9punkt - Die Debattenrundschau

Die kleine Schwester der Dämonisierung

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
22.03.2017. Vielsprachigkeit ist das Geheimnis der dritten Kultur, erklärt der Chemiker Gerd Folkers in der NZZ. Die FAZ macht sich Sorgen um das Lesen im digitalen Zeitalter. In L'Histoire erinnert Emmanuel Macron daran, dass die Kolonisierung Algeriens ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit war. Die taz besucht das  Danziger Museum des Zweiten Weltkriegs.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 22.03.2017 finden Sie hier

Wissenschaft

Nicht die Suche nach einer gemeinsamen Sprache zwischen Geistes- und Naturwissenschaften führt zu einer "dritten Kultur", sondern im Gegenteil Vielsprachigkeit, meint der Chemiker Gerd Folkers in der NZZ und nennt einige Beispiele für gelingende Interdisziplinarität: "So ist ein kürzlich gegründetes Zentrum für Robotik nicht nur mit Ingenieurinnen, Hirnforschern und Physikerinnen besetzt, sondern auch mit Philosophen, Soziologinnen, Linguisten und Juristen. So studieren Physiker die japanische Pinselschrift der Tokugawa-Zeit, um besser zu verstehen, was unser Gehirn von optischer Information lernt und was es sich als Weltmodell aus Vorurteilen zusammenbastelt."

Ein anderes interdisziplinäres Projekt stellt Fridtjof Küchemann in der FAZ vor. Es geht um die Zukunft des Lesens ohne physisches Buch. Mehr als hundertfünfzig Wissenschaftler haben sich laut Küchemann zur internationalen Initiative E-Read  zusammengeschlossen: "Welchen Einfluss hat das Lesegerät auf unsere Fähigkeit, das Gelesene zu erinnern? Welchen darauf, sich ins Lesen auch vertiefen zu können? Oder sich in das Gelesene einzufühlen? Welche Unterschiede gibt es hierbei zwischen Jüngeren und Älteren, zwischen Leseanfängern und souveränen Lesern, zwischen Männern und Frauen, zwischen den sogenannten digital natives und digital immigrants? Wenn wir das Lesen als eine für unsere Zivilisation zentrale Technik begreifen: Welche kognitiven, kulturellen und sozialen Implikationen hat dessen Digitalisierung?"
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Gesellschaft

So kann es mit der Prostitution nicht weitergehen, meint Nora Bossong, die für ihr jüngstes Buch in der Szene recherchiert hat, im Gespräch mit Tania Martini von der taz: "Ich bin mit dem Gedanken an Legalisierung reingegangen in die Recherche. Aber in dem Moment, wo wir etwas legalisieren, wird in den Köpfen ganz schnell die Verbindung gemacht: Etwas ist legal, also ist es legitim. Aber inwiefern ist es legitim, für Geld über den Körper eines anderen bestimmen zu können?"
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Stichwörter: Prostitution, Bossong, Nora

Geschichte

Im Interview mit der Zeitschrift L'Histoire, online in der französischen Huffpo, legt der französische Präsidentschaftskandidat Emmanuel Macron dar, warum er die Kolonisierung Algeriens ein "Verbrechen gegen die Menschlichkeit" genannt hat. Er spreche damit nicht auf die Algerienfranzosen oder die Verbrechen im Algerienkrieg an: "Da gab es Ausschreitungen, aber das ist nicht mein Punkt. Ich spreche ganz präzise von den Bedingungen der Kolonisierung selbst. Wir wissen, dass die ersten Kolonisatoren vor keinem Mittel zurückgescheut sind, um die begehrten Territorien zu erobern. In Algerien brauchte es siebzig Jahre Krieg und Massaker, um die französische Präsenz durchzusetzen. Ich spreche diese Ausschreitungen nicht als erster an. Das hat schon Clemenceau im Jahr 1885 getan."

Das von der nationalistischen neuen Regierung drangsalierte Danziger Museum des Zweiten Weltkriegs ist eröffnet worden. Holocaust und die Leiden der Zivilbevölkerung gehören zu seinen wichtisten Themen, berichtet Gabriele Lesser in der taz, und kein Aspekt des düsteren Geschehens wird verschwiegen: "Fotos von Leichenbergen verhungerter Sowjetsoldaten in Gefangenenlagern der Wehrmacht erinnern an die Millionen Opfer in der Sowjetunion. Die verschiedenen Formen der Kollaboration kommen zur Sprache, die meist von den Nazis inspirierten Pogrome der Lokalbevölkerung gegen ihre jüdischen Nachbarn, ebenso wie der Widerstand dagegen. Polen kommt in jedem der Ausstellungssäle vor." In einem Interview mit der Autorin betont Museumschef Paweł Machcewicz, dass das Überleben seines Hauses jetzt von einem Gericthsurteil abhängt - falls er unterliegt wird es einem noch nicht exisitierenden Kriegsmuseum untergeordnet.
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Ideen

In der NZZ wirbt Charlotte Wiedemann für mehr Verständnis für den Iran, dieses "schwierige und oftmals missverstandene Land". Vor allem die Unterscheidung zwischen "guten Persern" und "bösen Iranern" stößt ihr auf: "Verklärung ist die kleine Schwester der Dämonisierung. Iranische Künstler, zumal Frauen, erfahren im Westen eine besondere Empathie. Ihr Werk scheint allein schon deshalb zu leuchten, weil es aus einem vermeintlichen Reich der Finsternis kommt. Manche Künstler reiten diese Welle; anderen missfällt es, bei einer Auszeichnung nicht zu wissen, wie viel davon politisch motivierter Bonus ist. Heutige Persertümelei erinnert überdies an eine unselige Liaison zwischen Iran und Nationalsozialismus."

Außerdem: In der Welt schreibt Matthias Heine eine kleine Kulturgeschichte der Nazi-Vergleiche.
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Stichwörter: Iran, Wiedemann, Charlotte