9punkt - Die Debattenrundschau

Die Erben des Tyrannen

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
10.05.2022. Putins Rede zum "Tag des Siegs" offenbart seine Ratlosigkeit, kommentieren taz und FAZ. In der taz beschreibt der Aktivist Alexey Sakhnin Putins Krieg als Flucht nach vorn eines intern maroden Regimes. Putin hat schon verloren und wird den Krieg nicht überleben, annonciert Boris Groys in der FR. Wer oder was kommt nach Putin, fragen auch andere Medien. Am Beispiel der Stadt Luzk in der Westukraine beschreibt Juri Konkewitsch in der taz, wie ein Gedenken ein anderes begraben kann. hpd.de und Zeit online schildern den Rollback in Afghanistan.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 10.05.2022 finden Sie hier

Europa

Wladimir Putins Rede zum "Tag des Sieges" war zum allgemeinen Erstaunen doch eher zahnlos. Klaus-Helge Donath deutet sie in der taz als ein Dokument der Ratlosigkeit: "Russlands Kriegsziele schrumpfen zusammen. 'Entmilitarisierung' und 'Entnazifizierung' waren ohnehin nur Hirngespinste, mit denen Putin die Wiederholung des ruhmreichen Sieges über Hitlerdeutschland simulieren wollte. Auch der Westen erlag der Putin'schen Propaganda. Seit zehn Jahren wird die russische Armee reformiert, umgebaut und neue Superwaffensysteme werden gefeiert. Doch gibt es diese überhaupt?" Hier der Bericht von Inna Hartwich.

Ähnlich sieht es Reinhard Veser in der FAZ. Aber was nun? "Putin hat Russland mit diesem Krieg in eine Sackgasse geführt. Ob er selbst noch die Autorität zu einer Kehrtwende hätte, ist zweifelhaft."

Gewiss, Putin hat seinen Drohungen nichts draufgesetzt. Erleichtert ist Sonja Zekri in der SZ deswegen nicht: "Wenn er behauptet, die Soldaten und Milizen im Donbass kämpften dafür, 'dass niemand die Lehre des Zweiten Weltkrieges vergisst', dass Frauen und Kinder vor dem 'barbarischen Beschuss durch Neonazis' - also: Ukrainer - geschützt würden, dann wird die Zerstörung ukrainischer Städte zur Vollendung des sowjetischen Sieges über Hitlerdeutschland. Das ist reine Kriegspropaganda, das Ende der Erinnerung, das Ende des Gedenkens. Dieser 9. Mai ist das Symptom einer Selbstverhärtung, der eingeübten Autoaggression eines imperialistischen Staates, der sich um das Wohl seiner eigenen Bürger nicht viel mehr schert als um das seiner Feinde."

Der Krieg in der Ukraine ist schon verloren, glaubt der in New York lebende russische Philosoph Boris Groys im Interview mit der FR, und Putin "wird nicht überleben. Historisch betrachtet hat noch nie jemand in Russland überlebt, der einen Krieg verloren hat", so Groys. "Deshalb wird er die Repression im Land wesentlich verstärken. Ich glaube, das ist ausgemacht. Wenn der Krieg endet - und alle in Russland glauben, dass er relativ bald enden wird - beginnt die Ära der politischen Repression. Das juristische Gerüst dafür ist schon da. Die Verfolgung funktioniert über den Begriff des 'ausländischen Agenten'. Der Straftatbestand wurde bereits auf das Umfeld des sogenannten Agenten ausgeweitet, so dass es praktisch jeden treffen kann."

Für Putin wird es ungemütlich, glaubt auch Martin Wagner in der NZZ. Denn wie sicher kann ein Diktator sein, der abtritt - oder abtreten muss? "Anders als die KPdSU verfügt die Kreml-Partei 'Einiges Russland' nicht über Verfahren oder Normen, die einen Machttransfer regulieren könnten. Zwar sind ihre Gremien nach dem Vorbild der kommunistischen Machtpartei entworfen, denen zentrale Figuren der putinschen Phalanx angehören. Aber nicht zuletzt die Rochaden zwischen Putin und Dmitri Medwedew der Jahre 2008, 2012 und 2020 legen nahe: Die einzigen Normen im Kreml sind personalisierte Loyalität und informelle Absprachen. Indes eine Erfahrung teilen Stalins und Putins Gefolgsleute - persönliche Demütigung. Die Erben des Tyrannen duldeten keinen neuen Stalin, weil sie sich nicht mehr erniedrigen lassen wollten. Es ist diese Erfahrung, die auch Putins Erben miteinander aussöhnen könnte."

Der Krieg wurde für Putin auch durch die wirtschaftliche Stagnation erzwungen, in die er das Land geführt hatte, schreibt Alexey Sakhnin, Aktivist der Anti-Putin-Protestbewegung, in der taz. Das auf Korruption und Vetternwirtschaft beruhende System der Symbiose von Oligarchen und Staatsapparat habe das Land komplett ausgeblutet: "Die Korruption verschlang jährlich Summen, die vergleichbar mit dem gesamten russischen Haushalt sind." Es blieb nur die Flucht nach vorn: "Um die Loyalität der 'Vasallen' im In- und Ausland aufrechtzuerhalten, bediente sich Russland nicht nur der üblichen Korruption, sondern zunehmend auch der Androhung oder Anwendung von Gewalt. Es bildete sich eine 'Partei des Krieges', die den Ausweg aus der Sackgasse darin sah, den Westen dazu zwingen, den 'politischen Markt' der postsowjetischen Länder zu verlassen. Die nach außen gerichtete Gewalt erschien als das perfekte Mittel, um Unruhen innerhalb Russlands zu verhindern."

Nach wie vor werden nach dem russischen Abzug in Kiew Massengräber gefunden, berichtet Christopher Miller bei politico.com: "Die meisten mutmaßlichen Kriegsverbrechen wurden in den Vorstädten von Bucha, Hostomel, Irpin und Borodyanka außerhalb von Kiew verzeichnet, wo zuerst große Massengräber auftauchten. Aber auch in den kleineren Dörfern dazwischen wurden ähnliche Gräueltaten verübt; viele Gräber werden erst jetzt geöffnet."

Viele Flüchtlinge kehren zurück, schreibt Andrej Kurkow in einer Momentaufnahme des Kriegs in der FAZ. Die Zahl der Rückkehrer nach Kiew schätzt er auf 30 bis 40.000 am Tag: "Auf den passierbaren Zufahrtsstraßen staut sich der Verkehr. Autobesitzer erkennen jedoch rasch, dass sie auf Fahrräder oder Elektroroller umsteigen müssen. Es gibt viele Straßensperren in der Stadt, vor jeder bilden sich lange Staus. Autofahrer müssen ständig anhalten, ihre Papiere vorzeigen, den Kofferraum öffnen, Fragen beantworten. Fahrrad- oder Rollerfahrer bleiben unbehelligt."

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Noch eine "Zeitenwende". Als solche beschreibt Gina Thomas in der FAZ den Sieg von Sinn Fein bei den nordirischen Wahlen. Unionisten, die eine Vereinigung mit der Republik ablehnen, beharren, dass diese nach wie vor unmöglich sei. Wäre sie überhaupt zu bewerkstelligen? "Der emeritierte Politikwissenschaftler Arthur Aughey, einer von mehreren Akademikern und Politikern, die die intellektuellen Argumente für eine Vereinigung in dem Essayband 'The Idea of the Union' beredt formulieren, hat von der riesigen und womöglich unmöglich zu lösenden Aufgabe gesprochen, Nationalisten davon zu überzeugen, dass die Union, kommunale Zusammenarbeit und offene Anerkennung der engen kulturellen Verbindungen zwischen Irland und Großbritannien der Realität eher entsprächen als eine weiterhin getrennte Inselrepublik."
Archiv: Europa

Internet

Die Zeitungen haben dem von der EU geplanten Digital Services Act bisher applaudiert - von Welt und FAZ bis zur taz, die SZ sowieso. Und das, obwohl der finale Text des DSA noch gar nicht bekannt ist. Inzwischen wird aber auch Kritik laut, berichtet Christian Meier in der Welt. Zeitungsverleger befürchten, dass die digitalen Plattformen vom DSA ermächtigt werden, ihre eigenen Kommunikationsstandards aufstellen und dann legal auch presserechtlich zulässige Beiträge entfernen dürfen. "Die EU legitimiere so die private Zensur durch Plattformen, die als Verbreiter journalistischer Inhalte mittlerweile unverzichtbar geworden seien. Dies wäre ein deutlicher Unterschied zur analogen Welt. In Deutschland vertreibt das Presse-Grosso gedruckte Zeitungen und Zeitschriften an Kioske und andere Verkaufsstellen. Das Grosso ist sozusagen das analoge Äquivalent zu den digitalen Plattformen. Eine inhaltliche Prüfung gibt es aber nicht (Bundesverband Presse-Grosso: "Eine Vorauswahl oder gar Zensur findet nicht statt"). Insofern, wird gefolgert, breche die geplante EU-Gesetzgebung mit dem Prinzip, dass der Staat sich selbst eben nicht auf eine Seite stellt und stattdessen einer Seite, in dem Fall den Plattformen, eine Ermächtigung zur inhaltlichen Kontrolle erteilt."

Auch Christoph G. Schmutz findet den DSA in der NZZ ziemlich problematisch: "Die Wettbewerbsbehörden in Europa klagen seit vielen Jahren, dass die Gerichte zu wenig schnell arbeiten. Die Mühlen mahlen so langsam, dass man bei gewissen Urteilen zu Technologien wie ADSL oder Netscape Navigator gar nicht mehr genau weiß, worum es ursprünglich eigentlich ging. ... Doch anstatt sich stärker mit der Anpassung der Justiz an das digitale Zeitalter zu beschäftigen, delegiert die EU nun mit der DSA gar einen Teil dieser Arbeit an (amerikanische) Unternehmen. Das Gesetz zwingt diese nämlich, zu beurteilen, ob gemeldete Inhalte illegal sind oder nicht. Das mag bei gewissen besonders greulichen Dingen einfach sein. Doch viele Fälle liegen in einem Graubereich. Ist etwa eine Nachricht auf Twitter eine üble Nachrede, eine Verleumdung, eine Beleidigung oder nur eine Frechheit und damit legal?"
Archiv: Internet
Stichwörter: Digital Services Act

Medien

Der Streit zwischen Harald Welzer und dem ukrainischen Botschafter Andryj Melnyk bei Anne Will hat gestern einen derartigen Sturm ausgelöst, dass wir das Video doch noch einbetten:



In einem Welzer gewidmeten Youtube-Kanal, kann man die Passage im Kontext der gesamten Talkshow sehen, die Zustimmung für Welzer ist groß. Viele finden seine Belehrung Melnyks allerdings auch unerträglich arrogant. Etwa die Osteuropa-Historikerin Franziska Davies (wir haben gerade ihr Buch empfohlen) auf Twitter.



Nele Pollatschek findet Welzers Auftritt bei Will im Prinzip gut, weil bisher in Talkshows fast ausschließlich Bellzisten zu Wort gekommen seien: "Schließlich ist laut einer in der Sendung zitierten Umfrage fast die Hälfte der Deutschen gegen die Lieferung schwerer Waffen an die Ukraine. Und es ist nie gut, wenn in den öffentlichen Medien einer Demokratie die Meinung einer Hälfte der Bevölkerung nicht sichtbar wird." Kritik hat sie im Detail: "Das Problem ist nur, dass Welzer für die Aufgabe, diese Haltung zu repräsentieren, denkbar ungeeignet ist." Und Lukas Wallraff meint in der taz: "Zum ersten Mal in all den Kriegsdebatten wirkte der ebenfalls anwesende ukrainische Botschafter Andrij Melnyk geradezu sympathisch höflich und dezent im Vergleich zu einem Kontrahenten. Das muss man erst mal schaffen. Welzer gelang dieses Kunststück vor allem deshalb, weil er im Streit mit Melnyk zur Begründung für seine Vorsichtsmahnung im aktuellen Konflikt mit Russland vor allem auf die angebliche Expertise der historisch bewanderten Deutschen verwies. "
Archiv: Medien

Geschichte

Das eine Gedenken kann das andere begraben. Juri Konkewitsch beschreibt das in der taz in einem interessanten kleinen Essay am Beispiel der Stadt Luzk im Westen der Ukraine. Hier war das Gedenken mal polnisch. Nach dem Krieg setzten die Sowjets das übliche Siegerdenkmal in die Stadt: nur für die Soldaten der Roten Armee. Und auf dem Gelände eines ehemals polnischen Friedhofs, der planiert worden war. Und selbstverständlich wurde nicht 1939, sondern 1941 als Beginn des Krieges angegeben. "Ideen, an dem Denkmal etwas zu verändern, gibt es seit Langem. Doch sie gingen bisher stets in den Ausflüchten der Behörden unter. Für besagtes Objekt ist das Kulturministerium zuständig, und dort hieß es immer: Wir können nichts verändern, nicht einmal das Datum. Als die Raketen einschlugen, war es mit den Ausreden vorbei, eine Anordnung des Bürgermeisters genügte plötzlich."
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Gesellschaft

Hartmut Bomhoff ist Lehrkraft am Abraham-Geiger-Kolleg, wo Rabbiner des liberalen Judentums ausgebildet werden. Er soll Fotos von sich mit erigiertem Penis an seine Lieblingsstudenten verschickt haben. Das gab Ärger in der Jüdischen Gemeinde, hat Alan Posener für die Welt recherchiert, die dann auch gleich mit drohenden Schreiben von prominenten Anwaltskanzleien behelligt wurde. Der Fall wird heruntergespielt, so Posener, denn Bomhoff ist der Ehemann einer der einflussreichsten Persönlichkeiten des jüdischen Lebens in Deutschland, Walter Homolka, der in zahllosen Gremien sitzt und beste Beziehungen in die politische Sphäre hat. Mithilfe seiner Stiftungen und Institutionen könne der katholisch aufgewachsene Homolka "Posten verteilen, Karrieren machen und ruinieren. Seine Verbindungen zur Politik sind unerlässlich für viele jüdische Einrichtungen, die ohne staatliche Hilfsgelder nicht überlebensfähig wären. Dafür freuen sich Politiker über Fototermine mit der Person, die sie für den wichtigsten Repräsentanten des jüdischen Lebens in Deutschland halten." Homolka hat nach dem Artikel in der Welt seine Aufgaben in der jüdischen Gemeinschaft und an der Universität Potsdam vorerst ruhen lassen. In der FAZ berichtet heute Thomas Thiel.

Im Windschatten des Ukraine-Krieges erlassen die auf Hilfe aus dem Westen angewiesenen Taliban immer repressivere Regeln für die Öffentlichkeit, berichtet Oranus Mahmoodi bei hpd.de. Die Burka ist für Frauen wieder weithin vorgeschrieben. "Die meisten neuen Regeln betreffen erwartungsgemäß Mädchen und Frauen: Sie sind aus der Regierung und der gesamten Verwaltung ausgeschlossen, sie dürfen keinen Sport treiben oder 'westliche' Kleidung tragen, sie dürfen nur in männlicher Begleitung Distanzen über 72 Kilometer zurücklegen - selbstverständlich im Hidschab. In Kabul und Umgebung dürfen Frauen zwar Freizeitparks besuchen, aber nur an drei Tagen in der Woche, im Hidschab und ohne Mann. Die Männer haben an den übrigen vier Tagen Zutritt. Im afghanischen TV dürfen beliebte Serien keine Schauspielerinnen mehr zeigen. Es kommt auch vor, dass Frauen, die bei der Regierung gearbeitet hatten, einfach verschwinden."

Und Mädchen dürfen die Schule nur noch bis zur sechsten Klasse besuchen, berichtet Markus Wanzeck in einem jetzt online freigestellten Artikel für die Zeit. "Katastrophal für ein Land, das einer Bildungswüste gleicht. In dem nicht einmal die Hälfte der Bevölkerung lesen und schreiben kann, zwei Drittel der Frauen Analphabetinnen sind. In dem nach Schätzungen sowieso schon bis zu vier Millionen Kinder den Schulen fernbleiben, weil sie bei der Feldarbeit helfen müssen. Weil manche Eltern weltliche Schulen für gottlose Orte halten. Weil der Schulweg in manchen Gegenden für Mädchen zu gefährlich ist. Weil radikale Islamisten Anschläge auf Schulen verübt haben." Weitere Sanktionen würden die Taliban nicht beeindrucken, lernt Wanzeck: "Viele von ihnen haben ihre Familie im Ausland, erzählt Naim Ziayee [Vorsitzender der Afghanischen Kinderhilfe Deutschland]. Dort schicken sie ihre Töchter auf Schulen und Universitäten."

In der SZ berichtet Peter Laudenbach von Angriffen auf Gedenkstätten für die Opfer des Nationalsozialismus, die in Deutschland jeden Monat stattfinden: "Sie wirken wie aggressive Gesten der Verdrängung und Verhärtung, wie der Versuch, sich der Geschichte dieses Landes nicht stellen zu müssen. Das hat viel mit Abwehr, Täter-Opfer-Umkehrung, Gefühlskälte und blankem Hass zu tun und sehr wenig mit aufgeklärtem Patriotismus."
Archiv: Gesellschaft