9punkt - Die Debattenrundschau

Die ungeheure Destruktivkraft des Individuums

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
18.11.2015. Während der Kampf gegen die Terroristen in Paris weitergeht, warnen Journalisten vor Kriegsrhetorik. Boualem Sansal plädiert in der FAZ aber für persönlichen Mut. Der Guardian weiß, was Belgien so attraktiv für Dschihadisten macht. Der Tagesspiegel macht sich Gedanken über Traumabewältigung im digitalen Zeitalter.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 18.11.2015 finden Sie hier

Europa

In Paris überstürzen sich heute morgen die Ereignisse. Wir verweisen hier wieder auf die englischsprachige Live-Berichterstattung von France24.

Charlie Hebdo reagiert auf die Anschläge: "Sie haben die Waffen, wir haben den Champagner."

In der NZZ hält Joachim Güntner nichts von der verbalen Aufrüstung. Die Kriegsrhetorik, meint er, spiele den Terroristen nur in die Hände, wenn er sie zu Kombattanten adelt: "Der Terrorkrieg ist ein Krieg der Werte. Damit steht alles auf dem Spiel, voran die Freiheit und ihre Freuden. Die Selbstmordattentäter von Paris attackierten die liberale Lebensform, die nicht nur Aufklärung, Meinungsfreiheit, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Marktwirtschaft zu garantieren sucht, sondern auch Hedonismus, Konsum, freie Sexualität, Kunst in allen Spielarten. Wie aber verteidigt der Bürger, der kein Soldat ist, eine Lebensform?"

Gustav Seibt riet in der SZ gestern dagegen davon ab, die hiesige Lebensweise als Wert hochzuhalten, da dies nur zu Streit mit anderen Lebensauffassungen führen könne (der Text steht jetzt online), und in der FAZ plädiert Christian Geyer nun dagegen, dass "die persönliche Freiheit zum absoluten, nicht einschränkbaren Wert" erklärt wird. "Muss man daran erinnern, dass es kein Menschenrecht auf Unbeschwertheit gibt?" In Le Monde warnt der Historiker Jean-Noël Jeanneney dagegen vor einem neuen München, vor Illusionen aus Bequemlichkeit und Konzessionen aus mangelnder Entschlossenheit. Wenn man die Toten, das Leid und die Trauer bedenkt, sind wir im Krieg, meint der Philosoph Etienne Balibar dagegen in Libération, aber in was für einem? Und welchen sollen Frankreich und Europa führen?

Boualem Sansal tritt im FAZ-Interview für persönlichen Mut ein: "Als Intellektueller, der darüber schreibt, dass wir für die Demokratie und gegen die Diktatur kämpfen müssen, kann ich mich doch nicht zugleich nach Paris oder Berlin zurückziehen. Ich muss dieselben Risiken eingehen wie die Menschen, die in Algerien leben." Und im Tagesspiegel erklärt Hanna Schygulla: "'Paris ist kein Terrain für Angsthasen. Die Leute verkriechen sich nicht, sobald Gefahr droht', sagte die 71-Jährige. 'Ihr Reflex ist: Gerade jetzt weiter auf die Straße gehen und zeigen, dass sie sich die Freiheit, zu leben, wie sie wollen, nicht nehmen lassen.'"

Kamel Daoud fühlt sich in seiner Kolumne für den Quotidien d'Oran an das Algerien der neunziger Jahre erinnert: "Zunächst trauert man, dann kommt der Tod so oft, dass er einen austrocknet. Dann kommt die andere, egoistische, aber humane Angst: Welches ist die Nationalität der Mörder? Nicht dass sie eine hätten, aber das Messer, das das Opfer tötet, tötet auch das Land, in dem es hergestellt wurde. Mörder unter den Flüchtlingen in Europa, das hieße Dutzende Tote in Frankreich, aber auch geschlossene Türen in Europa. Es wäre das Ende des Willkommens, eine Welt, die sich einschließt, und als das Ende der Welt für jene, die vor dem Krieg fliehen."

Bereits am Montag wollte der Soziologe Wolfgang Sofsky in der NZZ den derzeitigen Terrorkrieg als etwas Neuartiges vom altbekannten Terrorismus und vom Krieg unterscheiden: "Terrorkrieg nutzt die ungeheure Destruktivkraft des Individuums. Es genügten acht Subjekte, um eine ganze Gesellschaft in Entsetzen, Trauer und Ohnmacht zu stoßen."

Kristof Clerix weiß im Guardian, was Belgien eigentlich so attraktiv für Dschihadisten macht, außer dass man das kleine Land in alle Richtungen schnell verlassen kann: "Belgien hat einen kleinen Sicherheitsapparat. Obwohl Brüssel die diplomatische Hauptstadt der Welt ist, arbeiten bei der belgischen Staatssicherheit nur ungefähr 600 Beamte (die genaue Zahl ist geheim). Sein militärisches Pendant hat noch einmal die gleiche Zahl. Das ergibt gerade mal tausend Geheimdienst-Leute, um ein Land zu sichern, das nicht nur Nato und EU beherbergt, sondern neben der Weltzollbehörde, auch 2.500 internationale Behörden, 2000 internationale Konzerne und 150 Anwaltskanzleien."

Außerdem: In der Welt entwickelt der Militärhistoriker Martin van Creveld ein Szenario zur Bekämpfug der IS-Milizen. Bei zeit.de macht sich Laura Diaz Sorgen um muslimische Studenten, die in deutschen Universitäten keine Gebetsräume bekommen.
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Medien

Im Tagesspiegel blickt Christiane Peitz auf die Wandlung der Logos und Slogans, seit dem 11. September 2001, als das Fernsehen noch unangefochtenes Leitmedium war: "Wieder und wieder zeigte es die einstürzenden Türme - Traumabewältigung als Endlosschleife. Die heutige digitale Distribution von Nachrichten, Ereignissen, Reaktionen geht noch schneller vonstatten, ist vielfältiger vernetzt und deshalb besonders auf sofortige Erkennbarkeit angewiesen. Generation Hashtag: Wir begreifen nicht, was geschieht, und bringen es auf eine griffige Formel."

Überall wird gemeldet (etwa hier in der Presse), dass die Welt Matthias Matussek nach einer Äußerung auf Facebook und einem zotigen Auftritt in der Redaktionskonferenz rausschmeißt.
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Politik

In der New York Times ist Anne Barnard zwar nicht unbedingt überzeugt von der Sinnhaftigkeit von Luftschlägen, doch hält sie erst einmal fest: "The activist group Raqqa Is Being Slaughtered Silently, which opposes both the Islamic State and the Syrian government, also insisted that no civilians had been killed in the French barrages."

20 Jahre nach Ende des Bosnien-Krieges erinnert Erich Rathfelder in der taz an das Dayton-Abkommen, das in vielen Punkten Vorbild für Syrien sein könnte, in einem jedoch nicht: "Die sogenannte Stabilität (der Kompromiss mit den regierenden Cliquen) wird höher geschätzt als die demokratische Weiterentwicklung des Landes."
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