9punkt - Die Debattenrundschau

Sanktionen aber entsprechen nicht unserem Interesse

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
17.10.2022. Während Russland Kiew mit Drohnen beschießt, ist sich der amerikanische General Ben Hodges in der FAZ sicher: Dieser Krieg ist ein Desaster für Wladimir Putin. Im Observer denkt Peter Pomerantsev über die Frage nach, ob Propaganda ein Verbrechen sein kann.  Die Frauenrechtsaktivistin Sahar Sanaie wünscht sich in der FR eine sehr klare Positionierung der EU-Außenpolitik zum Iran. In Afghanistan ist die Sache der Frauen bereits verloren, sagt die afghanische Psychologin Batool Haidari ebenfalls in der FR.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 17.10.2022 finden Sie hier

Europa

Russland beschießt heute wieder die Innenstadt von Kiew mit Raketen und Drohnen, berichtet unter anderem der Guardian in seinem Liveblog.

Der Ukraine-Krieg ist für Putin ein Desaster, sagt der frühere amerikanische Drei-Sterne-General Ben Hodges im Interview mit Peter Badenhop von der FAZ. Die Gründe dafür: "Die zentralisierte Kommandostruktur, die jahrzehntelange Korruption, das mangelhafte Logistiksystem und die offensichtliche Unfähigkeit, die Operationen der Luft-, Land- und Seestreitkräfte zu koordinieren. Seit dem Angriff im Februar haben die Russen nicht eine einzige nach unserem Verständnis integrierte Operation zustande gebracht - zum Glück. Die russische Luftwaffe ist praktisch keine Hilfe für die Heerestruppen, und die Schwarzmeerflotte versteckt sich, seit die Ukraine im April den Kreuzer Moskwa versenkt hat."

Peter Pomerantsev berichtet im Observer von einem Kolloquium in Lviv zur Frage zur Frage, inwieweit Propagnda als Beitrag zu genozidalen Taten gewertet werden kann. Lviv, das ist die Stadt, die Raphael Lemkin und Hersch Lauterpacht hervorgebracht hat, die die Begriffe "Genozid" und "Verbrechen gegen die Menschlichkeit" prägten, betont Pomerantsev. Propagandisten können sich auf Meinungsfreiheit oder eine mangelnden Verbindung zwischen ihren Aussagen und verübten Verbrechen herausreden. Aber andererseits sind "die Medien in Russland ein wichtiges Instrument des Regimes von Wladimir Putin und untrennbar mit dem Funktionieren des Staates verbunden... Der russische Medienanalyst Wassili Gatow beschreibt die systematische Überlastung mit Desinformationen als eine Art 'Zensur durch Rauschen'. Die russische Militärtheorie betrachtet Informationsoperationen als integralen Bestandteil von Militäroperationen in einem noch nie dagewesenen Ausmaß - russische staatliche Medienmanager erhielten sogar Militärmedaillen für ihre Rolle während der Annexion der Krim im Jahr 2014."

Eines der Bücher, die die Rentrée in Frankreich prägen, ist Monica Sabolos "La vie clandestine", in dem sich die Schriftstellerin mit der französischen Terrorgruppe "Action directe" beschäftigt, berichtet Jürg Alwegg in der FAZ. Es ist ein autobiografisches Buch, die Autorin kannte die Terroristen um Jean-Marc Rouillan und seine Mitstreiterinnen Nathalie Ménigon und Joëlle Aubron offenbar. Auch der Überläufer Georges Chahine und der japanische Terrorist Mitsuko spielen eine Rolle. Das Buch zeigt einiges über den französischen Umgang mit Linksextremismus: "Von der spektakulären Verhaftung Ménigons gab es ein Foto, das Paris Match auf einer Doppelseite brachte: Die Paparazzi hatten eigentlich Prinzessin Caroline von Monaco aufgelauert, die in der Nähe von Monsieur Mitsuko wohnte. Schon 1981 erließ der frischgewählte Präsident Mitterrand eine Amnestie für die kürzlich erst festgenommenen Terroristen, 1982 wurde der 'Verräter' Chahine exekutiert - trotz eines zuvor erklärten Gewaltverzichts von AD. 1986 ermordeten Ménigon und Aubron schließlich den Renault-Generaldirektor Georges Besse."

Wenn heute die EU-Außenministerkonferenz in Luxemburg tagt, wünscht sich die Psychotherapeutin und Frauenrechtsaktivistin Sahar Sanaie in der FR mehr als schöne Worte in Richtung Iran: "Die Terrorlistung der Revolutionsgarde, die systematisch Demonstrant:innen jagt und tötet, sollte auf der Tagesordnung stehen. Die Ausweisung iranischer Diplomat:innen und die Abberufung von EU-Botschafter:innen aus Teheran können den diplomatischen Druck erhöhen, um die Unterdrückung der Proteste zu stoppen. Das wäre im Sinne von vielen Frauen und Jugendlichen, die ihr Leben für Freiheit riskieren."
Die afghanische Psychologin Batool Haidari konnte bei der Machtübernahme der Taliban fliehen, kehrte aber noch einmal nach Kabul zurück, um ihren Laptop und ihre Forschungsarbeit zu holen. Sie blieb noch zwei Monate im Land, erzählt sie im Interview mit der FR, um Frauen und Mädchen zu unterstützten, aber es war sinnlos: "Lehrerinnen und Universitätsprofessorinnen durften ihren Beruf nicht länger ausüben. Und die täglichen Zwangsverheiratungen 13-jähriger Mädchen und die Proteste der Frauen gegen diese Zustände machten das Leben immer anstrengender. In den Monaten, die ich in Kabul war, beteiligte ich mich an den Protesten der Frauen und Mädchen, ich und fünf andere Frauen schlossen uns zu einer Art Think Tank zusammen, um uns zu organisieren; ich habe die jungen Frauen und Mädchen zu Veranstaltungen begleitet und mit den Medien gesprochen. ... Leider haben die Frauen in Afghanistan keinerlei Unterstützung erfahren. Ihre Lage könnte nicht düsterer sein. Niemand schert sich um die Frauen, und die Situation verschlechtert sich von Tag zu Tag."

Arye Sharuz Shalicar Sohn iranischer Juden und in Berlin-Neukölln aufgewachsen, heute Israeli und mit einer Ukrainerin verheiratet, spricht im Interview mit der NZZ über sein Buch "Schalom Habibi", das eine Zeitenwende in Nahost diagnostiziert. Das liegt seiner Meinung nach vor allem an den Friedensabkommen zwischen Israel und den Emiraten sowie Bahrain: 'Ich war in Dubai, ich saß mit zwei Israeli in einem libanesischen Restaurant, um uns herum saßen alles Araber. Aber wir fühlten uns in keiner Weise bedroht. In keinem einzigen libanesischen Restaurant in Deutschland würde es mir so gehen', erzählt er."
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Internet

In der SZ kann Michael Moorstedt dem neuen digitalen Büroleben im Metaverse von Mark Zuckerberg, das jetzt auch Office-Programme nutzbar macht, nur wenig abgewinnen: "Man blickt dann also durch die VR-Brille, die nichts anderes ist als zwei direkt vor die Augen montierte Displays, in einen künstlichen Raum, in dem man wiederum auf einen Bildschirm starrt. Viel mehr Entfremdung ist kaum vorstellbar. Noch dazu hat man statt fantastischer Landschaften doch nur wieder ein schnödes Büro vor Augen. Doch nicht genug der Dystopie: Im Inneren der Brille sind fünf Kameras auf das Gesicht des Nutzers gerichtet, um Augenbewegungen und Gesichtszüge auf den Avatar zu übertragen. Bei der Meta-Unternehmensgeschichte ist kaum vorstellbar, dass die so ausgelesenen Daten nicht irgendwann auch vermarktet werden."

Der amerikanische Investor Matthew Ball behauptet dagegen im Interview mit Zeit online, das Metaverse werde ganz anders sein: Er definiert es "als skalierendes und interoperables Netzwerk von in Echtzeit berechneten, virtuellen, dreidimensionalen Welten. Eine praktisch unbegrenzte Zahl von Nutzerinnen und Nutzern kann diese Welten gleichzeitig und dauerhaft erleben. Sie haben dabei ein Gefühl von physischer Präsenz und es findet ein ständiger Datenaustausch statt, beispielsweise hinsichtlich Identität, Geschichte, Gütern, Kommunikation und Zahlungen. Einfacher gesagt: Es handelt sich um ein synchrones, dreidimensionales Echtzeitinternet." Vorher müsste man allerdings die Tech-Giganten regulieren, denn "eine Entflechtung von Diensten würde der Innovation einen Schub geben".
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Politik

FAZ-Korrespondentin Friederike Böge resümiert Xi Jinpings Rede zum Parteitag, der ihn für eine weitere fünfjährige Amtszeit krönen wird. Besonders auffällig war der Applaus der gleichgeschalteten Delegierten, als er sagte, er werde in Bezug auf Taiwan nicht vor Gewalt zurückschrecken: "Das richte sich nicht gegen die Mehrheit der Taiwaner, sondern gegen 'die Intervention ausländischer Kräfte und einiger weniger Separatisten'. Neu waren diese Formulierungen nicht. Sie zeigen einmal mehr, dass Xi die 'Wiedervereinigung' mit Taiwan als eine Priorität betrachtet. Man kann nur vermuten, dass er sie gern unter seiner Führung verwirklicht sehen will."

Um China geht es auch in einem sehr instruktiven historischen Hintergrundartikel (FAZ) des Historikers Frank Bösch. Vor genau fünfzig Jahren reiste Außenminister Walter Scheel (FDP) nach Peking, um die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Volksrepublik China zu besiegeln. Es gibt aber einen Unterschied beim "Wandel durch Handel" mit China: Während bei Russland vor allem die SPD die enge Kooperation mit den Machthabern suchte, war es im Fall Chinas die CDU: "Verärgert verfolgte das Bundesaußenministerium, wie Bayern und Baden-Württemberg gesonderte Verträge mit China abschlossen. Die chinesischen Kommunisten hingegen sahen in den Oppositionspolitikern und Ministerpräsidenten nicht nur künftige Regierungsmitglieder. Sie hofierten sie auch in der Absicht, sie als Verbündete gegen Moskau in Stellung bringen zu können - mit Erfolg. Während die Unionspolitiker der Sowjetunion wie auch der DDR Menschenrechtsverletzungen vorhielten, sprachen sie derartige Themen gegenüber den Chinesen nicht an." Auch in den sich später intensivierenden Beziehungen, so Bösch, spielten Menschenrechte "lange keine Rolle". Bösch zitiert auch eine interne Notiz des auswärtigen Amtes vom 9. Juni 1989: "Sanktionen aber entsprechen nicht unserem Interesse."
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Gesellschaft

Die Soziologen Oliver Nachtwey und Carolin Amlinger haben in ihrem Buch "Gekränkte Freiheit" die Weltanschauung der Querdenker untersucht, die sie "libertäre Autoritäre" nennen. Die meisten kommen "aus der modernen Mitte", sind "oft links oder liberal sozialisiert", erklären die beiden im Interview mit Nils Schniederjann von der Berliner Zeitung. Diese Menschen hatten den Staat immer als Freiheitsgaranten wahrgenommen. Ansonsten war er für sie unsichtbar - anders als für die "unteren Klassen", in deren Alltagsleben der Staat schon immer involviert war. "Durch die vorherige Unsichtbarkeit des Staates haben gerade diese Menschen vergessen, dass sie abhängig sind vom Rest der Gesellschaft. Jetzt nehmen sie Freiheit als etwas Absolutes, das ihnen persönlich gehört und verdrängen, dass diese Freiheit soziale Voraussetzungen hat. Jemand aus der oberen Mittelschicht begegnet dem Staat fast nie oder höchstens mal, wenn er die Kinder in der Schule anmeldet oder in eine Verkehrskontrolle kommt. Nur bei der Steuer ärgert man sich jedes Jahr. Aber da kommt nicht das Jugendamt oder das Sozialamt vorbei. Da gibt es keine Sanktionierung. Den Staat haben sie vorher als Enabler, nicht als Eingreifenden wahrgenommen. Jetzt haben diese Leute plötzlich gesehen: Der kann auch anders. Und das waren sie nicht gewohnt."
Archiv: Gesellschaft