9punkt - Die Debattenrundschau

Enormer materieller Verzicht

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
06.10.2017. Politico.eu macht sich Sorgen um Rumänien, wo ein Referendum gegen die Homoehe vorbereitet wird - und gute Chancen hat: EU-Regeln würden damit gebrochen. In der FAZ legt die Ökonomin Justyna Schulz dar, warum die polnische Forderung nach Reparationen nicht abwegig ist. In der Welt fordert der Thinktank-Gründer Chandran Nair, dass sich die Welt nicht allein an westlichen Werten orientieren solle.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 06.10.2017 finden Sie hier

Europa

Auch Rumänien droht, sich im Zeichen des Rechtspopulismus von den westlichen Ländern der EU abzuwenden. Vehikel könnte ein Referendum gegen die Homoehe sein, das möglicherweise schon im November angesetzt wird - 30 Prozent Wahlbeteiligung werden ausreichen, eine von der EU verurteilte Diskriminierung festzuschreiben, schreibt Claudia Ciobanu bei politico.eu: "Die geplante Abstimmung verdankt sich einer Kampagne der 'Koalition für die Familie', die sich aus mehr als vierzig Gruppen zusammensetzt, die meisten von ihnen religiös oder ihrem Selbstverständnis nach 'pro-life'. Mit Unterstützung der einflussreichen orthodoxen Kirche sammelte die Organisation schon 2015 innerhalb von ein paar Monaten drei Millionen Unterschriften (Rumäniens Bevölkerung liegt bei zwanzig Millionen) - genug, um die Initiative ins Parlament zu bringen."

Das Attentat des David S. in München vor einem Jahr war eine rechtsextreme Tat, die ausschließlich auf Opfer mit Migrationshintergrund zielte, sagt der Politologe Florian Hartleb im Gepräch mit Konrad Litschko von der taz. Auf die Anmerkung, dass David S. selbst iranische Eltern hatte, sagt Hartleb: "Natürlich haben wir hier keinen klassischen Fall von Rechtsterrorismus. Aber es gibt eben keine Schablone für Extremismus. Auch Migranten können Migranten hassen, wie wir etwa von islamistischen Extremisten wissen. Und dort erkennt man ja auch sehr schnell auf Terrorismus, auch bei Einzeltätern." Am heutigen Freitag werden drei Gutachten zu der Tat vorgestellt, eines von Hartleb.

Das Referendum in Katalonien war illegal, das Ergebnis unglaubwürdig und Puigedemont ist ein Demagoge wie Orban und Erdogan, ruft Markus Becker auf Spiegelonline: "Er hat das Referendum in eine politische Waffe verwandelt, die er der spanischen Regierung und der EU auf die Brust setzt, und mit deren Hilfe er jenen Teil des eigenen Volks in Geiselhaft nimmt, der gegen die Abspaltung ist. Diese mutmaßliche Mehrheit wird zu einer Art menschlichem Schutzschild in einem Konflikt, der im Extremfall mit bürgerkriegsähnlichem Blutvergießen enden könnte."

So abwegig ist die Forderung nach Reparationen für den Krieg der Deutschen gegen Polen nicht, legt die Wirtschaftswissenschaftlerin Justyna Schulz, Direktorin des Instituts Zachodni in Poznań, in der FAZ dar. Zumindest wäre von deutscher Seite mal anzuerkennen, "dass die Versöhnung zwischen Deutschland und Polen nicht auf deutscher Scheckdiplomatie beruhte. Im Gegenteil, die Grundlage dafür lieferte ein enormer materieller Verzicht seitens des polnischen Staates und seiner Bürger. Deutschland hat zwar Reparationen in großem Umfang gezahlt, jedoch ist nur ein kleiner Prozentsatz (ein bis drei Prozent der Gesamtsumme) aus geopolitischen Gründen an bestimmte polnische Opfergruppen geflossen."
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Gesellschaft

Dass so gut wie alle Amokläufer Männer sind, wird seltsamerweise kaum thematisiert, schreibt der Soziologe Walter Hollstein in der NZZ. Und das ist natürlich nur die Spitze des Eisbergs: "Buben haben immer mehr Entwicklungsstörungen; sie brechen vermehrt Schule und Ausbildung ab; Jugendkriminalität ist fast ausschließlich Jungenkriminalität; die Unruhe-'Krankheit' ADHS ist Jungenmonopol. Immer mehr Buben wachsen vaterlos auf und damit ohne männliches Vorbild, das sie sicher ins Leben führt." Und: "Drei Viertel aller Suizidtoten sind Männer."
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Ideen

Diedrich Diederichsen spricht mit Julian Weber von der taz über sein neues Buch "Körpertreffer - Zur Ästhetik der nachpopulären Künste". Mit dem Begriff der "Intersektionalität", einem Kampfbegriff der Regenbogen-Linken, kann er nicht so viel anfangen: "Die Aufgabe von Intersektionalität ist es ja, je notwendig begrenzte Perspektiven zusammenzudenken, aber nicht das Verteilen von Rechten. Dass jemand qua Identität kein Recht haben sollte, über etwas zu reden, geht nicht. Es gibt immer Situationen, in denen es angemessen wäre, zu schweigen oder andere reden zu lassen, aber das ist eine Frage des Verhaltens in einer konkreten politischen Situation und betrifft nicht die Richtigkeit von Argumenten. Politisches Handeln muss beides würdigen."

Die Debatte "Globalisten gegen Populisten" wendet ein rein westliches Verständnis politischer Spaltungen auf den Rest der Welt an, beklagt in der Welt der Gründer des asiatischen Think Tanks Global Institute For Tomorrow, Chandran Nair. Er fürchtet eine Neuauflage des Kolonialismus, der sich in wirtschaftlichen und kulturellen Abhängigkeiten sowie in "illegalen Sanktionen" äußert. Daher fordert er mehr Teilhabe der Schwellenländer an internationalen Organisationen und etwas weniger "westliche Werte" (die er aber leider nicht konkretisiert): Wenn Europa sich "mit der sich entwickelnden Welt auseinandersetzt, statt sie zu belehren, kann es endlich die Kluft zwischen den 'Habenden' und den 'Habenichtsen' überbrücken. Wenn Europa aufhört, sich um jeden Preis an einem 'Westen' und insbesondere an den USA auszurichten, wird sich der Rest der Welt nicht mehr fragen, wer zu dem 'Wir' dazugehört."

Außerdem: In der NZZ erklärt Slavoj Zizek, dass Philosophie korrumpieren muss.
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Politik

Mit Blick auf die Geschichte der Kurden ist ihr Wunsch nach einem unabhängigen Nationalstaat verständlich, meint der Erlanger Religionspolitologe Hüseyin I. Cicek in der NZZ. Im Nordirak haben die Kurden allerdings längst politisches Mitspracherecht, ein Referendum würde vor allem die Macht des KDP-Politikers Masoud Barzani ausweiten, zudem sind die Kurden untereinander gespalten, gibt Cicek zu bedenken. Und: "Die politische Destabilisierung der Region durch jihadistische Terrororganisationen, der Machtkampf unter den Staaten der Golfregion um dieselbe Region sowie die politischen Interessen Bagdads, Teherans, Ankaras und Damaskus' könnten den Traum rasch in einen Albtraum verwandeln. Vor allem weil die genannten Nationalstaaten neue Mitspieler um Macht und Ressourcen ohne weiteres nicht dulden werden. Nicht zuletzt deswegen haben die politischen Akteure der Region versucht, das Referendum als unzulässig zu stigmatisieren."

Aufsehen erregt in Frankreich ein Text "für die Migranten", den der Literaturnobelpreisträger Jean-Marie Gustave Le Clézio beim öffentlichen Sender France Inter vorgelesen hat und in dem er vor klaren Schuldzuweisungen nicht zurückschreckt: "Jene Lage, vor denen die Entrechteten flüchten, ist von den reichen Nationen geschaffen worden. Durch die gewaltsame Eroberung der Kolonien, dann, nach der Unabhängigkeit, durch die Unterstützung der Tyrannei, und indem sie Kriege ausheckten, in denen das Leben der einen nichts wert ist, während das der anderen ein kostbarer Schatz ist."
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