9punkt - Die Debattenrundschau

Nähe zu Interessengruppen

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
12.12.2022. Olexandra Matwijtschuk prangerte in ihrer Friedensnobelpreisrede nochmal die Fahrlässigkeit des Westens an, die Putin möglich machte. Die Politologen Wilfried Jilge und Stefan Meister  kommen in der FAZ zum selben Ergebnis und fordern eine "Ukraine zuerst"-Politik. Das Emirat Katar scheint Europapolitiker bestochen zu haben, hoffentlich ist das nicht nur die Spitze des Eisbergs, bangt die taz. In der NZZ beschreibt der Sinologe Junhua Zhang das Ausmaß der Gehirnwäsche unter Xi Jinping.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 12.12.2022 finden Sie hier

Europa

Die Rede der ukrainischen Friedensnobelpreisträgerin Olexandra Matwijtschuk hat in deutschen Medien offenbar nicht zu verlegenem Schlucken geführt. Sie ist auf der Seite des Nobelkomitees dokumentiert. Matwijtschuk prangert darin nochmal in einfachen Worten die Fahrlässigkeit des Westens an, der Regimes wie Putins Russland immer nur gewähren lässt. "Die demokratische Welt hat sich daran gewöhnt, Zugeständnisse an Diktaturen zu machen. Und deshalb ist die Bereitschaft des ukrainischen Volkes, sich dem russischen Imperialismus zu widersetzen, so wichtig. Wir werden die Menschen in den besetzten Gebieten nicht dem Tod und der Folter überlassen. Das Leben der Menschen darf kein 'politischer Kompromiss' sein. Für den Frieden zu kämpfen bedeutet nicht, dem Druck des Aggressors nachzugeben, sondern die Menschen vor seiner Grausamkeit zu schützen."

Die Politologen und Politikberater Wilfried Jilge und Stefan Meister diagnostizieren auf der Gegenwart-Seite der FAZ einen gravierenden "Realitätsverlust der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik". Erst am 24. Februar sei das Ruder herumgerissen worden. Bis dahin sei deutsche Politik auf Kumpanei mit Russland und das Wohlergehen deutscher Unternehmen mit ihren vielen angestellten Wählern gerichtet gewesen. Unterdessen habe Putin den "Systemkonflikt" immer weiter getrieben. Die Politologen fordern eine Neuorientierung deutscher Politik: So "sollte die deutsche Politik mittelfristig auf eine 'Ukraine zuerst'-Politik setzen, um deren Überleben als Staat nicht nur abzusichern, sondern ihre Reform- und EU-Integrationspolitik als ein zentrales Ziel deutscher Außenpolitik im europäischen Interesse zu fördern."

Das Emirat Katar soll Europaabgeordneten Bargeld und kostbare Geschenke zugesteckt haben, um sie unter anderem für Abstimmungen über Visaerleichterungen günstig zu stimmen. Prominenteste Verhaftete ist die griechische Sozialdemokratin und ehemalige EU-Parlamentssprecherin Eva Kaili. Der Fall ist die Spitze eines Eisbergs, fürchtet Gemma Terés Arilla in der taz: "Eine Nähe zu Interessengruppen verwandelt sich in der EU leicht zu einem 'Drehtürsystem', wie im Fall von Ex-ehemaligen Kommissionschef José Manuel Barroso, jetzt Berater der US-Investmentbank Goldman Sachs. Das bedeutet keine gute Glaubwürdigkeitskarte für das europäische Demokratiehaus. Die Veröffentlichung von Treffen zwischen Abgeordneten und Lobbyisten im Lobbyregister sollte Pflicht sein - nur etwa die Hälfte tun es jetzt freiwillig -, und Drittstaaten sollten in die Liste aufgenommen werden, bisher bleiben sie draußen." Einen ausführlichen Bericht zum Thema mit weiteren Namen von Beschuldigten bringt Steffen Lüdke bei Spiegel online.

Helene Bubrowski warnt im Leitartikel der FAZ davor, die jetzt hochgenommene "Reichsbürger"-Truppe als Spinner zu verharmlosen, es befanden sich ehemalige Offiziere und eine Richterin darunter, die einen Eid auf die Verfassung geleistet haben. Bubrowski fordert schärfere Sicherheitsüberprüfungen für Anwärter: "Die gibt es seit einigen Jahren beim Bundeskriminalamt und in immer mehr Landespolizeien. Aber einige Länder haben sich noch nicht zu der Verpflichtung durchringen können, alle Namen der Bewerber für den Polizeidienst durch die Datenbanken von Verfassungsschutz und Polizei zu schicken. Auch in der Bundespolizei findet das derzeit nur auf freiwilliger Basis statt, es fehlt an einer rechtlichen Grundlage... Dass unter den lautesten Befürwortern von heute auch Gegner des Radikalenerlasses von 1972 sind, ist eine Ironie der Geschichte, macht die Forderung aber nicht weniger richtig."
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Ideen

Vor kurzem beschuldigte FAZ-Redakteur Thomas Thiel Yuval Noah Harari eines eisigen, im Silicon Valley modischen Determinismus (unser Resümee). Darauf antwortet heute Sebastian Ullrich, Lektor Hararis bei C. H. Beck. Harari werde oft missverstanden, wenn er fremde Positionen paraphrasiere - er brauche genaue Lektüre. Den Vorwurf der Eisigkeit weist Ullrich von Harari: "Was Hararis politischem Denken Halt gibt, ist die Kategorie des Leidens. 'Wie aber weiß man, ob eine Wesenheit real ist?', heißt es in 'Homo Deus'. 'Ganz einfach, man fragt, ob sie leiden kann.' Götter, Banken, Nationen - sie alle leiden nicht. Soldaten, Bauern oder Kühe, die man zum Schlachthof führt, schon. Menschen können unsägliches und sehr reales Leid verursachen, weil sie an irgendwelche Geschichten über Religionen oder Nationen glauben. Und genau deshalb, so Harari, 'sollten wir darauf bedacht sein, zwischen Fiktion und Wirklichkeit zu unterscheiden'."
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Stichwörter: Harari, Yuval Noah

Politik

Die KP Chinas wird niemals eine Revolte zulassen, die sie gefährden könnte, ist Junhua Zhang vom European Institute for Asian Studies in der NZZ überzeugt, dennoch sei der jetzige Protest von großer Bedeutung, weil die jungen Leute sehr schnell lernen: "Bemerkenswert ist, dass hier zumeist die jungen Menschen aus verschiedenen gesellschaftlichen Milieus zusammenfanden: Studenten, Angestellte oder Wanderarbeiter. Diese ganze Generation wird in China als Opfer von Gehirnwäsche und kollektiver Amnesie betrachtet. Durch permanente Zensur und Repression sowie durch intensive Propaganda ist es der KP gelungen, die Spuren der Brutalität ihrer Herrschaft auszulöschen. Diese jungen Leute haben kaum noch ein historisches Bewusstsein. Sie wissen so gut wie nichts von der Hungersnot Ende der fünfziger Jahre, den Gewaltexzessen der Kulturrevolution der sechziger und siebziger Jahre, dem Massaker auf dem Platz des himmlischen Friedens. Die Unterdrückung der Uiguren, der Tibeter und der Menschen von Hongkong entgeht ihrer Wahrnehmung. Viele merkten erst bei den Protesten, mit welcher Brutalität die KP Chinas abweichende Meinungen zu unterdrücken entschlossen ist."
Archiv: Politik
Stichwörter: China, Uiguren, Hongkong, Kp

Internet

Harald Staun ist in der FAZ doch nur mäßig begeistert von der KI-Software ChatGPT. Beauftragt man sie etwa mit Romananfängen "im Stile von", höre man doch bald das Klappern der Mechanik. "Je ungenauer man die Parameter spezifiziert, desto hölzerner und klischeehafter setzt das Programm die Anfrage um. Schließlich ist es nicht mehr als eine gigantische und eloquente Autovervollständigungssoftware, die Wörter ergänzt, die nach seinem statistischen Modell der Sprache als Nächstes folgen. Es greift nicht auf Wissen zurück, sondern reproduziert Muster."
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