9punkt - Die Debattenrundschau

Eine Vorher-Nachher-Analyse

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
05.04.2022. Nun beginnt der Kampf für die Wahrheit und gegen die Lügenfabriken der russischen Regierung, die die Bilder von Butscha in Zweifel ziehen. Die New York Times und Bellingcat weisen nach, dass die Leichen von Butscha schon vor dem Abzug der russischen Truppen auf den Straßen der Stadt lagen. Und dass sie tot waren. Es ist auch ein Moment europäischer Selbstreflexion, bsonders nach dem schändlichen Ausgang der ungarischen Wahlen, über den etwa Timothy Garton Ash im Guardian schreibt. In der taz erinnert Erich Rathfelder an ein Grundmuster für die Kriege nach dem Mauerfall - und die Reaktionen der europäischen Öffentlichkeit.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 05.04.2022 finden Sie hier

Europa

Jetzt beginnt der Kampf für die Wahrheit und gegen die Lügenfabriken der russischen Regierung, die die Bilder von Butscha in Zweifel ziehen. Ein Artikel des "Visual Investigations Teams" der New York Times zeigt, dass die Leichen von Butscha entgegen den Behauptungen der russischen Desinformanten, sie seien dort erst nach Abzug der russischen Truppen platziert worden, schon seit Tagen auf den Straßen lagen: "Um festzustellen, wann die Leichen aufgetaucht sind und wann die Zivilisten wahrscheinlich getötet wurden, führte das Visual Investigations-Team der Times eine Vorher-Nachher-Analyse von Satellitenbildern durch. Die Bilder zeigen dunkle Objekte von ähnlicher Größe wie menschliche Körper, die zwischen dem 9. und 11. März in der Yablonska-Straße auftauchen. Die Objekte erscheinen genau an den Stellen, an denen die Leichen gefunden wurden, als die ukrainischen Streitkräfte Bucha zurückerobert hatten, wie die Aufnahmen vom 1. April zeigen. Weitere Analysen zeigen, dass die Objekte über drei Wochen lang an diesen Positionen blieben."

Eliot Higgins zeigt in seinem Recherche-Magazin Bellingcat, wie Behauptungen entkräftet wurden, die Leichen würden sich in den Videos noch bewegen. Eine wichtige Rolle spielte bei diesen Nachweisen der BBC-Reporter Shayan Sardarizadeh (folgen). Auch Open-Source-Forscher wie Benjamin Strick (folgen) trugen Nachweise bei, etwa diesen:


In einem Artikel für den Guardian betont Higgins, wie wichtig diese Open-Source-Forscher sind, die Bellingcat in vielen Recherchen Hinweise gaben. Die Desinformation kommt aus dem Netz, wo sich verschworene Communities bilden, so Higgins, aber auch das Gegengift. Ein bloßes Fact Checking der großen Medien reiche nicht aus: "In den meisten Fällen werden sie diskreditiert und mit dem Hinweis abgetan: 'Sie sagen doch genau das, was man denkt, oder' Die Factchecking-Redaktionen mögen gute Arbeit leisten, aber es fehlt ihnen eine entscheidende Komponente: die Macht der Masse. Denn neben den kontrafaktischen Gemeinschaften haben sich zu bestimmten Themen auch Gemeinschaften gebildet, die man als wahrheitssuchend bezeichnen könnte."

Die Fakten werden übrigen von zahlreichen Reportern bestätigt, die nach der Veröffentlichung der Videos nach Butscha gefahren sind. Aus Butscha und Hostomel berichtet für die taz Anastasia Magasowa. Ein apokalyptisches Bild: "Die russischen Truppen sind nun schon vor einigen Tagen aus Butscha abgezogen. An ihre Anwesenheit erinnert nicht nur zerstörtes Kriegsgerät, sondern auch Leichen russischer Soldaten. Da liegen sie, auf den Bürgersteigen, nur 26 Kilometer vom Zentrum Kiews entfernt, und das schon seit einigen Wochen. Während dieser Zeit haben sie nicht nur angefangen zu verwesen, sondern auch Hunde sind über sie hergefallen. Das ukrainische Militär schafft es derzeit nicht, die von Russen getöteten Zivilist*innen oder die gegnerischen Soldaten von den Straßen zu entfernen."

Reinhard Veser verweist in der FAZ auf einen finsteren Kommentar des Publizisten Timofej Sergejzew in der staatlichen russischen Nachrichtenagentur Ria Nowosti, der zwar nicht unbedingt Putins Meinung wiedergebe, sich aber im Rahmen des von ihm Erlaubten bewege. Hier zeigt sich, so Veser, dass sich der Diskurs der russischen Regierung gegenüber der ukrainischen Bevölkerung im Lauf der blamabel laufenden "Sonderoperation" radikal gewandelt habe. Putin hatte zu Beginn beteuert, der Krieg richte sich nicht gegen die ukrainische Bevölkerung. Nun heißt es in Sergejzews Kommentar: "Die Entnazifizierung wird unvermeidlich auch eine Entukrainisierung sein." Und Veser weiter: "Den Kommentar zeichnet nicht nur an dieser Stelle eine offene Sprache aus. Die weitere Entnazifizierung der 'Bevölkerungsmasse besteht in einer Umerziehung, die durch ideologische Repressionen der nazistischen Einstellungen und eine harte Zensur erreicht wird'. Diese Zensur müsse auch für Bildung und Kultur gelten. Man müsse damit rechnen, dass das mindestens eine ganze Generation dauere." Über Sergejzews (andere Schreibweise Sergeitsev) Artikel berichten mit ausführlichen Zitaten auch Benjamin Reuter Christopher Stolz im Tagesspiegel. Bei Medium ist der ganze Artikel in englischer Übersetzung zu lesen, hier das Original.

Berthold Kohler plädiert im Leitartikel der FAZ gegen ein Energieembargo, aber für die Lieferung schwerer Waffen an die Ukraine. Etwas anders akzentuiert Stefan Kornelius in der SZ: "Wenn aber die Abkoppelung von Russland das Ziel ist, wenn der Westen in dieser Auseinandersetzung die ökonomische Isolation Russlands erreichen will, dann wird die Frage nach dem raschen Stopp von Gas- und Öl-Importen nicht nur erlaubt sein, sondern in aller Komplexität auch beantwortet werden müssen - am besten im Parlament."

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat in einem Pressegespräch, über das unter anderem die FAZ in ihrem Aufmacher berichtet, grundsätzliche Selbstkritik geäußert: "Mein Festhalten an Nord Stream 2, das war eindeutig ein Fehler... Wir haben an Brücken festgehalten, an die Russland nicht mehr geglaubt hat und vor denen unsere Partner uns gewarnt haben."

Emblematisch wurde gestern bei Twitter diese Gegenüberstellung zweier Aufnahmen Selenskis, die vom selben Fotografen im Abstand von 41 Tagen gemacht wurden.


Außerdem: Der Politologe Michael Jonas legt in einem Artikel für das FAZ-Feuilleton dar, dass es für die Ukraine nur die Perspektive gebe, "entweder dauerhaft neutral oder dauerhaft geteilt" fortzuexistieren. Eddy Wax warnt bei politico.eu vor einer Hungersnot in der Ukraine, und womöglich darüberhinaus, in Folge des Krieges.

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Viktor Orban hat bei den ungarischen Wahlen 53 Prozent der Stimmen gewonnen und kann mit Zweidrittelmehrheit regieren. "Der seit 2010 regierende Orbán wird, so fürchten Beobachter, den Rechtsstaat weiter demontieren", schreibt Ralf Leonhard für die taz. "Als Vorbilder hat er China, Russland und die Türkei genannt. Opposition und Zivilgesellschaft haben immer weniger Möglichkeiten, sich zu artikulieren. 'Viele von Orbáns Reformen tragen den Stempel Putins', sagt der Historiker Krisztian Ungváry. Russlands Präsident ließ es sich am Montag nicht nehmen, Orbán zu gratulieren. " Immerhin könnte die EU jetzt tatsächlich demnächst Rechtsstaatsmechanismus auslösen, erläutert Eric Bonse in einem zweiten Artikel: "Ungarn könnte sogar allein an den Pranger gestellt werden - und nicht zusammen mit Polen, wie bisher geplant. Zwar hat Brüssel auch gegen Warschau genug Material gesammelt, das Verstöße gegen den Rechtsstaat belegen soll. Doch im Ukraine-Krieg ist eine neue Lage entstanden. Orbán hat sich mit Polen verkracht - und steht plötzlich allein da."

Timothy Garton Ash notiert im Guardian: "Es ist eine bittere Ironie, dass gerade jetzt, wo wir von einigen der schlimmsten Gräueltaten im Terrorkrieg des russischen Präsidenten Wladimir Putin gegen die Ukraine erfahren, Putins engster Verbündeter unter den EU-Staats- und Regierungschefs, der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán, wiedergewählt wird, auch weil er eben diesen Krieg zu seinem eigenen politischen Vorteil genutzt hat." Nicht  nur gegen Russland, auch gegen Ungarn muss die EU scharfe Maßnahmen ergreifen, fordert TGA.

Außerdem: Zynismus, Bauernschläue, Dreistigkeit zeichnen Orban aus und machen ihn bei der ungarischen Landbevölkerung so beliebt, schreibt Terezia Mora in einer Reflexion über die ungarischen Wahlen in der SZ.

Vor dreißig Jahren begannen die Kriege im ehemaligen Jugoslawien und vor allem gegen Bosnien-Herzegowina. Die Linke reagierte damals ebenso hilflos bis perfide wie heute beim Ukrainekrieg, erinnert sich Erich Rathfelder in der taz: "Der Krieg und die Verbrechen in Bosnien waren eine menschliche und intellektuelle Herausforderung, der viele Linke in Deutschland nicht gewachsen waren. Was waren vor dreißig Jahren alles für Theorien herumgeschwirrt, die den Blick auf die wirklichen Ereignisse und Verantwortlichkeiten im Jugoslawien- und Bosnienkrieg verstellten. Da war zunächst einmal die unselige Diskussion über die Schuld der Deutschen am Krieg in Jugoslawien. Heute kann kein ernsthafter Mensch mehr diesen Unsinn unterstützen. Ein beträchtlicher Teil aus dem Lager der Antiimperialisten und Antideutschen begann, sich mit Serbien und Slobodan Milošević zu identifizieren. Sie versuchten so wie Peter Handke die serbischen Verbrechen in Bosnien zu relativieren oder gar zu leugnen."
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Gesellschaft

Nach der Diskussion über die Impfpflicht, die irgendwie passé zu sein scheint, kommt die Diskussion über die Wehrpflicht - oder, in einem zivileren Verständnis - über die "Dienstpflicht". Die beiden CD-Poltiker Christian Baldauf und Manuael Hagen, schildern sie als in der Welt einen Dienst an der Allgemeinheit, "mit dem junge Männer und Frauen für die Sicherheit und Freiheit unseres Landes und den Zusammenhalt unserer Gemeinschaft einstehen. Bei der Bundeswehr, als Staatsbürger in Uniform, die dem militärischen Schutz unseres Landes dienen und als Reservisten einen schnellen Personalaufwuchs in Krisenzeiten ermöglichen. Bei Feuerwehr, THW oder anderen Blaulichtorganisationen, die die Widerstandsfähigkeit unseres Landes gegen zivile Krisen und Naturkatastrophen, aber auch gegen militärische Bedrohungen stärken. Oder im sozialen Bereich wie etwa der Pflege, wo sie sich um die diejenigen kümmern, die auf die Hilfe anderer angewiesen sind und so den sozialen und menschlichen Zusammenhalt unserer Gesellschaft bewahren."
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