9punkt - Die Debattenrundschau

Mit These 7 antworten

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
02.05.2017. Thomas de Maizière hat das Wort "Leitkultur" in die Runde geworfen, und die deutsche Öffentlichkeit formiert sich jäh nach altbekanntem Schema. Man soll Burka-Trägerinnen nicht ausgrenzen, sagt die taz. Und die SZ lehnt den Begriff als "spaltendes Kampfwort" ab. Politico.eu erklärt, wie Marine Le Pen doch noch siegen könnte: mit Hilfe der Mélenchon-Linken. Didier Eribon hält dieses Argument im Freitag für eine durchschaubare Strategie des Neoliberalismus. In der NZZ nimmt der Philosoph Michael Hampe sein Fach gegen den Vorwurf des Realitätsverlusts in Schutz.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 02.05.2017 finden Sie hier

Europa

Schwerpunkt "Leitkultur"-Debatte

Viel diskutiert werden Thomas de Maizières "zehn Thesen zu einer deutschen Leitkultur", die er ausgerechnet in der Bild am Sonntag, und das noch nicht mal online veröffentlicht hat. Zeit online druckt seinen Beitrag zum Glück nach. De Maizière schreibt zum Beispiel "wir sind nicht Burka". Was allerdings nicht heißt, dass er säkular denkt, denn er sieht Religion als "Kitt und nicht Keil der Gesellschaft". Er erklärt auch, warum er am Begriff der Leitkultur festhält: "Denn er hat zwei Wort­be­stand­tei­le. Zu­nächst das Wort Kul­tur. Das zeigt, worum es geht, näm­lich nicht um Rechts­re­geln, son­dern un­ge­schrie­be­ne Re­geln un­se­res Zu­sam­men­le­bens. Und das Wort 'lei­ten' ist etwas an­de­res als vorschreiben oder ver­pflich­ten. Viel­mehr geht es um das, was uns lei­tet, was uns wich­tig ist, was Richt­schnur ist. Eine sol­che Richt­schnur des Zu­sam­men­le­bens in Deutsch­land, das ist das, was ich unter Leit­kul­tur fasse."

Das Dumme ist, dass der Begriff "Leitkultur" die Debatte sofort ins altbekannte deutsche Schema zurückrückt.

Heide Oestreich antwortet in der taz als erstes mit der Verteidigung des Kopftuchs: "Den Nikab, der auch nicht oft gesichtet wird, tragen die einen unfreiwillig, andere aber auch freiwillig. Was hülfe es Ihnen, wenn die Gesellschaft sie zu Außenseiterinnen der Leitkultur erklärte? Man könnte auch mit These 7 antworten: dass man unterschiedliche Lebensformen akzeptiert - wenn sie denn freiwillig gelebt werden."

Heribert Prantl ist in der SZ erwartbar sauer: "Leitkultur ist kein integrierender, sondern ein polarisierender Begriff, ein spaltendes Kampfwort... Es ist daher kein Zufall, dass de Maizière an die Spitze seiner deutschen zehn Gebote den Satz 'Wir sind nicht Burka' gestellt hat. Das bestreitet zwar kaum einer, diktiert aber den Subtext des Folgenden: die Assoziationskette und die Ausgrenzungssemantik, die sich mit dem Signalwort 'Leitkultur' verbindet."

Außerdem: Jürgen Kaube erklärt in der FAZ, warum er die Debatte über "Leitkultur" für unergiebig hält.

==================

Marine Le Pen liegt im Wahlkampf gegenüber Emmanuel Macron zwar zurück, aber das heißt keineswegs, dass sie aufgegeben hat oder ungeschickt operiert. Nicholas Vinocur analysiert in politico.eu unter anderem, wie sie mit der französischen Superlinken verfährt, die eigentlich den Linkspopulisten Jean-Luc Mélenchon unterstützte. Da sie kaum auf ihre Stimmen für sich selbst hofft, setzt sie auf ihren Abstentionismus: "Sie bekommt schon eine Menge Rückenwind von der so genannten 'Weder noch'-Bewegung, die nach Mélenchons Niederlage entstand. Sie basiert auf jenen 36 Prozent der Mélenchon-Wähler, die unentschieden sind und sowohl Le Pen als auch Macron als Präsident ablehnen. Le Pen will ihren Hass auf Macron anfachen, unabhängig davon, ob sie am Ende von ihnen unterstützt wird. Darum setzt sie ihrem Rivalen immer mehr zu, beschimpft ihn als 'narzisstischen' Bänker, als Produkt des unpopulären Präsidenten François Hollande und einen schmierigen Kapitalisten, der einen 'Blitzkrieg' gegen Arbeiterrechte plane."
Archiv: Europa

Ideen

Der Philosoph Michael Hampe möchte es in der NZZ seinem Fach nicht länger in die Schuhe schieben lassen, dass die Grenze zwischen Wahrheit und Lüge langsam zu verschwinden droht. Philosophen wissen, dass absolute Wahrheiten nicht existieren, "kleine" Wahrheiten - etwa über die Existenz von Säuren, Mördern und Tumoren - aber doch: "Es waren selten Philosophen, sondern häufig die Philosophie missverstehende Kulturwissenschafter, die diese Differenz zwischen allgemeinen erkenntnistheoretischen Einsichten zum Großthema 'Wahrheit' und den konkreten Wahrheitspraktiken in Einzelwissenschaften und anderen Erkenntnisbereichen nicht berücksichtigt haben. An diesen Wahrheitspraktiken in den empirischen Einzelwissenschaften, in Jurisprudenz und Medizin, aber auch im Journalismus hängt das Projekt einer Existenz ohne Illusionen, eines aufgeklärten kollektiven Lebens."

Die Feministin Nancy Fraser hofft im Gespräch mit Houssam Hamade von der taz, dass man die Anliegen der identitären Linken mit denen der klassischen Linken zusammenführen kann: "Das Problem ist nicht der Kampf für Feminismus, LGBTQ-Rechte und gegen Rassismus, sondern die Trennung dieses Kampfs vom Kampf für soziale Gerechtigkeit." Frasers Lösung: "Wir müssen eine neue, linke Erzählung bieten. Eine ernsthaft egalitäre soziale Bewegung sollte sich mit der verlassenen Arbeiterklasse verbünden. Sie muss erklären, warum beides zusammengehört." Besonders der Arbeiterklasse, natürlich.

Ähnlich sieht es der nun fast schon zu Tode interviewte Didier Eribon im Gespräch mit Peter Rehberg vom Freitag, der im übrigen findet, dass der französische Wahlkampf keine Mobilisierung gegen Marine Le Pen nötig macht: "Marine Le Pen wird benutzt, um Macron als Lösung zu präsentieren."

Außerdem: Die NZZ hat das Vorwort aus Mark Lillas neuem Buch "The Shipwrecked Mind: On Political Reaction" übersetzt: "Man kann die moderne Geschichte überhaupt nicht verstehen, wenn man nicht begreift, in welchem Maß die politische Nostalgie des Reaktionärs sie mitgeformt hat; man erfasst die Gegenwart nicht wirklich, wenn man nicht erkennt, dass diese selbsterklärten Exilanten - genau wie die Revolutionäre - unsere Zeit vielleicht manchmal klarer sehen als wir, die uns in ihr zu Hause fühlen." Reinhard Mohr scheint das ähnlich zu sehen, er bescheinigt Linken und besonders den Grünen, heute die Sonntagspredigten "zur Verteidigung des Wahren, Schönen, Guten" zu halten, gegen die sie früher Sturm gelaufen sind.
Archiv: Ideen

Politik

Die USA befinden sich politisch in einer Lage, die für das Land unausdenkbar war, sagt Timothy Snyder im Gespräch mit Chauncey DeVega in Salon.com: "Unsere Idee davon, dass nichts schief gehen kann, ist die Idee, dass der freie Markt in der menschlichen Natur liegt, und dass der freie Markt Demokratie bringt, also steht alles zum allerbesten - natürlich ist jeder Bestandteil dieser Idee Nonsens. Die Griechen wussten schon, dass Demokratie mit großer Wahrscheinlichkeit zu Oligarchie führt, denn du bekommst Ungleichheit nicht mehr unter Kontrolle, wenn die Leute mit dem meisten Geld die Kontrolle an sich reißen." Snyder hält es in dem Gespräch für nicht ausgeschlossen, das Trump im Lauf seiner Präsidentschaft einen Coup versuchen wird, hofft aber auf die Stabilität der amerikanischen Institutionen.
Archiv: Politik
Stichwörter: Snyder, Timothy, Ungleichheit

Medien

Das Medienprojekt Republik.ch hat den Weltrekord für journalistisches Crowdfunding, den bisher das niederländische De Correspondent hielt, locker überschritten und kann mit Millionen von Franken in die Schweizer Medienwelt starten. Peter Hogenkamp sucht in seinem Blog bei Medium nach Gründen für diesen sagenhaften Erfolg, der die etablierten Medien in der Schweiz schon leicht säuerlich reagieren lässt: "Viel liegt sicher in der Person von Constantin Seibt. Er hat uns komplizierte Dinge wie den Swissair-Prozess, die Finanzkrise oder die Neue Rechte so erklärt, dass wir sie verstehen konnten. Mit kurzen Sätzen. Schillernden Metaphern. Aphorismen, die sich lesen, als hätte sie sich jemand nur für Seibts Artikel ausgedacht. Aus linker Optik natürlich, und manchmal eine Vereinfachungsstufe zu weit gedreht, aber immer gut zu lesen."
Archiv: Medien

Internet

In einem epischen Interview mit Zeit online erzählt der aus Schweinfurt stammende Informatiker und Unternehmer Florian Leibert, wie er mit zwei Kollegen ein "Betriebssystem für das 21. Jahrhundert" baut, wie es sich in Silicon Valley lebt und warum er seine Firma schlecht in Deutschland hätte gründen können: "Deutschland hat große Talente, die deutschen Unis sind super, es gibt dort eine Spitzenausbildung, die mit Amerika mithalten kann. Was in Deutschland fehlt, sind diese Riesenfirmen, in denen man Wachstum lernt. Also zum Beispiel Netflix, Twitter, Airbnb, Google, Facebook. Die Ingenieure, die dort anfangen, interessieren sich sehr schnell dafür, Infrastruktur zu bauen, die diese Millionen oder Milliarden Benutzer und somit das Wachstum der Firma unterstützen. Die Art der Softwareentwicklung hat sich krass verändert, seit man Milliarden von Nutzern und ein riesiges Datenwachstum verarbeiten muss."
Archiv: Internet
Stichwörter: Netflix, Silicon Valley, Airbnb