9punkt - Die Debattenrundschau

Jemand hat gekämpft oder nicht

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
20.08.2022. In der taz warnt Fjodor Krascheninnikow, das Russland nach Putin der zweiten oder dritten Garde des Regimes zu überlassen. Die FAS fragt, ob sich die Russen eigentlich als Bürger ihres Landes sehen. taz und FAS erinnern außerdem an das Pogrom von Rostock-Lichtenhagen vor dreißig Jahren. In der NZZ fragt der Strafverteidiger Udo Vetter, warum nicht nur Transpersonen, sondern gleich alle ihre Geschlechtsidentität ändern dürfen. Und die SZ rät den Öffentlich-Rechtlichen, die Kritik ernst zu nehmen, auch wenn sie vor allem aus dem Osten komme.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 20.08.2022 finden Sie hier

Europa

Das Russland nach Putin kann nur mit Oppositionellen aufgebaut werden, die heute im Exil leben, meint der russische Publizist und Politologe Fjodor Krascheninnikow in der taz, keinesfalls sollte sich der Westen - wie nach dem Ende der Sowjetunion - auf die zweite oder dritte Garde des abgehalfterten Regimes einlassen: "Egal, was diese Leute sagen oder welche Entscheidungen sie treffen, am Ende werden sie selbst die Reformen verhindern, die am dringendsten notwendig sind. Nur diejenigen, die konsequent und bedingungslos dagegen angekämpft haben, können das fehlerhafte System durchbrechen und es mitsamt seinem Fundament gnadenlos zerstören. Es gibt keinen Grund, maximalistisch zu sein; ohne erfahrene Manager*innen, Bürokrat*innen und sogar Polizist*innen kann kaum ein Regime auskommen. Doch die Erfahrung des gescheiterten postsowjetischen Übergangs in Russland lehrt nur eines: Die höchsten Positionen in Politik, Justiz und Verwaltung eines Landes, das einen echten Wandel braucht, sollten auf keinen Fall mit Personen besetzt werden, die aus der alten Elite stammen und die dunkelsten Zeiten in ihren Ämtern stillschweigend ausgesessen haben."

Russland werde durch die Sprache und Gewalt zusammengehalten, fürchtet Nikolai Klimeniouk in der FAS, ein politisches Gemeinwesen sei es nicht. Das erkennt er auch an der Empörung, mit der Russinnen und Russen auf die Forderung reagieren, ihnen keine Touristenvisa mehr für die EU auszustellen: "Man werde, so der Tenor der Klagen, kollektiv für etwas bestraft, was man nicht getan habe. Dies sei purer Faschismus, man werde behandelt wie die Juden im Nationalsozialismus. Diese renitente Weigerung, sich zum eigenen Staat zu bekennen und die Konsequenzen für dessen Verbrechen zu akzeptieren, hat nicht zuletzt damit zu tun, dass sich sehr viele Staatsangehörige Russlands gar nicht als Bürger sehen, zumindest nicht in dem Sinne, wie es die Europäer tun."

Bis Anfang des Jahres konnte Moskau den Krieg im Donbass dazu nutzen, die Ukraine von innen zu erschüttern, schreibt in der taz Juri Konkewitsch, davon kann keine Rede mehr sein. Das Verhältnis zu Russland ist in der gesamten Gesellschaft ebenso geklärt wie das zu EU und Nato: "Innerhalb eines Jahres sind zwar die wichtigsten altbekannten Probleme verschwunden, dafür jedoch neue Trennlinien in der Gesellschaft aufgetaucht: Jemand hat gekämpft oder nicht; jemand ist aus der Heimatstadt geflohen oder dort geblieben; jemand hat die Ukraine verlassen oder nicht."
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Politik

Die taz erinnert an das Pogrom von Rostock-Lichtenhagen vor dreißig Jahren, bei dem Neonazis und Nachbarn johlend das Sonnenblumenhaus in Brand steckten, um die darin untergebrachten Asylbewerber zu vertreiben. Der frühere Rostocker Ausländerbeauftragte Wolfgang Richter betont in einem Gespräch mit der Hanauer Opfer-Angehörigen Serpil Temiz-Unvar die Mitverantwortung von Politik und Medien: "Ich bin bis heute der festen Überzeugung, dass diese Katastrophe bis kurz vorher noch hätte verhindert werden können. Man konnte ja über Monate hinweg zusehen, wie sich das zuspitzte: Seit Ende Juni war es ein Dauerzustand, dass Geflüchtete auf den Wiesen vor der Erstaufnahmeeinrichtung mehrere Tage warten mussten bevor sie ins Haus durften, um ihren Asylantrag zu stellen. Menschen waren gezwungen, dort ohne jegliche Unterstützung zu campieren. Dazu die allgemeine Stimmungsmache von Politik und Medien, die von 'Asylmissbrauch' und 'Das Boot ist voll' redeten."

In der FAS erinnert sich auch der Rostocker Musiker Materia an die Ausschreitungen und den Aufmarsch der Neonazis, die er nur wie unter Schock verfolgen konnte: "Das war wie Anarchie, so ein richtiges Mad-Max-Szenario. Vieles war weg und hatte sich noch nicht wieder sortiert. Es gab die Polizei, aber irgendwie musste sich noch eine Ordnung finden. Es sind die schlimmsten Dinge passiert, auf den Straßen, man hat die wildesten Dinge gehört. Immer mehr hat sich die Unzufriedenheit aufgebaut und die Wut, und dann entlädt sich das alles vor dem Sonnenblumenhaus. All der Hass, die eigene Unsicherheit. Irgendjemand musste schuld sein, da hat man sich die Fremden ausgesucht. Und dann werden die Randalierer von der Polizei nicht aufgehalten und von so vielen Leuten werden sie auch noch angefeuert. Das war wie ein Happening, und das finde ich am allerschlimmsten daran."
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Gesellschaft

Im NZZ-Interview mit Beatrice Achterberg kritisiert der Strafverteidiger Udo Vetter das Schrankenlose des neues Selbstbestimmungsgesetz, das Menschen per Willenserklärung erlaubt, ihr Geschlecht zu ändern: "Hier wird ein derartiges Missbrauchspotenzial präsentiert, da kann man sich nur an den Kopf fassen. Eine Gesellschaft funktioniert nur, wenn die wechselseitigen Interessen der Bürger gesehen werden und in einen gerechten Ausgleich gebracht werden. Es ist für mich nicht nachvollziehbar, wieso derartige Rechte nun mit der Giesskanne gewährt werden sollen. Transpersonen, die wirklich im falschen Geschlecht gefangen sind, sind ja nicht das Problem. Die Frage lautet: Wieso muss das jeder machen dürfen? Mindestens fünfzig Prozent der Bevölkerung, nämlich Frauen, müssen Angst davor haben, dass ihnen künftig ihre Schutzräume genommen werden."
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Medien

In der SZ fällt Cornelius Pollmer auf, dass die großen Krisen der Öffentlich-Rechtlichen meist im Osten ihren Anfang nehmen. Das sollte kein Grund sein, sie abzutun: "Es war in Thüringen, wo durch Untreue beim Kinderkanal ein Millionenschaden entstand. Es war in Sachsen-Anhalt, wo die Regierung eine Erhöhung des Rundfunkbeitrags blockierte. Es war in Sachsen, wo sich bei Demonstrationen neben sachlicher Kritik auch stumpfer Hass gegen ARD und ZDF etablierte und wo sich in desinteressierten Kreisen der groteske Irrglaube verfestigte, Journalismus sei nur ein anderes Wort für Marionettentheater. Es ist also der Osten der Republik, wo der Druck auf das öffentlich-rechtliche System am größten ist - aber auch dessen Chance, mit etwas Mut herauszufinden, wie er besser auf Kritik und eine sich fortwährend wandelnde Gesellschaft reagieren könnte."

Kathrin Passig hält noch immer nichts von einer Klarnamenpflicht im Internet und insistiert in der FR, dass diese vielleicht gar nicht gegen den Hass im Netz helfen würde: "Eine Studie an über einer halben Million Kommentare zu deutschen Onlinepetitionen bei openpetition.de ergab 2016, dass die aggressivsten Kommentare von den Beteiligten mit Klarnamen stammten. (Suchstichworte Rost Stahel Frey, falls Sie es genauer wissen wollen)."
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