Efeu - Die Kulturrundschau

Es ist pure Liebe. Pures Licht

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
22.12.2022. Die FAZ betrachtet den neuen Geschwisterfrieden in der Kunsthalle Tübingen. Die Welt würdigt Sivan Ben Yishais "Bühnenbeschimpfung" am Gorki Theater als Angriff auf die eigene Blase aus der Blase heraus - hätte ihm nur Regisseur Sebastian Nübling nicht den Stachel gezogen. Die SZ fragt entgeistert, was an der "Harry & Meghan"-Netflix-Serie bitte schön dokumentarisch sein soll? Das VAN-Magazin unterhält sich mit dem Youth Symphony Orchestra of Ukraine. Die taz erinnert an die deutsch-litauische Malerpoetin Aldona Gustas.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 22.12.2022 finden Sie hier

Kunst

Cindy Sherman: Untitled, 2016. Bild: Cindy Sherman/Hauser&Wirth 


Verwandtschaft war lange Zeit etwas, von dem man sich befreien musste, damit das moderne Ich zu sich selbst finden konnte. Das hat sich geändert, wie die Ausstellung "Sisters & Brothers. 500 Jahre Geschwister in der Kunst" in der Tübinger Kunsthalle. "Zerstörerische Emotionen" gibt es hier eher selten, notiert Alexandra Wach in der FAZ, während sie auf die sich zugeneigten Preußenschwestern Johann Gottfried Schadows oder die Fotos von Heinrich Kühn blickt, der seine Kinder mit "Weichheit ohne Süßlichkeit" zu porträtieren suchte: "Eine kritische Geometrie möglicher Konstellationen bricht erst unter den Zeitgenossen auf, denn sowohl der Erste Weltkrieg als auch die Zeit des Nationalsozialismus lassen die Vorstellung einer in der Not beschützenden Geschwisterzelle aufkommen, die Antagonismen nicht duldet. Selbst ein Otto Dix verfällt 1929 dem Trend und malt drei putzige Kleinkinder in harmlos verspielter Umarmung. Das Klischee der sich in Liebe zugeneigten Geschwister parodiert 2016 allerdings Cindy Sherman. Die US-Amerikanerin schlüpft in die Rolle vierer fiktiver Schwestern, allesamt Klone ihrer selbst, die keinerlei Platz für Konkurrenzdenken übrig lassen."

Weitere Artikel: Sören Kittel berichtet in der Berliner Zeitung weiter vom erfolgreichen Rechtsstreit des Galeristen Johann König gegen die Zeit, die gerade vergeblich versucht, sich gegen den Vorwurf des Rufmords zu wehren. Boris Pofalla reiste für die Welt in die texanische Wüste, um dort die Galerie von Max Hetzler im 1700 Einwohner großen Marfa zu besuchen. Steffi Pyanoe besucht für den Tagesspiegel den Fotografen Daniel Biskup. Christian Zaschke stellt in der SZ das neue Museum of Broadway in New York vor.

Besprochen werden die Ausstellung "Roads not Taken" im Deutschen Historischen Museum in Berlin (Welt), die Ausstellung "Ausnahmezustand" mit junger polnischer Fotografie in der Berliner Zitadelle Spandau (Tsp) und eine Ausstellung zum 200. Todestag Canovas in den Musei Civici in Bassano del Grappa (Tsp)
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Film

Die Filmkritik liebt den Esel EO (Symbolbild)

Jerzy Skolimowskis Bresson-Update "EO" über einen vagabundierenden Esel geht der Filmkritik sehr nahe. "Wen der Anblick eines verlorenen Esels nicht zu Tränen rührt, der ist sowieso ganz falsch im Kino und wahrscheinlich auch in der Welt", schreibt Patrick Holzapfel im Perlentaucher. Doch Skolimowski und sein Kameramann Michał Dymek wagen auch den Sprung in die Perspektive des Esel, sie "nähern sich in surreal schwebenden, monochrom gefärbten Welten dessen Träumen und Erinnerungen." Solche Perspektivwechsel sind so "dämlich wie genial. Genial ist es, weil es Kamera und die gescholtene Seele des Protagonisten gleichermaßen befreit und so zu einer Art Hoffnungsschimmer wird, in dieser zwar niemals nur grausamen, aber doch unerträglichen und einschließenden Welt zwischen Zirkus, Fußballvereinen und Adeligen. Diese Bilder sind nur ein Aspekt der zahlreichen befreienden formalen Experimente, auf die sich der Filmemacher einlässt. Dämlich, weil es in einem aufrichtig an den Tieren interessierten Film nichts Unpassenderes gibt, als die zutiefst menschliche Fantasie, dass man deren innere Welt bebildern könnte."

Aus den Augen eines Esels betrachtet, "wirkt der Bereich des Menschlichen wie ein absurdes Theater", schreibt Philipp Stadelmaier in der SZ. Mit dieser Verschiebung "erforscht Skolimowski die Seele eines Esels, seine Spiritualität. Den Eseln dieser Welt mag das egal sein. Aber es macht uns Zuschauer, zumindest für die Dauer dieses Films, vielleicht zu etwas besseren Menschen." Für Welt-Kritikerin Marie-Luise Goldmann ist "EO" ein "Meisterwerk der Ambivalenz". Daniel Kothenschulte hat für die FR mit dem Regisseur gesprochen.

Gut inszeniert: "Harry & Meghan" 

In der SZ ärgert sich Susan Vahabzadeh, das die von Harry & Meghan produzierte Netflix-Porträtserie über sich selbst ernsthaft als dokumentarisches Format annonciert und von der Kritik auch noch so besprochen wird: "Das ist seit ein paar Jahren ein Unding: Selbstporträts - ein Film über eine Person, die gleichzeitig auch Produzent oder Produzentin des Film ist. 'Becoming', auch auf Netflix zu sehen, ein Film über Michelle Obama, hat einiges mit dem von ihr geschriebenen gleichnamigen Buch gemein, und das Bild, das sich der Film von Michelle Obama macht, hat Michelle Obama gemalt. ... All diese Selbstporträts gehören zu einer Zeit, in der Menschen davon leben, und mitunter nur davon, dass sie sich selbst zu Marken machen. Egal, ob man diese Filme dann gut findet oder sterbenslangweilig: 'Dokus' sind sie nicht. Ein Waschmittelwerbespot ist auch keine Dokumentation über Seifenpulver."

Weitere Artikel: taz-Mexiko-Korrespondent Wolf-Dieter Vogel wirft einen Blick auf Netflix' Blick auf Mexiko. Matthias Heine erzählt in der Welt die Geschichte, wie es dazu kam, dass David Lynch in Steven Spielbergs autobiografischem "The Fabelmans" Hollywood-Legende John Ford verkörperte. Hier ein Ausschnitt:



Besprochen werden Giuseppe Tornatores Dokumentarfilm "Ennio Morricone - der Maestro" (Perlentaucher, Standard, mehr dazu hier), Kasi Lemmons' Biopic "I Wanna Dance With Somebody" über Whitney Houston (Presse, NZZ), die DVD-Ausgabe von Takayuki Hiraos Animationsfilm "Pompo: The Cinephile" (taz), Xavier Giannolis Balzac-Verfilmung "Verlorene Illusionen" (taz, FAZ), Florian David Fitz' Transgender-Komödie "Oskars Kleid" (Standard, SZ) und die "Star Wars"-Serie "Andor" (Jungle World). Außerdem weiß die SZ, welche Filme sich in dieser Woche lohnen und welche nicht. Und: Die Filmdienst-Kritiker küren ihre besten Filme des Jahres.
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Literatur

Aldona Gustas 2012. Foto: Dietmar Bührer, unter cc-Lizenz


In der taz schreibt Waltraud Schwab einen Nachruf auf Aldona Gustas. Die in Litauen geborene, 1945 nach Flucht in Berlin angekommene (und von den Feuilletons in den letzten Jahrzehnten eher nicht beachtete) Lyrikerin und Malerin war "eine eigene, eigensinnige und in ihrer Strenge und Beharrlichkeit, mit der sie sich der Poesie verschrieb, kompromisslose Frau." Gemeinsam mit Günter Grass und anderen gründete sie in den Siebzigern die Malerpoeten. Ihre Lyrik "war in ihrer bildhaften Kürze kalligrafisch", ihre reduzierte Malerei "stumme Poesie". Am beeindruckendsten in Gustas' Schaffen findet Schwab deren "Totenklage auf Georg Holmsten. Zehn Jahre lang pflegte sie ihren Mann. Sie fasst den Liebes- und Schmerzensweg dieser Zeit in ungefähr 700 Gedichte. Ungefähr, weil sie sie nicht zählte. Das Buch, das nach dem Tod von Holmsten im Jahr 2012 erschien, hat den Titel 'Untoter'. Es ist pure Liebe. Pures Licht."

Weiteres: Die NZZ bringt eine weitere Lieferung aus Sergei Gerasimows Kriegstagebuch aus Charkiw. Fritz Göttler schreibt in der SZ zum Tod der Schriftstellerin Barbara Noack.

Besprochen werden unter anderem Christoph Ransmayrs von Anselm Kiefer illustrierter Lyrikband "Unter einem Zuckerhimmel" (NZZ), Sara Paretskys Krimi Schiebung" (TA), Christian Hallers "Blitzgewitter" (ZeitOnline) und Hans Falladas RAD-Briefe aus dem besetzten Frankreich 1943 (FAZ). Außerdem kürt die SZ die besten Kinder- und Jugendbücher des Jahres.
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Bühne

"Bühnenbeschimpfung" am Maxim Gorki Theater Berlin. Foto © David Baltzer


Im Berliner Gorki Theater hatten die "Bühnenbeschimpfung" von Sivan Ben Yishai Premiere. Die läpperten zum Ende hin eher uninteressant aus, immerhin im ersten Teil hat sich taz-Kritikerin Katrin Bettina Müller ganz gut amüsiert: "Was ist alles scripted, was folgt Erwartungen, was sind die Verabredungen im Theater? Das erkundet der Text 'Bühnenbeschimpfung' von Sivan Ben Yishai, von Sebastian Nübling virtuos inszeniert. Er führt die Erwartung vor, dass die oben auf der Bühne doch sicher engagierte Künstler:innen seien, glühend für dieses Projekt, gerade im Gorki, einverstanden mit dem Text. Ach wirklich? Und sie halten das Mosern hinter der Bühne dagegen, das Flüstern unter sich. Sind nicht kurz vor der Premiere zwei Darsteller abgesprungen? Jetzt weiß man nicht mehr, was zum Stück gehört und was nicht. Es gibt großartige und lustige Momente in dieser Schauspieler-Selbstbespiegelung. Wenn die Berliner Künstlerin Aysima Ergün ohne Text und ohne Regieanweisung die verhasste Abhängigkeit von Text und Regie vorführt, rasend mit Nichts, bettelnd um Stoff."

In der Welt ärgert sich Jakob Hayner dagegen über eine verpasste Gelegenheit: Das Stück von Yishai ist großartig, aber ihm wurde "von einer mut- und ideenlosen Regie der Stachel gezogen", klagt er. "'Bühnenbeschimpfung' geht der Auseinandersetzung mit dem eigenen Haus nicht aus dem Weg, sondern geht sie frontal an. 'Ah, was ist eigentlich am Ende aus dieser Geschichte mit der Intendantin geworden?' Man windet sich, weicht aus. Das ist nur ein Beispiel unter vielen. 'Bühnenbeschimpfung' ist ein wütender Angriff auf die eigene Blase aus der Blase heraus. Politisches Theater? 'Smalltalk mit Leuten, die den gleichen Abschluss haben. Die gleichen Leute, die gleichen Bücher, die gleichen Gedanken'. Subventionstheater? 'Buuhs für das Gesamtsystem! Juhus für das Kultursystem!' Hier wetzt jemand das Messer, um den neuen heiligen Kühen des Betriebs an die Gurgel zu gehen. Blöd nur, dass der Regisseur Sebastian Nübling offenbar kein Blut sehen kann."

Wie gestern schon gemeldet, wird Stefan Bachmann neuer Intendant des Wiener Burgtheaters, nachdem ein zermürbter Martin Kusej erklärt hatte, seinen Vertrag nicht verlängern zu wollen. Solide Wahl, kommentiert knapp die FAZ. Auch Andreas Wilink scheint in der nachtkritik ganz zufrieden mit der Wahl zu sein. Im Standard resümiert Margarete Affenzeller die Ära Kusej, Ronald Pohl porträtiert den neuen Intendanten Bachmann, der außerdem im Interview seine Pläne darlegen darf. Jakob Hayner berichtet in der Welt von der Pressekonferenz des Burgtheaters (Christine Dössel berichtet in der SZ).

Weitere Artikel: Yuliya Shein, die an der Gluck-Gesamtausgabe mitarbeitet, spricht im Interview mit dem Van Magazin über den Komponisten.

Besprochen werden Hans Krásas "Verlobung im Traum" in Ostrava und Prag (nmz) Paul-Georg Dittrichs Inszenierung der Strauss-Oper "Elektra" am Theater Münster (nmz), Leon Bornemanns Inszenierung von Sören Hornungs Monolog "Die letzte Geschichte der Menschheit" mit Tanja Merlin Graf in der Hauptrolle in der Box des Schauspiels Frankfurt (FR), Juan Mirandas Adaption von Samanta Schweblins Roman "Das Gift" im Ballhof in Hannover (taz) und Lilja Rupprechts Inszenierung von Camus' "Caligula" in den Kammerspielen des Deutschen Theaters Berlin (FAZ).
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Musik

Jeffrey Arlo Brown vom VAN-Magazin nutzte die Gelegenheit eines Berliner Konzerts des Youth Symphony Orchestra of Ukraine um ein Update von den Musikerinnen einzuholen, mit denen er bereits im letzten März sprechen konnte. Mittlerweile konnten sie aus dem Kriegsgebiet fliehen und sind an diversen Konservatorien in Europa untergekommen. "Wir sind diesen Krieg wirklich leid", erzählt die mittlerweile in Würzburg lebende Geigerin Alexandra Zaytseva. "Jetzt verstehen alle, dass er nicht so bald zu Ende sein wird. Es ist kompliziert, aber wir sind auch stärker geworden. Wir bleiben zusammen. Das ist die neue Realität; wir gewöhnen uns an den Krieg. Alle Musiker:innen sind im Moment in Sicherheit. Einige haben ihr Zuhause verloren - ihre Wohnungen oder Häuser wurden bombardiert. Einige haben ihre Instrumente verloren. Natürlich sind viele Väter, Brüder und Onkel der Musiker:innen jetzt an der Front. Ich kann nicht sagen, dass es ihnen gut geht, aber sie überleben."

Weitere Artikel: Für die NZZ spricht Adrian Schräder mit dem Berner Rapper Tommy Vercetti über dessen neues Album und den Stand der Dinge im Schweizer Rap. Im VAN-Gespräch erinnert sich die Sopranistin Janet Williams an ihre Lehrerin Camilla Williams. In der VAN-Reihe über Komponistinnen schreibt Arno Lücker hier über Jane Savage und dort über Marie Franz. Tobias Haberl berichtet in der SZ von seinem Treffen mit John Jürgens, der gerade eine CD-Box mit Aufnahmen seines Vaters Udo Jürgens zusammengestellt hat. Mariah Carey ist gescheitert mit ihrem Versuch, sich den Anspruch auf den Titel "Queen of Christmas" juristisch zu sichern, meldet Karl Fluch im Standard.

Besprochen werden ein Liederabend mit Benjamin Bernheim (FR) und das neue Album des Londoner Postpunk-Trios Big Joanie (taz).

Archiv: Musik