9punkt - Die Debattenrundschau

Die ideologische Dimension des Kampfes

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
12.07.2022. Osteuropa übersetzt die jüngste Rede Wladimir Putins vor der Duma, in der sich westliche Debatten auf bizarre Art spiegeln. Die taz berichtet über die "Kampfgruppe Anarcho-Kommunisten" (Boak), die im russischen Hinterland Angriffe auf Nachschublinien verübt. Im Tagesspiegel mokiert sich Herfried Münkler über die Autoren der Emma-Briefe, die sich im Adressaten geirrt hätten. Die FAZ berichtet über drohende neue "Slapp-Klagen" gegen Catherine Belton, diesmal aus der Schweiz. Die FAZ beleuchtet auch das neue spanische "Gesetz über die demokratische Erinnerung".
Efeu - Die Kulturrundschau vom 12.07.2022 finden Sie hier

Europa

Bernhard Clasen berichtet in de taz über eine "Kampfgruppe Anarcho-Kommunisten" (Boak), die im russischen Hinterland Angriffe auf militärische Infrastruktur und Nachschublinien verübe. "Besonders stolz scheint man bei den Anarcho-Kommunisten über eine Sabotageaktion an den Gleisen Richtung Barsowo zu sein, befindet sich doch in Barsowo ein Waffenlager für Artillerie und Raketenmunition. 34 Schrauben habe man in diesen Gleisen lockern können, so die Gruppe. 'Je mehr Züge gestoppt werden, desto weniger Granaten fliegen auf friedliche ukrainische Städte', schreibt Boak auf ihrem Telegram-Kanal." Währenddessen resümiert Dominic Johnson Berichte über eine Zuspitzung der Kämpfe in den umkämpften Regionen der Ukraine: "Intensivere russische Angriffe im Osten, intensivere ukrainische Angriffe im Süden - der Ukraine steht ein heißer, blutiger Sommer bevor."

Osteuropa dokumentiert die jüngste Rede Wladimir Putins vor der Duma, in der sich westliche Debatten auf bizarre Art spiegeln: So macht Putin den Westen für den Krieg in der Ukraine verantwortlich, wirft ihm einen Genozid im Donbass vor und einen nihilistischen Autoritarismus: "Der Westen, der einst Prinzipien der Demokratie wie Freiheit des Worts, Pluralismus und Wertschätzung für die Meinung des Anderen hochgehalten hat, degeneriert heute zum genauen Gegenteil - zum Totalitarismus. Dazu gehören Zensur, die Schließung von Medien und die willkürliche Behandlung von Journalisten und Personen des öffentlichen Lebens. Dieser Verbotskurs wird in den westlichen Ländern nicht nur auf die Medien angewendet, sondern auch auf Politik, Kultur, Bildung und Kunst - auf alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens. Mehr noch, man drängt dieses Modell - das Modell des totalitären Liberalismus, einschließlich der berüchtigten cancel culture, der allgegenwärtigen Verbote - der ganzen Welt auf, oder man versucht es zumindest."

Putin ist es, der sich in dem Krieg als Sieger wähnt, und darum müssten sich die Emma-Briefe an ihn wenden, statt die Ukraine zur Unterwerfung aufzufordern, schreibt Herfried Münkler im Tagesspiegel (hinter Paywall) in Antwort auf die Briefe und einen ähnlich argumentierenden Tagesspiegel-Artikel Wolfgang Merkels: "Das aber heißt, dass nicht 'Waffen und Krieg' auf der einen und Verhandlungen auf der anderen Seite die Alternative sind, sondern vielmehr Waffenlieferungen ein Mittel zur Erzwingung von Verhandlungen sein können und Verhandlungen die Alternative zum Diktatfrieden sind."

Der Krieg markiert eine  Wende in den Beziehungen zwischen Demokratien und diktatorischen Regimes, schreibt der französische Politologe Nicolas Tenzer in seinem Blog: "Aber es ist keineswegs sicher, dass die Politiker der freien Welt die Konsequenzen daraus gezogen haben, und zwar auf zwei Ebenen: Erstens unterschätzen sie nach wie vor die ideologische Dimension des Kampfes der wichtigsten diktatorischen Regimes und seine langfristigen Folgen. Zweitens erkennen sie wohl nur unvollständig, wie diese ideologische Dimension die Kriegspraxis prägt, insbesondere in ihrer verbrecherischen Dimension."

Zwei der schillerndsten Figuren in Catherine Beltons Buch "Putins Netz" sind die in Genf lebenden grauen Eminenzen Serge de Pahlen und Jean Goutchkoff. Sie haben jetzt gegen die französische Ausgabe von Beltons Buch, das schon im Original von "Slapp-Klagen" (unsere Resümees) überzogen worden war, juristische Schritte angedroht. Bei ihnen handelt es sich nicht um Oligarchen, so Jürg Altwegg in der FAZ, sondern um Nachfahren exilierter Russen der Weißen Bewegung, die zu den wichtigsten Vermittlern von Putins Macht im Westen und zu Sponsoren einer orthodox geprägten panslawischen rechtsextremen Ideologie gehören. "Das Ende der Sowjetunion hat diesen jahrhundertealten Traum neu belebt. Wann aber stellten sich de Pahlen und Goutchkoff in den Dienst seiner Umsetzung? Diese Frage ist der Kern ihrer Klagedrohung gegen 'Les hommes de Poutine'. Catherine Belton datiert den Beginn ihrer Aktivitäten auf die Achtzigerjahre. In ihrer Darstellung waren der Verleger und der Bankier als Spione für die Sowjetunion tätig. Sie sollen als Agenten eines Netzwerks im Auftrag des KGB das Milieu der 'Weißen Bewegung' ausspioniert haben. Es ist ein gravierender Vorwurf, gegen den sich de Pahlen und Goutchkoff wehren"

Othmara Glas trifft für die FAZ einige jüdische Ukrainer, die in der Armee gegen die russischen Besatzer kämpfen, darunter den Historiker Anatolyj Podolskyj, der im zivilen Leben das Ukrainische Zentrum für Holocauststudien in Kiew (Website) leitet. Er erzählt, dass mehr als die Hälfte der ukrainischen Juden im Holocaust ermordet wurden - auch wegen der ukrainische Kollaboration. Allerdings habe es auch Ukrainer gegeben, die Juden versteckten. Antisemitismus habe es allerdings auch vor den Nazis gegeben, und er hörte nach dem Krieg nicht auf: "Der Historiker erklärt, in der Sowjetunion der Zwanziger- und Dreißigerjahre hätten alle unter Stalins Repressionen gelitten. Sprachen wie Hebräisch und Ukrainisch seien unterdrückt worden, Synagogen ebenso wie Kirchen geschlossen. Während des Holodomors verhungerten nicht nur Ukrainer, sondern auch Juden und Polen. 'Antiukrainische und antisemitische Politik waren zu dieser Zeit dasselbe.' Weil Stalin jüdische Ärzte eines Mordkomplotts gegen ihn bezichtigte, setzte 1948 eine weitere Repressionswelle ein: Jüdische Kultureinrichtungen wurden geschlossen, Intellektuelle ins Straflager geschickt."

Außerdem: In der SZ plädiert der ehemalige Nachrichtenmoderator Ulrich Wickert für ein soziales Jahr.
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Geschichte

Der Historiker Jaroslaw Hryzak, Sprecher der Deutsch- Ukrainischen Historikerkommission, nimmt in der FAZ das deutsche Publikum an der Hand und führt in das Labyrinth finsterer historischer Komplikationen, aus dem sich die heutige Ukraine befreien muss. Stepan Bandera ist hier eine Kristallisationsfigur: Polen, Deutsche, Russen, Juden und Ukrainer haben unterschiedliche Blicke auf ihn: "Für die Mehrheit der Juden und Deutschen geht es vor allem um die Beteiligung Banderas am Holocaust, für die Polen am Gemetzel in Wolhynien. Der Kampf der Bandera-Leute gegen die Sowjets ist für sie alle eine Nebensache. Doch die Mehrheit der Ukrainer schätzt Bandera als Helden oder sieht ihn zumindest positiv. Viele wollen nichts über die Verbrechen der Bandera-Leute an Polen und Juden wissen oder wissen es tatsächlich nicht. Bandera symbolisiert für sie den kompromisslosen Kampf für die nationale Unabhängigkeit, in erster Linie gegen die Russen und die Sowjetregierung." Mit ihrer Vergangenheit ins Reine kommen, so Hryzak, können die Ukrainer erst, "wenn der Krieg beendet wird und die russische Bedrohung aufhört".

In Spanien wird ein neues "Gesetz über die demokratische Erinnerung" verabschiedet, berichtet Hans-Christian Rößler in der FAZ. Es geht weit über die bisherige Gesetzgebung zur Erinnerung an die Franco-Diktatur von 2007 hinaus. Allerdings konnte es die die linke Minderheitsregierung nur mit Unterstützung einiger regionalistischen Parteien durchsetzen, so Rößler. Das ist im Gesetz spürbar: "So werden nun die baskische, katalanische und galicische Sprache zu 'Opfern' des Franquismus erklärt. Ein 'technischer Ausschuss' wird zudem Menschenrechtsverletzungen bis zum Jahr 1983 untersuchen, obwohl aus Spanien eigentlich schon 1978 eine Demokratie wurde. Dafür hatten sich die baskischen Linksnationalisten eingesetzt, denen es dabei um die Morde der von der Regierung González unterstützten 'Antiterroristischen Befreiungsgruppen' (GAL) an ETA-Mitgliedern geht."
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Medien

Im Interview mit Benedict Neff von der NZZ erklärt Henryk Broder, warum er nicht mehr in der extrem proputinistischen Zürcher Weltwoche schreibt: "Ich verbiete niemand, eine Meinung zu haben. Aber ich bin nicht dazu verpflichtet, in einer Umgebung zu bleiben, die mir Unbehagen bereitet. Oder sagen wir: ein starkes Grummeln im Magen, das auf einen bevorstehenden Kotzausbruch hindeutet. Ich würde mich auch nicht in ein Café setzen, in dem Hamas-Leute sitzen."
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Stichwörter: Broder, Henryk M., Hamas