9punkt - Die Debattenrundschau

Willkommen, Schriftstellerchen

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
02.08.2014. In der taz übermittelt Najem Wali schlechte Nachrichten aus Bagdad. Hélène Cisoux wünscht sich von Künstlern etwas mehr Dekonstruktion. Slate beobachtet fassungslos Putins neuen Schlag gegen russische Blogger; in Hongkong helfen auch gern die Triaden bei der Einschüchterung von kritischen Websites, weiß die SZ. In der NZZ fordert Peter Esterhazy von den Ungarn mehr Toleranz.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 02.08.2014 finden Sie hier

Medien

Schlichtweg "irrsinnig" nennt Mark Joseph Stern in Slate.com Putins Schlag gegen Russlands Blogger, die sich jetzt - ab 3.000 Leser - offiziell als Journalisten registrieren lassen müssen: "Registration entails turning over your personal details to the government-including, of course, your name, meaning anonymous blogging is now illegal for many. Bloggers will also be held liable for any alleged misinformation they publish, even in comments written by somebody else. And, insult to injury, bloggers aren"t even allowed to use profanity; a single naughty word would put them in violation of the law. Failure to comply results in a 280 Dollar to 1,400 Dollar fine as well as a ban on your blog."

Hongkongs Medien
sind schon längst auf Pekinger Linie gebracht, nach den Protesten vor einem Monat wurde nach einer brutalen Einschüchterungskampagne auch die beliebte Website House News dicht gemacht, berichtet der Journalist und Blogger Evan Fowler in der SZ (mehr hier): "Für viele in Hongkong rufen diese gewalttätigen Angriffe alte Erinnerungen wach, Erinnerungen an die Zeit von Mao Zedongs Kulturrevolution. In dieser Zeit zwischen 1966 und 1976, trugen die Triaden-Gangs das Gewalttätige dieser Kulturrevolution nach Hongkong. Es hat sich etwas geändert. Man liest es nirgendwo. Aber man hört auf der Straße die Menschen oft über ihre Furcht sprechen, dass in Hongkong nicht länger nur "Rot" zähle, also die politische Einschüchterung. Es herrsche zunehmend "Schwarz", die Einschüchterung durch die Gewalt der Triaden also, die oft in politischem Dienst stehen."
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Politik

Der Schriftsteller Najem Wali setzt sein Bagdad-Tagebuch fort, da seine dortige Facebook-Freundin wieder Neuigkeiten posten konnte: "Willkommen, Schriftstellerchen. Die Lage verspricht nichts Gutes. Keiner glaubt die Nachrichten. Isis breitet sich um Bagdad herum aus. Die Milizen vermehren sich in den Stadtteilen von Bagdad wie die Pilze. Die Leute haben Angst, und sie hören immer mehr auf Gerüchte."

In der Welt sieht Richard Herzinger eine neue Aggressivität in der türkischen Politik aufziehen: "Unter Führung von Ministerpräsident Recep Erdogan, der sich jetzt in das Amt des Staatspräsidenten wählen lassen will, und seiner AKP nimmt die Türkei einen immer bedrohlicheren Kurs in Richtung autoritärer Gleichschaltung von Staat und Gesellschaft unter islamistisch-religiösen ebenso wie militant nationalistischen Vorzeichen."

Weiteres: Der israelische Soziologe Moshe Zuckermann beschreibt in der taz, wie die "Profilierungsnot der Hamas" und die kleinen rechten Regierungsparteien die Auseinandersetzungen um Gaza anheizen. Premier Netanjahu bescheinigt er dabei überraschend eine "beachtliche Langmut". Stefan Buchen und Marie Delhaes suchen in der SZ nach einem höheren Sinn in den Katzenfotos, mit dem ihren Erkenntnissen zufolge die Dschihadisten der Isis neuerdings gern posieren.
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Gesellschaft

Die NZZ druckt Peter Esterhazys beim Pride-Festival in Budapest gehaltene Rede über Toleranz im Allgemeinen, in der ungarischen Gesellschaft und der katholischen Kirche - insbesondere gegenüber Homosexuellen: "Die katholische Kirche hält homosexuelle Handlungen für eine Sünde. Im günstigen Fall wird man die Kirche sagen hören: Sie, die Homosexuellen, sind ebenfalls unsere Brüder. Jedenfalls habe ich das, was der Wiener Kardinal Christoph Schönborn gesagt hat, von einem ungarischen Kardinal noch nicht gehört, dass nämlich "Menschen wie Conchita Wurst viel Spott, Gemeinheit und Intoleranz erfahren müssen"".
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Internet

Dass statistische Daten nicht technisch, sondern hermeneutisch ausgewertet müssen, sonst bringt Big Data gar nichts, erkennt Urs Hafner in der NZZ am Beispiel der Migrationsströme von Künstler, die Science gerade mit großem Tamtam veröffentlicht: Sie zeigt, dass die kulturellen Eliten über die Jahrhunderte in die gleichen Städte - Rom, Cordoba, Paris - wanderten wie alle anderen auch: "Mit dem Durchschnitt allein ist nicht viel gewonnen."

Johannes Wendt weist auf Zeit Online darauf hin, dass der bisherige NSA-Chef Keith Alexander sein Überwachungswissen in Kapital ummünzt und seine Dienste künftig mit der Firma IronNet Cybersecurity anbietet.
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Ideen

Im taz-Interview spricht die französische Philosophin Hélène Cixous über die écriture feminine, die Sprache der Poesie und die politische Kunst: "Kunst als politische Botschaft ist keine Kunst. Aber Kunst kann politische Konsequenzen haben. Wenn sie der Versuchung, Klischees zu reproduzieren, widersteht. Was schwierig ist. Ein Künstler ist nur insofern ein Künstler, wie er über das, was er weiß und kann, hinausgeht. Er muss der Erste sein, der überrascht ist. Heute geht Kunst mit dem Geld. Wenn du schnell öffentlichen Erfolg hast, heißt das nichts anderes, als dass du gut vermarktbar bist. Ein echter Künstler dekonstruiert den Markt."
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Geschichte

In der FR schreibt Christian Thomas sein Dossier zum Ersten Weltkrieg fort und kommt heute zum berühmten August-Erlebnis: "Groß die "trancehafte Lust", wie Carl Zuckmayer schrieb, "fast Wollust des Mit-Erlebens, Mit-Dabeiseins". Im kollektiven Gedächtnis hat sich seit Jahrzehnten die Erinnerung an eine große Euphorie erhalten; dass es sich bei dem großen Miteinander allerdings nicht um eine allgemeine, sämtliche Bevölkerungsgruppen, Schichten und Klassen erfassende Begeisterung handelte, hat sich erst in den letzten Jahrzehnten als Erkenntnis durchgesetzt. Die Kriegsbegeisterung, die die Truppen eskortierte, war ein vor allem bürgerliches Phänomen."
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Weiteres

Der Wirtschaftsautor Georg von Wallwitz spricht im Interview mit Marc Reichwein in der Welt über Geierfonds, Argentinien und das Allgemeinwohl: "Der ganze Charme eines marktwirtschaftlichen Systems besteht eigentlich darin, das Partikularinteresse für das Allgemeininteresse einzuspannen. Das ist die unsichtbare Hand von Adam Smith: Der Einzelne will zwar nur für sich selbst Wohlstand erzeugen, macht dadurch aber am Ende alle reicher. Das klappt mal besser, mal schlechter."

Außerdem: Melanie Mühl berichtet in der FAZ von einem Besuch bei der Zürcher Sterbehilfeorganisation Exit. Alexander Menden berichtet in der SZ von Versuchen britischer Wissenschaftler, Netzwerken Fairness einzuschreiben.
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Stichwörter: Argentinien, Smith, Adam