Efeu - Die Kulturrundschau

Oder ich zanke mit Mami

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
09.12.2022. Kollektivpanik ist Religionsausübung, ruft Jonathan Meese im Gespräch mit der SZ (zusammen mit Alexander Kluge) allen Aktivisten entgegen. Die Welt erzählt, wie deutsche Behörden den iranischen Filmemacher Ata Mehrad schikanieren. Der Tagesspiegel fragt nach der Premiere von Antoine Fuquas Sklavereidrama "Emancipation": Black Trauma Porn, wirklich? Die FAZ liest in Nora Kienasts Dissertation "Musikwettbewerbe unter Legitimationsdruck" von Seilschaften und Absprachen im Klassikbetrieb.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 09.12.2022 finden Sie hier

Kunst

Jonathan Meese, ""Hagen-von-Troja-Kino" (Hanswurscht "Keinangst"!), 2022


Alexander Gorkow und Matthias Grundmann haben sich für die SZ ins "Fleurs du mal" begeben, um mit Jonathan Meese und Alexander Kluge über deren Ausstellung in der Galerie "Knust / Kunz" zu plaudern. Um die Ausstellung gehts dann aber gar nicht, sondern um Bayreuth, Wagner, Kollektivängste und die Freiheit der Kunst. Und zu der hat Meese, der wie immer erst mal völlig gaga rüberkommt, eine kompromisslose Meinung: "Ich bin ein Kind und zugleich eine Traumfigur. Denn ich will nichts mit mir zu tun haben. Ich interessiere mich für mich selber überhaupt nicht. Ich schlafe viel. Und ich döse, wenn ich wach bin. Ich mache Kunst und döse, mache Kunst und döse. Ich schaue aus dem Fenster. Auch nach Feinden natürlich. Ob sich welche von ihnen nähern. Dann rufe ich Mami. Oder ich zanke mit Mami. Und wir vertragen uns dann und gehen einkaufen. Mein 'ich' aber ist vollkommen uninteressant, mein 'ich' ist eine maßlose Überschätzung von außen, mein 'ich' gibt es gar nicht ... Ich interessiere mich, wenn ich mich für mich interessiere, ausschließlich für meine privatesten Ängste, und wie ich sie besiege. Das sind auch keine Kollektivängste, verstehen Sie?" Kollektivpanik sei für ihn Religionsausübung. Gruppen wie die Klimaaktivisten "sprechen nur noch im Chor: Wir werden alle sterben! Wir müssen erwachen und den Weg zur Sonne finden! Bis dahin müssen wir leider alle Kunst zerstören! Jeder ein Ikarus seines eigenen, mickrigen 'Ichs'!"

Eigentlich sollte das Kunsthistorische Museum Wien dieser Tage eine Ausstellung der Al Thani Collection aus Katar eröffnen, dazu kam es nicht, weil die Provenienz einiger Bilder ungeklärt war, berichtet Olga Kronsteiner im Standard. Moral spielte bei der Entscheidung keine Rolle. Wie bei Kunst ja selten, denkt sie sich: "Egal ob Saudi-Arabien oder Katar: Wenn es abseits des Sports eine Branche gibt, die trotz Menschenrechtsverletzungen oder fragwürdiger Haltung zur Meinungsfreiheit keinerlei Berührungsängste mit diesen Regimes aufweist, dann die Kunstszene. Davon zeugen schon seit Jahren diverse Kooperationen, die, etwa im Falle Frankreichs und Saudi-Arabiens, sogar auf Regierungsebene und teils im Abgleich mit Waffengeschäften paktiert wurden. Ein profitables Business für alle Beteiligten. ... Scheicha Al-Mayassa gilt als eine der einflussreichsten Person im globalen Kunstbetrieb, mit einem geschätzten Einkaufsetat von zumindest einer Milliarde Dollar jährlich. Davon profitiert auch die lokale, aber vor allem die zeitgenössische Künstlerelite des Westens".

Weiteres: Ingeborg Ruthe stellt in der Berliner Zeitung die Turner-Preisträgerin Veronica Ryan vor. Im Tagesspiegel plädiert Rolf Brockschmidt dafür, die Elgin Marbles künftig als digitale Repliken in England zu zeigen.

Besprochen werden außerdem die Ausstellung "Deconstructed Bodies - In Search of Home" der sudanesischen Künstlerin Amna Elhassan in der Rotunde der Frankfurter Schirn (taz), eine Ausstellung Michel Majerus im Kunstverein Hamburg (taz), die Ausstellung "Blick, Macht und Gender" in der Hamburger Kunsthalle, die den Topos der männervernichtenden Femme fatale von 1800 bis heute untersucht (Welt), die Ausstellung "Roads not Taken" im Deutschen Historischen Museum Berlin (Tsp), eine Ausstellung mit abstrakter Kunst seit 1917 in der Berliner Galerie Brockstedt (Tsp) und eine Ausstellung des Schweizer Comiczeichners Cosey im Cartoonmuseum von Basel (FAZ).
Archiv: Kunst

Film

In der Welt erzählt Mladen Gladić die schlicht skandalöse Geschichte, wie es dem iranischen Filmemacher Ata Mehrad nun schon zum zweiten Mal verwehrt wurde, an einem deutschen Filmfestival teilzunehmen - und das nicht etwa wegen des Regimes in Teheran, sondern weil die deutsche Botschaft 2019 erst seinen Antrag verschustert hatte und ihm nun die Einreise verwehrt hat, weil sie fürchtet, Mehrad könne, einmal in Deutschland angekommen, auch noch Asyl beantragen - Vorwürfe, die er glaubhaft abwehrt: "Ata Mehrads Fall sei nicht singulär, meint Afsun Moshiry, die mit dem Regisseur bei 'Jadeh 99' zusammengearbeitet hat und auch für das Kasseler Dokfest arbeitet. Sie kenne andere Künstler aus dem Iran, denen kein Visum ausgestellt würde, auch in der jetzigen, politisch brisanten Situation. Dabei gehe es sowohl um Iranerinnen und Iraner, die in ihrem Heimatland Verfolgung zu befürchten hätten als auch um Fälle wie Ata Mehrad, die sich zwar in ihrer Kunst kritisch mit der iranischen Gesellschaft und Politik auseinandersetzten, an Auswanderung aber gar nicht dächten."

Starkörper und historisches Leid: "Emancipation"

Im Tagesspiegel bespricht Andreas Busche Antoine Fuquas mit Will Smith besetztes Sklavereidrama "Emancipation" vor dem Hintergrund der in den USA gerade geführten bildpolitischen Diskussion um "Black Trauma Porn", also den Vorwurf der reißerischen Ausschlachtung des historischen Leids der afroamerikanischen Community. "'Prestige-Produktion' steht in Großbuchstaben über jeder, in gestochen scharfem Schwarz-weiß gedrehten (und mit gelegentlich monochromen Farbtupfern versehenen) Einstellung. Die Sümpfe von Louisiana, durch die sich Will Smiths Figur auf der Flucht vor einem sadistischen Sklaventreiber (Ben Foster) bis zur rettenden Frontlinie durchschlägt, evozieren eine kalte Magnum-Ästhetik. Das Spalier von aufgespießten Köpfen, an dem Paul auf dem Weg zur Plantage vorbeigetrieben wird, ist ein Höllenbild und wirkt in seiner Stilisierung gleichzeitig obszön."

Außerdem: Rüdiger Suchsland spricht für Artechock mit der Filmemacherin Mia Hansen-Løve über deren Film "An einem schönen Morgen" (unsere Kritik). Thilo Wydra erinnert im Tagesspiegel an Steven Spielbergs "E.T.", der vor vierzig Jahren in die Kinos kam. Ralf Krämer empfiehlt im Freitag den Podcast "Kinderfilm".

Besprochen werden Noah Baumbachs Verfilmung von Don DeLillos Roman "Weißes Rauschen" (Artechock, FAZ), João Pedro Rodrigues' "Irrlicht" (Artechock, unsere Kritik), Takayuki Hiraos zum Verdruss von FAZ-Kritiker Dietmar Dath hierzulande leider nur auf Scheibe, aber nicht im Kino erschienener japanischer Animationsfilm "Pompo the Cinéphile", ein Band mit Essays des Wiener Filmtheoretikers Drehli Robnik (Standard), Guillermo del Toros Animationsfilm "Pinocchio" (taz), Johannes Hartmanns und Sandro Klopfsteins Schweiz-Groteske "Mad Heidi" (NZZ), die Netflix-Dokuserie "Harry & Megan" (FAZ, Tsp), die Westernserie "1883" (FAZ) und die neue "Räuber Hotzenplotz"-Verfilmung (Welt).
Archiv: Film

Literatur

Paul Jandl amüsiert sich in der NZZ über die Ankündigung des S.Fischer-Verlagschefs Oliver Vogel, den Berliner Standort auszubauen: Nur an der Spree könne man wirkliche Begegnungen machen, mit der Gegenwart auf Tuchfühlung gehen. Aber, ach, wenn da nur nicht die langen Wege wären: "Berlin ist, wenn man auf der Gartenparty der Suhrkamp-Verlegerin hören kann, wie Peter Handke einen Kritiker von der Zeit zu beleidigen versucht. Alle sind zufrieden, der im Mittelpunkt stehende Kritiker inklusive, weil wieder etwas los ist unter den Bäumen im Villenviertel Grunewald. " Aber ansonsten "erleben Autoren und Kritiker ja nur dort etwas, wo sie wohnen. Es gibt die Charlottenburg- und Wilmersdorfschriftsteller, die, wenn sie Glück haben, Schönebergschriftstellern über den Weg laufen, nur selten aber Prenzlauerbergschriftstellern. Etliche Kilometer liegen zwischen den Stadtteilen. ... Berlin ist durchzogen von kulturellen Gräben und mentalen Mauerresten."

Weitere Artikel: Sergei Gerasimow setzt in der NZZ sein Kriegstagebuch aus Charkiw fort. Michael Wurmitzer resümiert im Standard Annie Ernaux' Literaturnobelpreisrede (mehr dazu hier). Die FAZ hat Paul Ingendaays Bericht von Hans Magnus Enzensbergers Beerdigung online nachgereicht.

Besprochen werden unter anderem Theresa Hannigs Science-Fiction-Roman "Pantopia" (54books), Thomas von Steinaeckers Comicbiografie über Karlheinz von Stockhausen (Tsp), eine Ausstellung über die Schriftstellerin Anna Louisa Karsch im Gleimhaus in Halberstadt (online nachgereicht von der FAZ) und der Briefwechsel zwischen Sigmund Freud und Marie Bonaparte (FAZ).
Archiv: Literatur

Bühne

Ph. Marco Brescia & Rudy Amisano / teatro alla Scala

Die Mailänder Scala eröffnete die neue Saison trotz ukrainischer Proteste auf Russisch, meldet Kirsten Liese im Tagesspiegel. Ricardo Chailly dirigierte und Kasper Holten inszenierte Modest Mussorgskys Urfassung von "Boris Godunow". Sollte man ihn heute noch aufführen, fragt Liese und antwortet sich selbst: "Unbedingt sogar! Schließlich schildert Modest Mussorgski in seiner 1874 uraufgeführten, einzigen vollendeten Oper Zwangsherrschaft, Bespitzelung, Paranoia der Mächtigen und Manipulationen des Volkes." Schade nur, dass die Regie so hölzern ist und die musikalische Leitung eher oberflächlich, bedauert Liese. Der Chor der geschundenen Untertanen ist für sie der Höhepunkt des Abends: "Von wegen die Oper sende eine falsche Botschaft: In einem solchen Moment ist die reale Situation der Menschen in der Ukraine zum Greifen nahe". Michael Ernst findet in der nmz eigentlich die ganze Inszenierung gelungen: "Mit recht einfachen Mitteln wird überzeugend gezeigt, wie die Macht von Diktatoren und Usurpatoren funktioniert, während sie längst zum Scheitern verurteilt ist." In der FAZ sieht das Max Nyffeler ähnlich. Welt-Kritiker Manuel Brug hingegen hörte "Klangborschtsch" und die Chance, "wehtuende Gegenwart drastisch auf die Bühne zu stellen, nicht nur vage darauf zu verweisen", habe die Scala leider auch vergeben, bedauert er.

Weitere Artikel: Italiens Kulturminister Gennaro Sangiuliano "will mehr Geld und Tempo für die schleppende Digitalisierung" auch der Kultureinrichtungen, berichtet Andrea Dernbach im Tagesspiegel. Der Standard meldet, dass der neue italienische Kulturstaatssekretär Vittorio Sgarbi keine Ausländer mehr auf den Chefsesseln des Mailänder Opernhauses und der Uffizien will, wogegen sich Scala-Chef Dominique Meyer verwehrt. Die NZZ meldet, dass Paavo Järvi und Ilona Schmiel Zürich als Musikdirektor und Intendantin der Tonhalle bis 2029 erhalten bleiben.

Besprochen werden außerdem Rene Polleschs "Und jetzt?" an der Berliner Volksbühne (Leander F. Badura wünschte sich im Freitag, Pollesch würde mehr Lenin zu wagen), Caroline Creutzburgs "Die Vielhundertjährigen" im Frankfurter Mousonturm (FR), She She Pops Neuauflage ihrer Performance "Schubladen" im Berliner HAU (BlZ, nachtkritik) und die Bühnenfassung von Alja Rachmanowas Roman "Die Milchfrau" am Kosmos Theater Wien (BlZ, Standard), Tschaikowskis "Nussknacker" in Stuttgart und John Neumeisters "Dona Nobis Pacem" in Hamburg (SZ) und Felicia Zellers "Einsame Menschen" am Berliner Ensemble (FAZ).
Archiv: Bühne

Musik

Nora Kienasts Dissertation "Musikwettbewerbe unter Legitimationsdruck" hat das Zeug zum Paukenschlag, schreibt Clemens Haustein in der FAZ. Befragt hatte sie dafür zehn Juroren und vier Wettbewerbsteilnehmer. Für die Arbeit von Jurys bei Musikwettbewerben ergebe sich "ein nachdrücklicher Vorwurf mangelnder Transparenz." Man erfährt "von Seilschaften, von Gruppendynamiken in den Jurys, bei denen sich Wortführer herausbilden und solche, die sich mehr oder weniger meinungslos einer Entscheidung anschließen; sie berichten, Zeuge geworden zu sein von sogenannten 'Deals': etwa dass der Schüler des jeweils anderen Jurors mit einer besonders hohen Punktzahl bewertet wurde. So lässt sich das allseits übliche Verbot aushebeln, für den eigenen Schüler zu stimmen." Haustein liest auch, "dass kartellartige Strukturen auftreten: Ein mehr oder weniger fester Kreis an Künstlern oder Professoren schanzt sich gegenseitig Juryteilnahmen zu." Dlf Kultur hat bereits im September mit der Autorin gesprochen.

Der zu beobachtende Twitter-Niedergang ruft in VAN-Autor Jeffrey Arlo Brown schon vorab tiefe Trauer hervor: Auch die Klassik-Bubble trat auf der Plattform in angeregten Austausch. Sie "machte die Kneipendiskussionen nach dem Konzert öffentlich und holte eine ganze Schar Unbekannter mit an den Tisch." Diese "Klassik-Crowd auf Twitter wurde zum aufmüpfigen Gewissen einer Branche, die keine Kontrolle von außen gewohnt war." Dass heute mehr Schwarze in der klassischen Musik sichtbar werden, sei auch eine Folge dessen: "Als ich diesen Herbst in der Berliner Philharmonie Yannick Nézet-Séguin und das Philadelphia Orchestra mit Florence Price' erster Symphonie hörte, dachte ich: Dieses Konzert verdanken wir Twitter. Natürlich nicht nur Twitter - was offline für dieses Programm getan wurde, war mindestens genauso wichtig -, aber eben auch bestimmten Gruppen, die die Plattform jahrelang für ihre musikalische Graswurzelbewegung genutzt haben."

Weitere Artikel: Julian Weber spricht in der taz mit der Musikerin Lolina unter anderem über Machtverhältnisse im Pop. Die FDP ist sich auch Bundes- und Landesebene höchst uneinig, wie sie zu Erhalt oder Auflösung der Rundfunk-Orchester steht, berichtet Hartmut Welscher im VAN-Magazin. Merle Krafeld vom VAN-Magazin steht einigermaßen ratlos vor der Tatsache, dass die Elbphilharmonie ein Escape-Game veröffentlicht hat.

Besprochen werden das Comeback-Album "Unity" von Nina Hagen (Zeit, Freitag), das neue Sido-Album (ZeitOnline, SZ), ein Auftritt von Voodoo Jürgens (Presse), ein Konzert des Rundfunk-Sinfonieorchesters Berlin (Tsp), Dr. Johns Album "Things Happen That Way" (FR) und das Album "SOS" von SZA (Pitchfork).

Archiv: Musik