer fassbaren 'Deal': Barack Obama, Emmanuel Macron, Donald Trump - die Liste ist lang."

Putin ist in seiner Kriegsführung inzwischen bei Plan C angelangt, schreibt der Oxforder Militärhistoriker Lawrence Freedman in seinem Substack-Blog. Die widerstandlose Eroberung ist ihm missglückt, der 60-Kilometer-Konvoi zur Eroberung Kiews blieb im Stau stecken. Bleibt die schlimmste Version: "Artillerie kann auf brutale Weise als Instrument der städtischen Kriegsführung eingesetzt werden, um die Verteidiger zu demoralisieren, Verteidigungsstellungen zu beseitigen und Angriffswege zu schaffen. Aber wir wissen von Stalingrad bis Grosny, dass Verteidiger auch inmitten von Trümmern kämpfen können. Selbst in diesem verzweifelten Stadium bleiben städtische Gebiete eine Herausforderung für Invasionstruppen. Einheiten können sich in den Straßen der Städte verirren und isoliert werden, und es ist schwierig, zuverlässige Informationen zu erhalten. Wenn die russischen Kommandeure ihre Verluste gering halten wollen, ist dies eine unangenehme Aussicht."

Masha Gessen, Autorin von "Autokratie überwinden", hält sich gerade in Moskau auf. Im New Yorker schildert sie das unbekümmerte Treiben einer Bevölkerung, die von den zensierten Medien so gut wie gar nicht über den Krieg informiert wird. Und noch haben sich auch die Sanktionen kaum ausgewirkt: "Taxis, Carsharing-Fahrzeuge und Boten auf Rollern und Fahrrädern - all die sichtbaren Zeichen des Moskauer E-Commerce und des Cyber-Komforts - waren vor Ort, auch wenn aus- und inländische Kreditkarten gelegentlich versagten. Am Abend wartete eine lange Schlange modisch gekleideter junger Leute auf einen Cappuccino in einem Café im Flacon, einer von mehreren Industriebauten in der Stadt, die zu gewerblichen Zwecken umgewandelt worden waren. Ein Barista verkündete immer wieder fröhlich, dass Apple Pay, Google Pay und MasterCard nicht funktionieren, Visa aber willkommen sei. Tatsächlich waren Apple Pay und Google Pay seit dem Inkrafttreten der ersten großen Sanktionstranche eingeschränkt, aber einige der Kunden des Cafés schienen das nicht zu wissen."



Ein wichtiges Detail der putinschen Kriegsführung erwähnt der Russland-Korrespondent der FAZ, Friedrich Schmidt, in einem Artikel über die einfachen russischen Soldaten, die über den bevorstehenden Krieg nicht informiert wurden: "Russlands Soldaten dürfen seit den Erfahrungen von 2014 und 2015, als ihre Einträge in den sozialen Medien Einblicke in Russlands verdeckten Krieg im Donbass gewährten, keine Smartphones mehr in den Einsatz mitnehmen. "

Außerdem: Stephan Wackwitz freut sich in der taz, dass die deutsche Gesellschaft den "liberal pragmatism" neu lernt: "Die gerade erst ins Amt gekommene deutsche Regierung und auch die Opposition hatten ein Rendezvous mit der Geschichte des Totalitarismus." Sylvia Sasse resümiert bei geschichtedergegenwart.ch, wie sich ukrainische Schriftsteller seit 2014 mit dem Krieg auseinandersetzen. Und fürs Protokoll: China bat Russland, mit dem Krieg bis nach den Olympischen Spielen zu warten, meldet die New York Times.
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Ideen

Im Interview mit der NZZ spricht Christiane Hoffmann über ihr Buch "Alles, was wir nicht erinnern. Zu Fuss auf dem Fluchtweg meines Vaters", in dem sie von der Flucht ihres Vaters aus Schlesien erzählt und seinen Weg nachgeht. Vertreibung, Flucht, Exil ist etwas, das Menschen verbindet, egal, aus welchem Land sie kommen, erklärt sie. Und sie kann auch politisch ausgenutzt werden: "In den Vertriebenenverbänden waren die revisionistischen Tendenzen lange stark. Das heißt, es war für Menschen, die gar nicht revisionistisch dachten wie meine Eltern, noch einmal besonders schwer, einen eigenen Weg zu finden, ihr Schicksal zu begreifen. Das sehen wir bis heute zum Beispiel in der Palästinenser-Frage: Es lohnt sich manchmal, Flüchtlinge nicht ankommen zu lassen, weil sie politisch instrumentalisiert werden können. Dieses Phänomen hat man auch in Deutschland gesehen; die Vertriebenen waren potenzielle Wähler, und indem man ihnen Hoffnung machte, dass sich vielleicht doch noch einmal etwas ändert, wollte man sie als Wähler gewinnen; das war nach dem Krieg praktisch in allen Parteien der Fall. Nach der Ostpolitik rückte diese Diskussion immer stärker in die rechte Ecke."
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Medien

Gerhard Schröder war viele Jahre dem Ringier Verlag verbunden. Um so auffälliger, dass jetzt das Ringier-Medium Der Blick Schröder für seine Putinanhänglichkeit kritisiert hat, bemerkt Lucien Scherrer in der NZZ. Schröder "ist seit 2006 auch Berater im Dienste des Ringier-Konzerns, der den Blick herausgibt und weltweit in 18 Ländern tätig ist - darunter in osteuropäischen Staaten wie Polen, Lettland und Litauen, wo deutsch-russische Freundschaften aus historischen Gründen besonderes Misstrauen auslösen. Die Angst, von der Altlast Schröder kontaminiert zu werden, ist bei Ringier offenbar so groß, dass man die Zusammenarbeit am 1. März offiziell sistiert hat. ... Weitere Fragen will die Ringier-Medienstelle nicht beantworten - und so bleibt offen, ob es Bedingungen für eine weitere Zusammenarbeit gibt. Oder warum die Kooperation nicht bereits beendet wurde, als Putin 2014 die Krim annektieren ließ und Schröder das später faktisch rechtfertigte".
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