Efeu - Die Kulturrundschau

Kosmopolitische Perspektiven

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15.12.2022. Die NZZ bewundert in einer Basler Ausstellung ukrainische Künstler, die oft als Russen galten. Die FAZ unterhält sich mit Autor Kai Sina über Enzensbergers Zeitschrift Transatlantik. Zelda Biller staunt über den antiisraelischen Kitsch des Netflixfilms "Farha". Die taz erliegt den extrem assoziativen Klangsprache Fritz Brückners. Die designierte neue Schauspielchefin in Salzburg Marina Davydova erzählt im Interview mit der SZ von ihrer Flucht - erst aus Baku, dann aus Moskau.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 15.12.2022 finden Sie hier

Kunst

Kliment Redko, Kyivo-Pecherska Lavra, 1914. The Kyiv National Art Gallery


Wer es nicht bis Madrid schafft, um ukrainische Kunst zu sehen, schafft es vielleicht bis Basel? Auch dort zeigt die Kiewer Gemäldegalerie als Gast des Kunstmuseums Basel - die Berliner Museen sind offenbar zu sehr mit sich selbst beschäftigt - gerettete Werke aus seiner Sammlung. Philipp Meier fällt dabei auf, wieviel neue ukrainische Künstler es gibt: Malewitsch? In Kiew geboren. Iwan Aiwasowski? Auf der Krim geboren. Repin? Stammt aus einer ukrainischen Kosaken-Familie. Dass sich viele als Russen verstanden, wundert allerdings nicht. Als ukrainische Künstler wären sie vielleicht geendet wie die Menschen auf diesem Bild: Es "'zeigt einen Völkermord, wie sie in der Ukraine öfter vorkamen. Auch jetzt gerade wieder', sagt Josef Helfenstein, der Direktor des Kunstmuseums Basel. Zwei Kutschen preschen über weites Feld, je zwei Pferde vorgespannt, in fliegendem Galopp. Auf den Wagen vergreifen sich Männer an Frauen. Diese sind nackt. Genauso wie die gefesselten Frauen, die an Seilen an die Gefährte gebunden, hinterhergeschleift werden. Auch Männer werden da zu Tode geschleift, ihnen hat man die Kleider belassen. Das große Gemälde mit surrealistischen Stilanleihen thematisiert die Partisanenkriege und antisemitischen Pogrome in der für kurze Zeit unabhängigen, anarchischen Ukraine während des russischen Bürgerkriegs zwischen 1917 und 1921. Es stammt von Oleksandr Tyschler. Wer war dieser Maler? Unter Alexander Grigoryevich Tyschler findet man im Internet einen russischen Künstler, der 1898 in eine jüdische Familie hineingeboren wurde."

Weitere Artikel: In der FR berichtet Lisa Berins dass das Bundespatentgericht den Markenkern der Documenta anerkannt hat: "Der Verfahrensgegner habe, so das Gericht, die Wertschätzung der Marke 'documenta' ausgenutzt." Nun ja. In der taz empört sich Renata Stih über die Kündigung der Räumlichkeiten des Werkbund-Archivs in der Berliner Oranienstraße: "Und wieder wird ein Stück Berliner Stadtgeschichte durch gierige Spekulanten zerstört".

Besprochen werden die Ausstellung: "1922 - George Grosz reist nach Sowjetrussland" im Kleinen Grosz-Museum Berlin (BlZ), die Rosemarie-Trockel-Ausstellung "Misleading Interpretation" im MMK Frankfurt (Zeit-Kritiker Hanno Rauterberg erscheinen die späteren Arbeiten der Künstlerin "banal und blasiert"), die Ausstellung "Clara und Crawly Creatures" im Rijksmuseum in Amsterdam (FAZ-Kritiker Hubert Spiegel blickt mit viel Mitgefühl auf Clara, das einsamste Nashorn der Welt, das jahrelang in Europa zur Schau gestellt wurde) und die Ausstellung "Vision Seemacht. Ein Marinestück für den Großen Kurfürsten" im Gemäldegalerie am Kulturforum Berlin (FAZ).
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Bühne

Die im Berliner Exil lebende russische Theaterkritikerin Marina Davydova wird Schauspielchefin in Salzburg. Im Gespräch mit der SZ erzählt sie, dass ihre Flucht aus Russland nicht ihre erste war: "Ich wurde in Baku geboren, der Hauptstadt Aserbaidschans, damals noch Sowjetunion. Mein Vater war ethnischer Armenier. In den Neunzigern kam es in Baku im Zusammenhang mit den Ereignissen in Nagorny Karabach zu furchtbaren Pogromen. 200 000 Armenier mussten aus der Stadt fliehen. Wir verloren unsere Wohnung, unser Familienarchiv wurde vernichtet, die Gräber meiner Eltern und der ganze armenische Friedhof wurden zerstört. Vor ein paar Tagen habe ich ein Theaterstück über diese Ereignisse fertig geschrieben, für das Münchner Residenztheater. Es heißt 'Land of No Return'. Du fliehst, fängst von vorn an, baust dir ein Leben auf, und dann verlierst du wieder alles... Ich schaue zurück auf meine Anstrengungen in Russland - auf das Moskauer NET-Festival beispielsweise, das ich 23 Jahre lang mit aufgebaut habe, auf die Zeitschrift TEATR, die ich seit 2010 herausgebe. Das war mein Leben. Und plötzlich, mit einem Schlag, ist nichts mehr davon da."

Weitere Artikel: Das Van Magazin unterhält sich mit der Theaterfotografin Monika Rittershaus über ihre Arbeit. In der FAZ schreibt Jürgen Kesting zum Siebzigsten des Frankfurter Opernintendanten Bernd Loebe. Auch die FR gratuliert. Außerdem meldet die FAZ, dass die finnische Mezzosopranistin Lilli Paasikivi neue Leiterin der Bregenzer Festspiele wird.

Besprochen werden Peter Tschaikowskis Oper "Jolanta" am Theater Kiel (nmz), Philippe Boesmans' posthum uraufgeführter Oper "On pourge Bébé" an der La Monnaie Oper in Brüssel (nmz), Tschaikowskis "Pique Dame" in Kassel (FR) und She She Pops "Mauern" am Berliner HAU (Welt)
Archiv: Bühne

Literatur

In der FAZ unterhält sich Claudius Seidl mit dem Germanistem Kai Sina über Hans Magnus Enzensbergers Zeitschrift Transatlantik, über die Sina gerade ein Buch veröffentlicht hat. Die Zeitschrift bestand zwei Jahre lang, brachte aber neuen Wind: Sie "öffnet die Türen, sie lässt die Welt herein, sie will kosmopolitisch sein, sie formuliert ein Ja zur westlichen Moderne. Sie löst sich vom Wundenlecken der Linken, wie man es, zum Beispiel, in dem Film 'Deutschland im Herbst' betrachten kann, in seiner ganzen Depression und auch ästhetischen Dunkelheit. ... Hier sollte etwas wirklich Neues versucht werden. Keine Nabelschau, nicht die ewige Selbstkritik der gescheiterten Linken. Sondern ein offener Blick, ein weiter Horizont, kosmopolitische Perspektiven."

In ihrer "Tagtigall"-Kolumne für den Perlentaucher empfiehlt Marie Luise Knott Lyrik für den Gabentisch. Unter anderem "ich föhne mir meine wimpern" von Sirka Elspaß. "Folgt man dem Titel des Bandes, meint man plötzlich, die halbfetten Zeilen seien vielleicht Wimpern, und die Gedichte als Ganzes seien Augen, durch welche das lyrische Ich die Welt aufnimmt und gleichzeitig gegen die Welt, so wie sie ist, revoltiert. ... Die Augenblicke in den Gedichten sind kurz und kraftvoll; sie zeugen vom Stachel der Jugend, die es sich in den Kopf gesetzt hat, das Leben gewiss nicht in irgendwelchen Kontinuitäten von Erwartetem und Erwartbarem ablaufen zu lassen. ... Viele Gedichte drehen sich um den Körper: den einsamen, misshandelten, menstruierenden, und natürlich auch den weinenden Körper, der sich nach Geborgenheit sehnt. Andere Gedichte kreisen um das Vergehen der Zeit."

Außerdem: Das renommierte Comicfestival Angoulême hat eine Ausstellung der Arbeiten von Bastien Vivès nach Protesten abgesagt, meldet Lara Keilbart im Tagesspiegel: Kritiker werfen dem Comicautor einen zu sorglosen bis reißerischen Umgang mit dem Thema "Pädophilie" in seinen Arbeiten vor. Sergei Gerasimow schreibt in der NZZ weiter Kriegstagebuch aus Charkiw.

Besprochen werden Ian McEwans "Lektionen" (taz), Gu Byeong-mos Krimi "Frau mit Messer" (TA), Ilma Rakusas Gedichtband "Kein Tag ohne" (NZZ) und Angela Steideles "Aufklärung" (FAZ).
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Film

Einnehmende Intimität: "Nightsongs" von Marva Nabili

Wer in Berlin ist, sollte sich die Möglichkeit nicht entgehen lässt, in der Filmreihe "Women Make Films" des Kino Arsenals die Filme von Marva Nabili kennenzulernen, schreibt Thekla Dannenberg im Perlentaucher. Nur zwei konnte die iranische Regisseurin überhaupt drehen: "Solitäre eines Filmschaffens, das seine Themen von vornherein gefunden hatte". Der eine, "Versiegelte Erde", entstand mit spärlichen Mitteln in ihrer Heimat ("alles wird umhüllt von der Harmonie der Farben und der Wärme des Lichts"), der andere, "Nightsongs", im Exil in den USA. Darin "verarbeitet Nabili eine zweifache Entfremdung, die des Exils und der Ausbeutung. Sie zeichnet das einfühlsame Porträt einer chinesischen Einwandererfamilie, die bescheiden in einer beengten Wohnung in New Yorks Chinatown lebt ... Wie selbstverständlich nimmt die Familie noch eine junge Cousine auf, die mit den anderen chinesischen Boatpeople aus Vietnam geflohen ist, eine gebildete Frau aus vornehmer Familie, völlig ungeeignet für die Arbeit in der Nähfabrik. Sie bringt chinesische Poesie mit, die sich aus dem Off über den Film legt. Ihre Stille und ihre Zartheit geben dem Film eine einnehmende Intimität."

Zelda Biller, die nach Tel Aviv ausgewandert ist, fällt aus allen Wolken: "Der schlechteste Film, den ich bisher gesehen habe, heißt 'Farha', läuft seit zwei Wochen auf Netflix und ist nichts anderes als antiisraelischer Propaganda-Kitsch", der in Israel mal wieder die Nazis von heute imaginiert, schreibt sie in ihrem in der NZZ veröffentlichten Briefwechsel mit Dana Vowinckel: 'Dass der Film der jordanischen Regisseurin Sallam in Israel zum Politikum werden würde, war vorhersehbar. Der Finanzminister Lieberman will, dass das Kino in Jaffa, das 'Farha' vor zwei Wochen gezeigt hat, nicht mehr staatlich gefördert wird, und auf Instagram verkünden israelische Influencer, dass sie ihr Netflix-Abo gekündigt haben."

Der Filmdienst spricht mit Isaki Lacuesta über dessen (in SZ und taz besprochenes) Trauma-Drama "Frieden, Liebe und Death Metal". Der Film schildert das Jahr einiger Überlebender nach dem Bataclan-Anschlag. Entsprechend spricht Lacuesta viel über Traumabewältigung: "Im Film geht es um Trauer und um posttraumatischen Stress, aber es war mir wichtig, dass der Film voller Gefühle, Musik und Farbe ist. Es ist ein Liebesfilm über zwei Personen, die darum kämpfen weiterzumachen. Und auch darum, weiterhin auf Rock-Konzerte gehen zu können, weil sie die Musik und die Poesie in ihrem Leben nicht verlieren wollen. Das Hauptthema des Films ist dieses 'Nicht aufgeben'. Als ich nach langer Zeit des Pandemie-Lockdowns endlich wieder auf einem Konzert war, habe ich das selbst gespürt, dieses Gefühl kollektiver Katharsis. Das geht rauf und runter, von der Euphorie zur Trauer, wenn plötzlich von toten Freunden und schrecklichen Erlebnissen erzählt wird."

Außerdem: Kira Taszman hat für critic.de ein Gespräch mit dem Schauspieler Pascal Greggory geführt, der aktuell in Mia Hansen-Løves "An einem schönen Morgen" (unsere Kritik) zu sehen ist. Dominik Kamalzadeh plaudert im Standard mit James Cameron über dessen neuen "Avatar"-Film (mehr dazu hier).

Besprochen werden Charlotte Wells' "Aftersun" (SZ), Michael Kochs Schweizer Oscarkandidat "Drei Winter" (taz, Tsp) und die Netflix-Dokuserie "Harry & Meghan" (Welt). Außerdem weiß die SZ, welche Filme sich diese Woche lohnen und welche nicht.
Archiv: Film

Musik

Tabea Köbler stellt in der taz die Musik von Fritz Brückner vor. Der Leipziger Musiker spielte schon für Jan Böhmermanns Rundfunk-Tanzorchester, für sein Projekt Modus Pitch bevorzugt er allerdings experimentellere Sounds. Beeindruckend findet Köbler das Album "Polyism" auch wegen der zahlreichen "stilistischen Einflüsse von Jazz, Avantgarde und Klassik über elektronische Musik bis hin zu Dub und Funk und dennoch wirkt es kaum zitathaft. Vielmehr erscheinen die Stücke als Teil einer fließenden musikalischen Ausdrucksweise in einer eigenen, extrem assoziativen Klangsprache. Makroaufnahmen gehen nahtlos in Surroundsound über, gewaltige Räume bauen sich auf und brechen jäh wieder ab: In 'Compound Eye Dialogue' lassen sich zunächst schneidende Einwürfe eines Synthesizers ganz aus der mikrofonierten Nähe hören. Dann wächst im Hintergrund aus Bässen und Flimmern ein weiteres Panorama ringsherum. Das klingt, als wäre es immer schon da gewesen, bloß unbemerkt."



Weitere Artikel: In der Zeit nimmt Christine Lemke-Matwey den wegen seiner finanziellen Verbindungen zum Putin-Regime kritisierten Dirigenten Teodor Currentzis in Schutz. Obwohl: "Die Gepflogenheiten des Musikbetriebs zu durchleuchten schadet nie", meint sie. Nur dass sich dieser "umtriebige Publizist und Blogger Axel Brüggemann ... hier sehr hervorgetan, indem er mehrfach die 'Wahrheit' über Teodor Currentzis verkündete, dessen 'Whitewashing' durch westliche Institutionen anprangerte und Veranstalter erfolgreich umstimmte", missfällt ihr sehr. In ihrer VAN-Reportage wirft Merle Krafeld einen Blick darauf, wie hinter Gefängnismauern Kammermusik gelehrt und gespielt wird. In der VAN-Reihe über Komponistinnen schreibt Arno Lücker hier über Vivian Fung und dort über Maria Frederica Stedingk.

Besprochen werden eine Schumann-Aufnahme der Berliner Staatskapelle unter Daniel Barenboim (Tsp) und ein von Kristjan Järvi dirigiertes Konzert der Baltic Sea Philharmonic (NZZ).
Archiv: Musik