9punkt - Die Debattenrundschau

Das Schönste an Ankara

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
03.09.2016. Ist Erdogan der Kanzlerin so lange auf die Füße getreten, bis diese sich vor Schmerz zum Kotau krümmte? FAZ und Berliner Zeitung schreiben zum Hickhack um die Armenien-Resolution. Die SZ warnt vor einer Wiederauflage des Kulturkampfes, den Europa bereits gegen die Katholische Kirche verloren habe. Die NZZ beobachtet bei Gedenkveranstalungen für ermordete Juden in Litauen: Das Land wird offener und toleranter. Warum lesen Wirtschaftswissenschaftler eigentlich nicht mehr ihre Klassiker?, fragt die taz.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 03.09.2016 finden Sie hier

Europa

Als "Kotau vor Edogan" und ein abgekartetes Spiel über Bande betrachtet Christian Geyer in der FAZ das angetäuschte Dementi, mit dem Regierungssprecher Steffen Seibert letzten Endes die Armenien-Resolution des Bundestages relativierte. Immerhin hätten für die Resolution Abgeordnete Morddrohungen erhalten: "Sie haben sich nicht einschüchtern lassen. Nun lässt sie der Regierungssprecher für ein türkisches Linsengericht mal eben wissen, Politik werde nicht so heiß gegessen wie gekocht."

Christian Bommarius bemerkt in der Berliner Zeitung zu der Causa: "Außenpolitik ist 'die Kunst, einem anderen so lange auf den Zehen zu stehen, bis dieser sich entschuldigt', so der französische Staatsmann Charles-Maurice de Talleyrand." Er sieht allerdings keine Fehler bei der Bundesregierung, sondern von Erdogan einen Popanz aufgebaut.

Im Tagesspiegel berichtet Hülya Gürler von den europäischen Solidaritätsaktionen mit der Schriftstellerin Asli Erdogan, die seit über zwei Wochen im Gefängnis sitzt: "Menschenrechtler, Politiker, Gewerkschaftler und Kollegen von ihr halten vor dem Frauengefängnis im Istanbuler Stadtteil Bakirköy seit letzter Woche eine Mahnwache. Eine von ihnen ist Gaye Boralıoğlu. Die Istanbuler Autorin sieht nicht nur die Meinungsfreiheit in Gefahr: 'Jeder in der Türkei weiß, dass sich Erdoğan für den Frieden in den Kurdengebieten einsetzt. Ihre Verhaftung ist ein klares Signal der Regierung an Friedensaktivisten: So kann es auch euch ergehen, wenn ihr euch für den Frieden mit den Kurden einsetzt.' Ähnlich sieht es die Krimischreiberin Esmahan Aykol: 'Mit Erdoğans Verhaftung will die Regierung offensichtlich die Kurden vom Rest der Gesellschaft isolieren.'"

In seinen wöchentlichen Meldungen aus der Türkei blickt Bülent Mumay heute in der FAZ auf die ungeliebte Hauptstadt Ankara: "Der im diplomatischen Dienst tätige Lyriker Yahya Kemal Beyatli fand Trost in einem Satz, der noch heute gern verwendet wird: 'Das Schönste an Ankara ist die Rückkehr nach Istanbul.'" Im Guardian hat Yavuz Baydar nicht einmal eine Ahnung, was er verbrochen haben soll.
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Geschichte

In der SZ erinnert Gustav Seibt an die Kulturkämpfe, die Deutschland, Frankreich und Italien im 19. Jahrhundert gegen die Katholische Kirche austrugen und in denen sich heute die Muslime in Europa wiederfänden, ohne dass sie recht wüssten, wie ihnen geschieht. Er gibt sie allerdings verloren: "Es war, so fassen es heute Historiker kühl zusammen, ein Feldzug des Liberalismus, der seine eigenen Grundsätze in Frage stellte, weil der Gegner angeblich so illiberal und zurückgeblieben war. Letzteres stimmte übrigens durchaus. Im langwierigen Aufbauprozess moderner säkularer Staaten seit der Französischen Revolution hat sich die katholische Kirche als hemmende, feindliche Macht betätigt. Die Liste moderner Irrtümer etwa, die Papst Pius IX. 1866 veröffentlichte, übertrifft an Schärfe alle Fatwas heutiger Ayatollahs gegen Meinungs- und Religionsfreiheit. In Italien war der Kampf sogar kriegerisch, denn die Einigung dieses Landes konnte nur um den Preis der Abschaffung des Kirchenstaats gelingen."

Auf ZeitOnline rekapituliert Felix Stephan den ewigen, von Manuel Valls wieder entfachten Streit um die Marianne und ihre Brüste.

Litauen verändert sich, beobachtet Judith Leister, die sehr angetan über das Gedenken in den Kleinstädten Birzai, Moletai und Scheduva berichtet. Dort erinnerten Veranstaltungen an die von Litauern verübten Massaker an Juden vor 75 Jahren: "Drei Tage vor der Veranstaltung hat Marius Ivaskevicius einen weiteren Text unter dem Titel 'Ich bin kein Jude' veröffentlicht, in dem er beschreibt, dass das Schicksal seiner jüdischen Nachbarn, ihr spurloses Verschwinden, ihn nicht mehr loslässt. Dieser berührende Text und der gesellschaftliche Druck, den er erzeugte, sollen auch der Grund dafür gewesen sein, dass die litauische Präsidentin Grybauskaite das neue Denkmal kurzfristig und quasi inoffiziell vor der eigentlichen Veranstaltung besuchte. Vor einer Handvoll Journalisten sagte sie anschließend, dass die Litauer sich gerade veränderten, alte Stereotype überwänden, offener und toleranter würden und bereiter, sich für menschliche Werte einzusetzen."
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Politik

Schön wär es ja, wenn die Wirtschaftwissenschaftler in einem Elfenbeinturm lebten, spottet Ulrike Hermann in der taz, dann würden sie wenigstens weniger Schaden mit ihren weltfremden Modellen anrichten: "Zum Dogmatismus der Mainstream-Ökonomen gehört, dass sie die wichtigsten Theoretiker ihres eigenen Faches ignorieren. Adam Smith, Karl Marx und John Maynard Keynes werden an den Universitäten kaum, verzerrt oder gar nicht mehr gelehrt. Dabei haben diese Theoretiker ihre Disziplin begründet und umgewälzt. Ohne sie gäbe es die moderne Volkswirtschaftslehre überhaupt nicht."
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Gesellschaft

In der Welt denken der Soziologe Richard Sennett und der Ingenieur Carlo Ratti über die gesellschaftlichen Kosten von Diensten wie Uber und Airbnb nach: "Die Sharing-Ökonomie bringt einen tiefgreifenden Einbruch bei derzeit üblichen Produktionsweisen mit sich; es könnte in den Städten viele kleine Einzelhandelsunternehmen zugrunde richten; und es könnte unsere Kultur sogar mindern, statt zu bereichern. Was bedeutet, dass wir lernen müssen, wie man 'richtig' teilt."

In der NZZ hält der Jurist und frühere Leistungssportler Reinhard Merkel den Kampf gegen das Doping für falsch und aussichtslos. Und er widerspreche dem olympischen Geist des "Schneller, höher, weiter", meint Merkel.
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Medien

Im Guardian lästert Marina Hyde über Donald Trump, der die Mail auf 150 Millionen Dollar Schadenersatz verklagt für den bericht, Melania Trump habe als Eskort-Girl gearbeitet: "As the obvious joke goes, the far more damaging claim is that she is married to Donald Trump. I am interested, however, in the particular things that particularly enrage the Republican nominee in the US presidential election. I am interested in which untruths Trump will spout again and again, and I am interested in which untruths spouted by others he won't stomach."

In der FAZ berichtet Tobias Piller, wie die griechische Regierung versucht, ihren Einfluss auf das staatliche Fernsehen zu sichern.
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Stichwörter: Trump, Donald, Republica, Ägäis